Vom Freund zum Feind: Caritas-Präsident Kreutz und die Nationalsozialisten
Ab 1933 verboten die Nationalsozialisten Parteien und Gewerkschaften. Viele Verbände und Vereine wurden gleichgeschaltet. Auch die Caritas als Wohlfahrsverband geriet unter Druck: Die caritative Arbeit war nur noch unter Einflussnahme der Nationalsozialisten möglich.
Redaktion: Benedict Kreutz hat den Aufstieg der Nationalsozialisten und die Machtübernahme als Caritas-Präsident miterlebt. Frau Zeil, Sie haben über zwei Jahre zu Kreutz geforscht. Sie haben Akten und private Briefe gelesen, deren Veröffentlichung er niemals plante. Was für einen Caritas-Präsidenten haben Sie kennengelernt?
Kreutz war Patriot und kein Pazifist
Petra Zeil: Generell fand ich ihn sehr sympathisch. Er hat schon 1921 moderne Werte vertreten: Zum Beispiel wollte er, dass mindestens eine Frau Teil seines Vorstands wird. Nicht verstehen konnte ich seine Einstellung zum Thema Krieg, den er stark romantisierte. Er war ein Patriot, dem viel daran lag, dass Deutschland international ein gutes Ansehen hatte. Selbst nach seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg kann man ihn nicht als Pazifisten bezeichnen.
Redaktion: Kreutz ist in der Kaiserzeit aufgewachsen, diente im Ersten Weltkrieg freiwillig als Garnisonspfarrer und war in der NS-Zeit Caritas-Präsident. Wie war seine Einstellung zur Ideologie des Nationalsozialismus?
Kreutz 1939: "Wir sind keine Gegner des Nationalsozialismus, wir haben das Gebot der Feindesliebe."
Zeil: Wir wissen, dass Kreutz die Ideologie des Nationalsozialismus nie unterstützte und ein scharfer Gegner war. Das hat er auch öffentlich gemacht. Immer wieder rief er in seinen Predigten, Mitarbeitenden-Briefen und Vorträgen die Menschen in den Einrichtungen und im Verband dazu auf, Position zu beziehen. So schrieb er schon 1933, dass Menschen "im augenblicklichen Kampfe, ob sie Brot oder ihre Überzeugung opfern sollen, oft irrig entscheiden". Somit wussten mindestens die Caritas-Mitarbeitenden von der Position ihres Präsidenten.
Zeil: In den Akten habe ich auch ein Manuskript einer Rede gefunden, die er 1939 in Graz hielt. Da sagte er: "Wir sind keine Gegner des Nationalsozialismus, wir haben das Gebot der Feindesliebe." Ein recht sarkastischer Ausdruck, der die Nationalsozialisten eindeutig als Feinde betitelt.
Für Benedict Kreutz war jedes Leben gleich schützenswert. "Aus der kirchlichen Caritasarbeit der deutschen Katholiken", Manuskript, nach 1937:
"Da C[aritas] mehr ist als Wohlfahrtspflege, weil sie hinblickt auf ihr letztes Ziel der Hilfe zur übernatürlichen Bestimmung des Menschen, muss sie auch sorgen für den Minderwertigen, den Todgeweihten, den Aussätzigen, Hoffnungslosen, kurz für das ‚lebensunwerte Leben‘."
Redaktion: Kannten die Nationalsozialisten die Position des Caritas-Präsidenten?
Zeil: Diese kannten sie auf jeden Fall. Insgesamt durchsuchte die Gestapo, also die NS-Staatspolizei, rund 42-mal die Zentrale der Deutschen Caritas in Freiburg. Die Gestapo merkte in einem Bericht an, dass Kreutz scharf und prägnant gegen den Nationalsozialismus eingestellt war.
Erst Hoffnungen in die Nationalsozialisten
Redaktion: War Kreutz von Anfang an Gegner des NS-Regimes?
Zeil: Er hat eine Entwicklung mitgemacht. Er hat sich schriftlich schon früh mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt und am Anfang gedacht, dass es Anknüpfungspunkte gäbe. Kreutz war Patriot und litt darunter, dass Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg als Kriegsanzettler gebrandmarkt war. Von den Repressionszahlungen des Versailler Vertrags fühlte er sich, laut seinen Briefen, gedemütigt. Er wollte, dass Deutschland wieder auf die Beine kommt. Da sah er in Hitler und Goebbels zwei, die das erreichen können. Er glaubte Hitler und Goebbels‘ Worten 1933, dass sich an den Rechten der Kirche unter der nationalsozialistischen Herrschaft nichts ändern würde - was das Reichskonkordat erst einmal bestätigte - und dass die Caritas unter den Nationalsozialisten besser arbeiten könne und aufgewertet würde.
Nach dem Krieg schreibt Kreutz in einem Brief an den links-sozialistischen Widerstandskämpfer Artur Schweizer ("Der Rote Stoßtrupp") in Berlin, 1946:
"Sie haben recht gehabt Herr Schweizer und auch Ihre liebe Frau, dass Sie von Anfang an diesen ‚Nazi-Leuten‘ eine solche schlechte Diagnose gestellt haben. Sie waren Verbrecher und Verführer des deutschen Volkes voll dämonischen Geistes und haben unser Volk in Nacht und Not und Elend geführt."
