Arbeiten für die Caritas in der DDR: "Ich wusste, worauf ich mich einlasse."
Hört jemand mit?
Klara Ullrich wollte nicht direkt alles erzählen. Persönlich würde sie es mir ja sagen, aber nicht am Telefon. Ob sie Angst hat, dass jemand mithört? Eine Woche später klingelt es: Die fast 86-jährige Berlinerin war bereit über ihre interne Aufgabe zu sprechen. Sie hatte sich vorher bei ihrem alten Vorgesetzten, dem Leiter der Zentralstelle Berlin (ZstB) für die Deutsches Caritas in der DDR, rückversichert. Denn zu Klara Ullrichs Aufgaben als Referentin gehörten nicht nur die Organisation von Fachkonferenzen und Fortbildungen für Fürsorger_innen (ostdeutsch für "Sozialpädagogen"), sondern auch die Beratung von DDR-Bürgern, die nach Westdeutschland ausreisen wollten.
Die Referentin für Sozialarbeit, Klara Ullrich, und der Direktor der Zentralstelle Berlin, Hellmut Puschmann, boten die Beratungen zusammen an. Schon seinen Vorgängern, war diese Aufgabe von der Ordinarienkonferenz (der Bischöfe in der DDR) übertragen worden.
Ein Ausreiseantrag - der bürokratische Weg in den Westen
Aus westdeutscher Perspektive wird die Ausreise aus der DDR oft mit Bildern von spektakulären Fluchten per Boot oder Heißluftballon in Verbindung gebracht. Jedoch gab es auch einen bürokratischen Weg, die DDR zu verlassen. Ab Mitte der 1970er-Jahre emigrierten immer mehr Ausreisewillige dank bewilligtem "Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR". Das waren laut Behördenangaben zwischen 1961 und 1988 rund 383.000 Menschen.
Caritas unterstützte "Staatsfeinde"
Für die DDR-Behörden handelten alle Antragssteller_innen rechtswidrig. Die Folgen waren Schikanen. Viele verloren nach ihrem Antrag sofort ihren Arbeitsplatz, wurden als "Staatsfeinde" bezeichnet, von der Staatssicherheit überwacht oder sogar zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt.
Wie und womit konnte die Caritas diesen Bürgern in ihrer Not helfen? "Wir durften schreiben, dass der Antrag von uns unterstützt wird. Mehr war nicht möglich." Klara Ullrich sah ihre Arbeit als "eine Art Wartehilfe" an, die den Antragstellern das Warten erleichtern sollte - was Jahre dauern konnte. Die Ratsuchenden kamen aus allen Schichten, unter ihnen auch viele junge Familien. Es kamen aber auch viele Ärzt_innen, die unter den Bedingungen nicht mehr in der DDR arbeiten wollten oder konnten. Es fehlte selbst an medizinischem Verbrauchsmaterial wie Pflastern.
Als Referentin war Ullrich Ansprechpartnerin und Zuhörerin: "Ich habe den Menschen zugehört und ihnen dadurch oft eine Hilfe geleistet - ich könnte Romane schreiben." Während der Gespräche schrieb sie nicht mit, machte sich keine Notizen, auch zur Sicherheit. Nach der jeweiligen Beratung verfasste sie einen Bericht: "Ich habe nie Wort für Wort mitgeschrieben, aber ich habe die Geschichten der Menschen so wiedergegeben, wie sie mir diese erzählt haben. Ich musste nichts dazuerfinden." Um die Erwartungen der Antragsteller_innen gering zu halten, sagte Ullrich allen: "Eins weiß ich, die Entscheidung trifft Ihr zuständiges Parteiorgan. Die Entscheidung wird nicht hier in Berlin gefällt."
