Intensivpädagogik fängt die Mädchen auf
"Sag’ der Nicole, wenn sie noch mal mit dem Kevin spricht, dann hauen wir ihr auf die Sch ..." Jennifer war die Chefin einer Mädchengang und hatte das Sagen. Wer nicht spurt, spürt die Fäuste. Drohungen sprach sie täglich aus. "Typisch weiblich" schien bei ihr nur noch wenig zu sein.
Immer mehr Mädchen verlassen das oft noch erwartete Rollenbild. Im Kampf um Anerkennung und Erfolg agieren sie massiv dissozial und gewalttätig - auf teilweise viel subtilere und zielgerichtetere Art als Jungen. Sie zeigen zunehmend weniger Scheu vor körperlicher Konfrontation und bilden enge soziale Netzwerke, so dass Angriffe auf dieser Ebene durch Mobbing, Einschüchterung oder Ausgrenzung besonders wirkungsvoll sind. Aber auch bei jüngeren Mädchen lässt sich immer häufiger eine fehlende Impulskontrolle beobachten, die sich in körperlichen Attacken auch gegen die pädagogischen Fachkräfte offenbaren. Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Mädchen mit diversen Formen von autoaggressiven Verhaltensweisen, die vorrangig passive und nach innen gerichtete Lösungsstrategien für ihre Probleme suchen und die Mädchen, die aufgrund von sexuellen und körperlichen Gewalterfahrungen zu extrem auffälligem Verhalten tendieren.
Jeder pädagogischen Fachkraft in der Jugendhilfe sind diese komplexen Muster bekannt. Was trägt nun aber dazu bei, dass manche Mädchen in einer Intensivgruppe untergebracht werden und für andere Mädchen die geschlossene Unterbringung (GU) genutzt wird? Und was heißt Kick-off-Gruppe in diesem Zusammenhang?
Auch im Jugendhilfezentrum Raphaelshaus in Dormagen stoßen die pädagogischen Fachkräfte mit Mädchen in der klassischen Intensivgruppe an Grenzen - und zwar immer dann, wenn sie es mit den hochaggressiven und -dissozialen Mädchen zu tun haben, die ihr Gewaltpotenzial einsetzen und sich auch dem Gruppenalltag entziehen.
Es folgen in der Regel diverse Wohngruppenwechsel, oft mit Zwischenaufenthalten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die nicht selten dazu führen, dass sich die Mädchen in ihrem negativen Verhaltensmuster bestätigt fühlen.
Um eine derart instabile Lebenssituation für diese Mädchen zu verhindern, wurde eine Kick-off-Gruppe für Mädchen konzipiert.1 Ausdrücklich haben sich die Beteiligten für eine "offene" Unterbringung entschieden und den Fokus nicht auf Geschlossenheit, sondern neben einem ausdifferenzierten Konzept, auf eine hohe pädagogische Präsenz gelegt. Für sieben Mädchen sind sieben weibliche pädagogische Fachkräfte plus Klassenlehrerin zuständig. Das hat den Vorteil, dass Mädchen in Krisenphasen von ein bis zwei Pädagoginnen intensiv begleitet werden können, während mindestens eine weitere Fachkraft sich um die anderen Mädchen kümmern kann. Neben einem strukturierten Gruppenalltag mit viel Kontinuität ergänzen folgende Qualitätsmerkmale das pädagogische Konzept:
- "Leben-Schule-Freizeit" aus einer "pädagogischen Hand" mit intensiver Gruppenorientierung und Gruppenkleidung;
- integrierte Beschulung mit individueller schulischer Förderung;
- tägliche Reflexionen mit Stufen- und Verstärkerplan;
- Zirkuspädagogik mit öffentlichen Auftritten;
- tiergestützte Pädagogik mit Reiten/Voltigieren und Kamel- und Lamatrekking, 60 Tage im Jahr Outdoor (Rucksack-, Fahrradtrekking, Bouldern …);
- mädchenspezifische Projekte wie Sexualpädagogik, Ernährungsberatung, Schminkkurse, Elternpraktikum;
- individuell abgestimmte Familienarbeit;
- individuelle Abschlussphase zur Überleitung in das Familiensystem oder in andere Hilfeformen.
