Desistance: eine Chance für uns alle
In der Kriminologie lag der Fokus lange Zeit darauf, Prozesse des Entstehens von Straffälligkeit zu untersuchen. Zentrale Fragen dreh(t)en sich dabei um Faktoren, die kriminelle Karrieren fördern. Wenige Forschende hingegen suchten zu verstehen, warum die allermeisten es früher oder später schaffen, aus kriminellen Karrieren auszusteigen und nicht mehr straffällig zu werden. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wuchs das Interesse an Ausstiegsprozessen. Inzwischen hat es sich zu einem lebendigen Forschungsbereich entwickelt.2
In diesem kurzen, einführenden Beitrag kann es nicht um ein Zusammenfassen des Forschungsstandes gehen - dieser lässt sich in unterschiedlichen Übersichtsarbeiten nachlesen.3 Vielmehr sollen Charakteristika der Desistance-Forschung erläutert und drei Thesen formuliert werden, weshalb die Adaption dieser internationalen Forschung an erklärte sozial- und kriminalpolitische Zielsetzungen anzuschließen vermag: insbesondere an unser Streben nach Teilhabe und Partizipation, nach Sicherheit, aber auch nach der Legitimierung staatlicher Leistungen.
These 1: Ausstiegsprozesse sind leidvoll und eine gesellschaftliche Verantwortung
Bei den Begriffen Partizipation und Teilhabe steht das Subjekt im Fokus.4 Gleiches gilt für die Desistance-Forschung, die insbesondere die Perspektive straffällig gewordener Menschen sichtbar macht5, ihnen dadurch eine Stimme nicht nur in der Wissenschaft, sondern idealerweise auch darüber hinaus verschafft. Durch diese Forschung wissen wir, dass Ausstiegsprozesse trotz ihrer positiven Konnotation zunächst sehr negative Auswirkungen haben können: Die zum Ausstieg aus der Kriminalität Entschlossenen verlassen zunehmend die Welt des Gewohnten und Vertrauten. Sie verlassen die Welt, deren Sprache sie gesprochen und in der sie Anerkennung erfahren haben. So verwundert es nicht, dass Desistance häufig mit Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit sowie Scham und Einsamkeit einhergeht, was wiederum Rückfälle begünstigen kann.6 Im Umkehrschluss gilt es, auch die als positiv empfundenen und entlastenden Momente von Straffälligkeit zu verstehen und als Gesellschaft angemessene Antwortmöglichkeiten vorzuhalten.
Die Forschung zeigt unmissverständlich auf, dass Teilhabeprozesse wesentlich sind, um eine mit Desistance verbundene Identitätsveränderung zu ermöglichen.7 Der Fachkraft alleine ist es nicht möglich, die ausstiegsbedingte soziale Leere zu füllen. Der Einbezug des Gemeinwesens und der Zivilgesellschaft eröffnen hierfür neue Entwicklungsmöglichkeiten für die Betroffenen8, aber auch für die Bürger:innen, die beispielsweise ehrenamtlich Ausstiegsprozesse begleiten. Gleichzeitig zeigen Forschungsergebnisse, dass Desistance häufig einhergeht mit dem Bedürfnis, der Gesellschaft etwas zurückzugeben und sich für andere zu engagieren.9 Hier gilt es, Zugänge nicht nur für ehrenamtliche Tätigkeiten herzustellen, sondern unter Abwägung etwaiger Sicherheitsbedenken auch für professionelle Hilfe und entsprechende Ausbildungsmöglichkeiten.10
These 2: Ein erfülltes Leben Verurteilter macht unsere Gesellschaft sicherer
Gerade für tatbetroffene Personen mag sich die These zynisch anhören. Doch liegt es auch im Interesse (potenzieller) Tatopfer, wenn Ausstiegsprozesse gefördert werden. Fakt ist, dass Inhaftierung keine - oder, wenn überhaupt, dann negative - Effekte auf erneute Straffälligkeit hat11 und dass ambulante, auf Unterstützung ausgerichtete Maßnahmen zukünftigen Schaden abwenden können.12 Konkret zeigt uns die Forschung, dass Desistance dann gelingen kann, wenn positive Beziehungen und Selbstwirksamkeit erlebt werden und erstrebenswerte Lebensperspektiven bestehen.13
Um dies methodisch umzusetzen, gibt es Ansätze, die aus der Desistance-Forschung entstanden sind. Sie konnte zeigen, dass zum Beispiel das Good Lives Model das Potenzial hat, genau diese Zielsetzungen zu erreichen.14 Gleichzeitig kann die Arbeit mit diesem ressourcenorientierten Ansatz die Arbeitsmotivation und Zufriedenheit der Fachkräfte fördern.15 In Zeiten hoher Personalfluktuation gerade im Sozialsektor sollte dies mehr denn je ein erstrebenswertes Ziel sein.