Zusammenarbeit mit Rechtsanwalt Wolfgang Vogel
Die von ihr gefertigten Berichte gingen, unterzeichnet vom Leiter der Zentralstelle, an den Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der an der Ausreise von Tausenden DDR-Bürgern mitwirkte. Bekannt wurde der DDR-Anwalt, weil er den erste Agentenaustausch im Kalten Krieg organisierte. Vogel arbeitete seit den 1960er-Jahren mit der Caritas zusammen. 2001 schrieb er: "Die Caritas hat sich nicht nur um die Fälle selbst bemüht. (…) Sie hat Menschen, die drangsaliert wurden und eine lange Wartezeit bis zur Ausreise vor sich hatten, geholfen." (1)
In der DDR übernahm die "Zentralstelle Berlin" ab den 1970er-Jahren die Koordinierung der gesamten Arbeit der Caritas in der DDR. Zudem vertrat sie die katholische Kirche und Caritas gegenüber den Regierungsstellen. Ihre Schwerpunkte waren das Gesundheits- und Sozialwesen, wozu die Ausbildung von Erzieher_innen, die Beratung von kinderreichen Familien oder die Versorgung von Menschen mit Behinderung zählte.
Im Hinterhof blieben die Ausreisewilligen ungesehen
Das Ostberliner Büro befand sich bis zum Mauerfall auf der Großen Hamburger Straße 18, mit Platz für rund 25 Mitarbeitende. Das Gebäude steht noch heute und ist, untypisch für das heutige Berlin, nur vier Stockwerke hoch. Dort im Büro im Erdgeschoss arbeitete auch Klara Ullrich - bis zur Auflösung der Dienstelle 1992. Wenn sie vom blumendekorierten Hinterhof sprach, "hab‘ ich immer gesagt: im zweiten Hof."
"Nach manchen Gesprächen ging es mir verdammt schlecht"
Wer sich zur Beratung angemeldet hatte, wurde in Ullrichs Büro im Hinterhof angehört. "Die Gespräche haben Kraft und Zeit gekostet. Manchmal ging es mir verdammt schlecht. Weil die Leute in ungeheuren Nöten waren. Aber ich konnte für sie nur hoffen, dass ihr Ausreiseantrag klappt." Ullrich wusste von ihrer Vorgängerin sehr genau, was sie erwartete, wenn sie die Stelle bei der Caritas-Zentrale annähme: "Ich wusste, worauf ich mich einlasse, aber ich wollte diese Tätigkeit ausüben."
Besonders in den Jahren vor dem Mauerfall fanden immer mehr Menschen ihren Weg zu Klara Ullrich: "Ich hab‘ in meinem Kalender eine Strichliste geführt: Zwischen 1987 und 1989 kamen jährlich über 300 Menschen." Im Nachhinein wissen wir, dass Ausreiseanträge in den 1980ern Teil des Auslösers des öffentlichen Protestes gegen das DDR-Regime wurden. Allein 1989 wurden 50.000 Ausreisegenehmigungen erstritten, was wesentlich mit zum Ende der DDR führte.
Man musste immer mit der Stasi rechnen
Heute lebt Klara Ullrich in West-Berlin. Die Beratungen für Ausreisewillige machten nur einen Teil ihres langen Arbeitslebens aus. Schon in den 1950er hatte sie als Fürsorgerin im Caritasverband in Magdeburg gearbeitet und in den 1970er Jahren das "Seminar für den kirchlich-caritativen Dienst in Magdeburg" geleitet.
Insgesamt beriet Ullrich über acht Jahre Ausreisewillige. Erlaubt war dieser inoffizielle Teil ihrer Arbeit nur von kirchlicher Seite. Ob sie Angst hatte, dass es auffliegt? Die Frage weist sie von sich. Zurückblickend sagt Klara Ullrich: "Ich bin zufrieden. Es war gut, diesen Dienst zu erfüllen."
Anmerkungen der Autorin:
Das Portrait gibt die Sichtweise von Klara Ullrich wieder und wie sie die DDR erlebt hat. Auch skizziert es nur einen Ausschnitt der Geschichte der Caritas in der DDR.
(1) Vogel, Wolfgang: Erinnerungen an meine Kontakte zum DCV. In: Kösters, Christoph (Hrsg.): Caritas in der SBZ/DDR 1945-1989. Paderborn, 2001, S. 141.
Die Caritas hat ihren Ursprung in der katholischen Sozialbewegung. Warum die aktuelle Vertrauenskrise in die katholische Kirche auch das Image der Caritas schädigt, beschreibt der ehemaligen Hildesheimer-Caritasdirektor Hans-Jürgen Marcus im "neue caritas-Jahrbuch 2022".