Das Ziel ist, Mädchen mit hoch problematischem und dissozialem Verhalten einen verbindlichen, auf zwei Jahre befristeten Lebensort mit positiven Entwicklungschancen zu geben.
Zur wissenschaftlichen Untersuchung begleitete das Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) Mainz in den ersten vier Jahren die pädagogische Arbeit der Helen-Keller2-Gruppe. Dabei wurden die Ergebnisse unter anderem mit denen zweier Kontrollgruppen aus anderen Hilfeformen (§ 34 SGB VIII und geschlossene Unterbringung) verglichen.
Die Klientinnen: viele Probleme, wenig Ressourcen
Die Mädchen der Helen-Keller-Gruppe sind zu Hilfebeginn im Schnitt knapp 13 Jahre alt. Häufigster Aufnahmeanlass sind dissoziale Störungen der Mädchen (zum Beispiel Aggressivität, Delinquenz - 95 Prozent) sowie Erziehungsinkompetenz beziehungsweise inkonsequentes Erziehungsverhalten der Eltern (55 Prozent). Die Hälfte der Mädchen hatte zuvor bereits einen Aufenthalt in einer Psychiatrie hinter sich, rund zwei Drittel waren stationär in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht. Bei Aufnahme in die Helen-Keller-Gruppe liegen bei den Mädchen im Schnitt rund acht verschiedene Problemlagen vor. Am häufigsten zeigen sich dabei externalisierende Schwierigkeiten, wie zum Beispiel dissoziale und aggressive Verhaltensweisen sowie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizite in Kombination mit hyperaktivem Verhalten (s. Abb. 1, links). Parallel dazu sind aber bei mehr als 60 Prozent aller untersuchten Mädchen auch eher internalisierende Symptome erkennbar, wie zum
Beispiel soziale Unsicherheit, Selbstverletzungen und Auffälligkeiten im Essverhalten. Die Mädchen haben also zu Hilfebeginn zumeist eine sehr komplexe Problematik mit zahlreichen, zum Teil sehr unterschiedlichen Symptomen. Dies stellt besondere Anforderungen an die Arbeit der Gruppenpädagoginnen.
Neben dieser hohen Problembelastung weisen die Mädchen der Helen-Keller-Gruppe zudem eine vergleichsweise gering ausgeprägte Ressourcenlage auf. In allen untersuchten Ressourcenbereichen liegen die ermittelten Werte zum Teil weit unterhalb des altersgemäß "normalen" Entwicklungsstandes.
Mit rund 22 Monaten sind die Hilfen in der Helen-Keller-Gruppe durchschnittlich nur knapp kürzer als die konzeptionell vom Raphaelshaus festgelegte maximale Regelzeit von zwei Jahren. Dies erklärt sich unter anderem durch die im Konzept verankerte Falltreue in der Einrichtung, das heißt, die Hilfe wird auch in schweren Krisen von den Pädagoginnen nicht vorzeitig beendet. Die somit entstehende Möglichkeit zu einer langfristigen pädagogischen beziehungsweise therapeutischen Arbeit mit den Mädchen trägt wesentlich zum Erfolg bei.3 Die geringe Abbruchquote ist aber auch ein Zeichen für eine gelingende Kooperation zwischen Mädchen und Gruppenmitarbeiterinnen, die wiederum generell ein wichtiger Einflussfaktor für das Gelingen von Jugendhilfe ist.4
Bei der Analyse der Effektivität zeigen sich für die Helen-Keller-Gruppe sehr positive Gesamtergebnisse, die sich aus einer Vielzahl günstiger Entwicklungen in verschiedenen Untersuchungsbereichen zusammensetzen. So sind zum Beispiel bei den Schutzfaktoren der Mädchen in der Helen-Keller-Gruppe (Selbstkonzept, Autonomie, Bewältigungsstrategien) über den gesamten Hilfeverlauf hinweg in allen Teilbereichen klare Ressourcenzuwächse zu verzeichnen (s. Abb. 2, oben). Diese Zugewinne liegen zum Teil deutlich über jenen in den untersuchten Vergleichsgruppen.