Auch wenn noch nicht viele Untersuchungen zu den Effekten desistanceorientierter Praxis vorliegen, sind die bisherigen Ergebnisse vielversprechend.16
These 3: Desistance bietet wissenschaftliche Fundierung der Straffälligenhilfe - und legitimiert so auch staatliche Ausgaben
Wie andere Bereiche auch steht die soziale Strafrechtspflege unter wachsendem Legitimationszwang.17 Nicht zuletzt wird das durch die aktuellen Mittelkürzungen auch bei Maßnahmen der Straffälligenhilfe18 deutlich. Eine - wenngleich nicht die einzige - Voraussetzung für die Anerkennung, dass eine (soziale) Berufsgruppe ein gesellschaftliches Problem lösen kann, ist eine schlüssige Darlegung der eigenen Problemlösekompetenz. Da soziale Dienste im Kontext der Strafrechtspflege eben nicht den Einstieg, sondern in aller Regel den Ausstieg aus Straffälligkeit begleiten, bietet hierfür die Desistance-Forschung das Instrumentarium, um diese Prozesse besser verstehen, in Worte zu fassen und empirisch begründet erklären zu können.
Ohne Frage stehen wir in Deutschland noch am Anfang notwendiger Forschungs- und Entwicklungsbemühungen. Deutlich ist jedoch bereits, dass die Desistance-Perspektive in der Praxis auf fruchtbaren Boden fällt und das Potenzial hat, einer pathologisierenden Perspektive auf Resozialisierung etwas entgegenzusetzen19 und diese gesellschaftliche Aufgabe mit Verfassungsrang wieder mehr als sozialen Prozess zu verstehen.
1. Engl.: desistance (from) = Ablassen (von etwas).
2. Rocque, M.: Desistance from Crime: New Advances in Theory and Research. New York: Palgrave Macmillan, 2017, S. 40 ff.
3. Bersani, B. E.; Doherty, E. E.: Desistance from Offending in the Twenty-First Century. In: Annual Review of Criminology, 1(1) 2018, p. 311-334; Rocque, M., a.a.O. und ders.: But what does it mean? Defining, measuring, and analyzing desistance from crime in criminal justice. In: National Institute of Justice (Hrsg.): Desistance from Crime: Implications for Research, Policy, and Practice, 2021, p. 1-40, https://nij.ojp.gov/desistance-from-crime; Weaver, B.: Understanding desistance: A critical review of theories of desistance. In: Psychology, Crime & Law, 25(6) 2019, p. 641-658.
4. Bartelheimer, P.; Behrisch, B. et al.: Teilhabe - Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Wansing, G.; Schäfers, M.; Köbsell, S. (Hrsg.): Teilhabeforschung - Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Heidelberg: Springer, 2022, S. 28.