Redaktion: Wo sah er Gemeinsamkeiten zwischen Caritas und NS-Ideologie?
Zeil: Ganz am Anfang hoffte er, dass Solidarität und das Gemeinwohl unter der Leitung der Nationalsozialisten einen hohen Stellenwert bekommen würden. Jedoch begriff er später, dass es in der NS-Ideologie nicht um Solidarität gegenüber allen Menschen geht und zum Beispiel Menschen mit Behinderung und unheilbaren Krankheiten ausgeschlossen wurden - anders als im Christentum, wo jeder Einzelne als Geschöpf und Ebenbild Gottes kostbar ist.
Immer wieder kritisierte Kreutz, wie die Nationalsozialisten die Wohlfahrtspflege prägen wollten. 1939 schrieb er:
"Die heutige [nationalsozialistische] Wohlfahrtspflege hat sich einen neuen Standort ausgesucht […]. Die ganze Wohlfahrtspflege wird in eine organische enge Verbindung gebracht mit der Eugenik und ihren Gesetzen. Sie will die Erhaltung der rassischen Substanz unseres Volkes."
Kreutz wollte keine Kompromisse
Redaktion: Nur der Deutsche Caritasverband und die Innere Mission (Diakonie) blieben zwischen 1933 und 1945 eigenständige Verbände. Andere Wohlfahrtsverbände, wie die AWO, das Deutsche Rote Kreuz oder die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden wurden während des Nationalsozialismus' entweder aufgelöst oder eingegliedert. Frau Zeil, welchen Anteil hat Kreutz daran, dass der Deutsche Caritasverband (DCV) in Freiburg während des Nationalsozialismus eigenständig blieb?
Zeil: Ohne Kreutz hätte der DCV den Nationalsozialismus nicht überlebt. Zwar musste die Caritas zwischen 1933 und 1945 viele Aufgaben an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) abgeben. Aber sie blieb ein eigenständiger katholischer Verband. Kreutz wollte mit dem NS-Regime eigentlich keine Kompromisse eingehen. Denn er wusste, dass den Menschen mit nicht heilbaren Krankheiten und Behinderungen Schlimmes droht, wenn die Nationalsozialisten Caritas-Einrichtungen übernehmen.
Redaktion: Haben Sie ein Beispiel dafür?
Zeil: In Kreutz‘ Nachlass wird deutlich, dass er in ständigem Austausch mit dem Leiter der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), Erich Hilgenfeldt, stand. Insgesamt nahm sich Kreutz bei dem SS-Mann viel heraus, forderte viel ein.
Kreutz nahm sich beim NS-Beamten Hilgenfeldt viel heraus
Zeil: Zum Beispiel warf Kreutz dem NS-Beamten Wortbrüche vor - was wirklich Mut brauchte. Ich konnte nicht herausfinden, woher die beiden sich kannten, aber Hilgenfeldt schien Kreutz verehrt zu haben.
1934 wurde allmählich klar, dass die NSV die ökumenischen Bahnhofsmissionen übernehmen will. Dagegen protestierte Kreutz in einer Aktennotiz:
"Wenn eine Reichsregelung kommen sollte, dann müsste hier auf alle Fälle den kirchlichen Belangen wie auch dem geschichtlichen Ablauf Rechnung getragen werden, um hier nicht organisches Leben zu töten."
Redaktion: Nicht immer fanden NSV und Kreutz einen Kompromiss. So musste die Caritas die Bahnhofsmissionen an den NS-Staat abgeben. Was noch?
Zeil: Wir wissen nicht, wie viele Caritas-Aufgabenfelder, -Einrichtungen und -Fachverbände insgesamt abgegeben werden mussten. Hier ist noch viel Forschung nötig. Wir wissen nur, dass es viele waren und der DCV immer versucht hat, sich dagegen zu wehren.
Die Nationalsozialisten zwangen Mitarbeiter_innen der Caritas für NS-Einrichtungen zu arbeiten
Zeil: Laut einem Vermerk von Kreutz hatte die Caritas bis 1941 die Bahnhofsmissionen und Stellenvermittlung, fast die gesamte Jugendwohlfahrt, das Adoptivwesen und die Kindergärten verloren. Der Caritas wurden Grundstücke enteignet und Personal entzogen. Auch wurden der St.-Raphaels-Verein (Heute: Raphaelswerk, zuständig für Migrationsberatung) und das Institut für Caritaswissenschaft an der Uni Freiburg aufgelöst sowie alle Caritas-Schriften eingestellt.
Näheres zu Petra Zeil:
Petra Zeil stützt sich im Interview auf Forschungsergebnisse aus ihrer 2016 veröffentlichten Publikation: Jeder Mensch ist uns der Liebe wert. Benedict Kreutz als zweiter Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Würzburg, 2016. Die dort unter anderem untersuchten Reden, Schriften und Korrespondenzen stammen aus dem Archiv des Deutschen Caritasverbandes und können für Forschungszwecken eingesehen werden.
Die Caritas hat ihren Ursprung in der katholischen Sozialbewegung. Warum die aktuelle Vertrauenskrise in die katholische Kirche auch das Image der Caritas schädigt, beschreibt der ehemaligen Hildesheimer-Caritasdirektor Hans-Jürgen Marcus im "neue caritas-Jahrbuch 2022".