Die Mädchen profitieren von der Gruppe enorm
Die Zahl der Problemlagen konnte von Beginn bis Abschluss der untersuchten
Hilfen im Durchschnitt wesentlich stärker reduziert werden als in den beiden Kontrollgruppen. Auch der Schweregrad der Gesamtbelastung nahm bei den Mädchen in der Helen-Keller-Gruppe über den gesamten Hilfeverlauf hinweg deutlich stärker ab.
Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation lassen sich in folgenden Kernaussagen zusammenfassen:
- Die Mädchen haben bei Aufnahme in die Helen-Keller-Gruppe in der Regel bereits einschlägige Vorerfahrungen mit mehreren verschiedenen Jugendhilfemaßnahmen gesammelt, ohne dass dadurch die bestehende Problematik ausreichend gelöst werden konnte. Die Helen-Keller-Gruppe bildet insofern ein spezifisches "Auffangnetz" einer bis dahin gescheiterten Kinder- und Jugendhilfe.
- Der Aufbau einer gemeinsamen Grundlage für die Zusammenarbeit von Mädchen und Pädagoginnen in der Gruppe verläuft weitestgehend erfolgreich.
- Sowohl im Bereich von Ressourcen der Mädchen als auch bei ihren Defiziten ergeben sich positive Entwicklungen.
Auf der Grundlage der bisher vorliegenden Ergebnisse kann die Helen-Keller-Gruppe als geeignetes pädagogisches Modell für die Kinder- und Jugendhilfe gelten.
Anmerkungen
1. Die Besonderheit der Kick-off-Gruppen liegt im Zusammenwirken von Leben, Schule und Freizeit. Unter diesem Markenzeichen fassen wir unverwechselbare Qualitätsmerkmale wie Eins-zu-eins-Betreuung, integrierte Schule oder 60 bis 80 Tage Outdoor zusammen. Name, Logo und die pädagogischen Eckpfeiler der "Kick-off-Gruppen" werden beim Bundesamt für Patente und Markenrechte als Wortmarke geführt.
2. Helen Keller war eine amerikanische Schriftstellerin, die im Alter von zwei Jahren sowohl Gehör als auch Augenlicht verlor. Trotz der Handicaps besuchte sie die Universität, lernte mehrere Fremdsprachen und setzte sich für Menschenrechte ein. Ihre beeindruckende Persönlichkeit ist ein Vorbild.
3. IKJ: EVAS Highlightsbericht 2/2002. Mainz: Eigenverlag, 2003 sowie Schmidt, M.H. et al.: Effekte erzieherischer Hilfen und ihre Hintergründe. Stuttgart: Kohlhammer, 2003 (Schriftenreihe des BMFSFJ Band 219).
4. Vgl. Schmidt, M. H. et al., a.a.O. sowie Klein, J.; Erlacher, M.; Macsenaere, M.: Die Kinderdorf-Effekte-Studie. Mainz: Institut für Kinder- und Jugendhilfe, 2003.
Literatur
IKJ: EVAS Gesamtbericht 2008. Mainz: Eigenverlag, 2009.
Macsenaere, M.; Knab, E.: Evaluationsstudie erzieherischer Hilfen (EVAS) - Eine Einführung. Freiburg: Lambertus, 2004.
Macsenaere, M.; Esser, K.; Knab, E.; Hiller, S. (Hrsg.): Handbuch der Hilfen zur Erziehung. Freiburg: Lambertus, 2014.
Compliance ist keine Kür, sondern Pflicht
Alter Inhalt in neuer Verpackung?
Zwischen Sparzwängen und Gestaltungschancen
Ambulante Hospizdienste bekommen Rückenwind
Energie sparen durch geförderte Gebäudesanierung
Nicht noch mehr Kontrollen
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}