5. Bersani, B. E.; Doherty, E. E., a.a.O., S. 318.
6. Honeywell, D.: The ambiguities of desistance: Ex-offenders, higher education and the desistance journey. Emerald, 2021; Fredriksson, T.; Gålnander, R.: Fearful futures and haunting histories in women’s desistance from crime: A longitudinal study of desistance as an uncanny process. In: Criminology, 58(4) 2020, p. 599-618; Nugent, B.; Schinkel, M.: The pains of desistance. In: Criminology & Criminal Justice, 16(5) 2016, S. 568-584; Patton, D.; Farrall, S.: Desistance: A Utopian Perspective. The Howard Journal of Crime and Justice, 60(2) 2021, p. 209-231.
7. McNeill, F.; Schinkel, M.: Tertiary or relational desistance: Contested belonging. In: International Journal of Criminal Justice, 6(1) 2024, p 47-74.
8 . Matt, E.; Wirth, W.: Eingliederungschancen: Evidenzgrundlagen zur Gestaltung integrationsorientierter Hilfen im Übergang aus der Haft in die Freiheit. In: Wirth, W. (Hrsg.): Steuerung und Erfolgskontrolle im Strafvollzug. Springer, 2022, S. 177-201, S. 179 ff.
9. Matt, E.: Integrationsarbeit und gesellschaftliche Anerkennung. Peer Mentoring und das Wounded Healer Phänomen im Straffälligenhilfebereich. In: Bewährungshilfe, 64(4) 2017, S. 353-362.
10. Für ein gelungenes Beispiel der Ausbildung und Anstellung von straffälligen Personen s. Jaschek, S.; Knop, J. et al.: Ehemalige Gefangene als Mentor*innen für jugendliche Straftäter*innen: Ein Paradigmenwechsel in der Straffälligenhilfe. In: Vorgänge, 234(2) 2021, S. 61-70.
11. Petrich, D. M.; Pratt, T. C. et al.: Custodial Sanctions and Reoffending: A Meta-Analytic Review.In: Crime and Justice, 50(1) 2021, S. 353-424.
12. Gormley, J;, Hamilton, M.; Belton, I.: The Effectiveness of Sentencing Options on Reoffending, 2022 (Kurzlink: https://tinyurl.com/nc24-18-GhFN12); Loeffler, C. E.; Nagin, D. S.: The Impact of Incarceration on Recidivism. In: Annual Review of Criminology, 5(1) 2022, p. 133-152.
13. Bersani, B. E.; Doherty, E. E., a. a. O., S. 11.
14. Mallion, J. S.; Wood, J. L.; Mallion, A.: Systematic review of ,Good Lives‘ assumptions and interventions. In: Aggression and Violent Behavior, 2020, p. 55, 101510. https://doi.org/10.1016/j.avb.2020.101510 , S. 8 f.
15. Willis, G. M.; Ward, T.: Evidence for the Good Lives Model in supporting rehabilitation and desistance from offending. In: Craig, L. A.; Dixon, L.; Gannon, T. A. (Hrsg.): What works in correctional rehabilitation. An evidence-based approach to theory, assessment and treatment. Wiley, 2024, p. 299-310, p. 303.
16. Lutz, M.; Zani, D. et al.: A review and comparative analysis of the risk-needs-responsivity, good lives, and recovery models in forensic psychiatric treatment. In: Frontiers in Psychiatry 13/2022, https://doi.org/10.3389/fpsyt.2022.988905, S. 5 f.; Mallion, J. S. et al., 2020, S. 9 f.
17. Für den Justizvollzug s. Suhling, S.: Wirkungsforschung und wirkungsorientierte Steuerung im Strafvollzug. In: Maelicke, B.; Suhling, S. (Hrsg.): Das Gefängnis auf dem Prüfstand. Zustand und Zukunft des Strafvollzugs. Springer, 2018, S. 23-50.
18. Vgl. per Kurzlink: https://tinyurl.com/nc24-18-GhFN18
19. S. hierzu Graebsch, C.: Strafvollzug und Sicherungsverwahrung. Von der Individualisierung zur Resozialisierung - und wieder zurück. In: INDES - Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 13 (4) 2023, S. 7-16.