Verbandliche Caritas als Kirche
Die oben formulierte These hört sich zunächst nicht gerade neu oder besonders originell an. Sie hat es allerdings in sich, wenn man sich klar macht, was mit den altmodisch klingenden griechischen Worten Koinonia, Liturgia, Martyria und Diakonia tatsächlich gemeint ist. Diese Begriffe werden in der katholischen Amtskirche ganz selbstverständlich benutzt, aber von den Menschen heute in Caritas und Diakonie (Führungskräfte, Mitarbeiter(innen), Hilfesuchende und deren Bezugspersonen) kaum mehr verstanden oder missinterpretiert. Was sich hinter dem Wort "Koinonia" verbirgt, lässt sich auf folgende hochaktuelle Fragen komprimieren: Ist in der Caritas sowohl auf der Mitarbeiterebene als auch im Umgang von Führungskräften mit Mitarbeitenden tatsächlich eine Kultur des solidarischen Mit- und Füreinanders, in der auch Fehler eingestanden werden dürfen, oder doch eher eine Kultur des Gegeneinanders spürbar? Ist der Arbeitsalltag geprägt von gegenseitiger Achtsamkeit, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit oder von gegenseitiger Ausbeutung, Argwohn und Mobbing? Herrscht das vielleicht sogar unausgesprochene Ideal destruktiver Selbstaufopferung vor, oder gilt das Gebot Jesu Christi (Matthäus 22, 34-38), dass Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, weshalb konstruktive Selbstliebe in der Caritas durchaus erwünscht ist? Wieso wird dann aber das von Jesus selbst als höchstes Gebot ausgewiesene Dreifachgebot in kirchenamtlichen Dokumenten wie der päpstlichen Enzyklika "Deus caritas est" oder dem Impulspapier "Rolle und Beitrag der Caritas in pastoralen Räumen" (siehe neue caritas, Heft 3/2009) zumeist auf das Zweifachgebot der Gottes- und Nächstenliebe reduziert?
Froh-Botschaft bezeugen
Was mit "Martyria" gemeint ist, lassen folgende Fragestellungen erahnen: Spürt man in der Caritas zumindest etwas vom Evangelium, das heißt von der typisch christlichen Froh-Botschaft? Wird ernst genommen, dass Jesus tatsächlich der Christus, das heisst der Erlöser aller Menschen ist, weshalb wirklich alle Menschen ohne Vor- und Gegenleistung von Gott geliebt werden und darauf vertrauen dürfen, in eine universale Heilsgeschichte eingeschlossen zu sein? Wird diese typisch christliche Sichtweise von Gott und Mensch nur in Hochglanz-Leitpapieren behauptet und abgeheftet, oder inspiriert sie tatsächlich die im Gesamtverband auf allen Organisationsebenen geltenden Werte und das alltägliche Handeln? Sind also Menschen jeglicher Hautfarbe und religiöser Zugehörigkeit, die auf der Basis christlicher Werte zusammenarbeiten wollen, gleich willkommen und werden sie auch gleich behandelt? Ist das Arbeitsklima geprägt von einer depressiv eingefärbten Klagekultur, die dem um sich greifenden Burnout-Syndrom Vorschub leistet, oder gelingt es, trotz aller gegenwärtig unlösbaren Probleme und Überforderungen, trotz aller alltäglichen Not ein Hoffnungs- und Erlösungsmilieu (selbst über den Tod hinaus) aufrechtzuerhalten, weshalb Humor, Lächeln, Lachen und ausstrahlende Lebensfreude geradezu als Qualitätsmerkmal im gesamten Caritasverband gewürdigt und gefördert werden? Wird bewusst darauf geachtet, welche christlichen Symbole, Kreuze und Bilder Caritas-Räume schmücken und welche Botschaft nach innen und außen damit zum Ausdruck gebracht werden soll?
Heilsame Gottesnähe spürbar machen
Wofür steht "Liturgia"? Viele Menschen assoziieren damit automatisch "Gottesdienst", weshalb gerade diese Dimension von Kirchesein bei nicht wenigen Mitarbeiter(inne)n und Führungskräften der Caritas ein Gefühl von Überforderung verursacht oder gar den Verdacht weckt, für amtskirchliche Zwecke instrumentalisiert zu werden. Hinter "Liturgia" verbirgt sich aber viel mehr als nur Messfeiern zu organisieren, wie mit Hilfe folgender Fragen veranschaulicht werden soll: Eröffnen wir in der Caritas Erfahrungs-, Spiel- und Zwischenräume der heilsamen Nähe Gottes? Trauen wir Gott zu, dass er sowohl von Caritas-Mitarbeiter(inne)n in deren Arbeitsalltag als auch von Hilfesuchenden in deren Notsituation als Kraftquelle erfahrbar wird? Trauen wir einander zu, im geschützten Raum auch einmal über unsere Hoffnungen, Ängste, Zweifel und (Un-)Glauben ins Gespräch zu kommen, weil spirituelle Themen eben nicht tabuisiert oder zensiert sind? Trauen wir uns, uns gemeinsam (Führungskräfte, Mitarbeiter(innen), Kranke, Bewohner(innen), Bezugspersonen und viele andere) in allen möglichen Formen liturgischer Feiern an das Heilswirken Gottes zu erinnern? Nehmen wir ernst, dass der Heilige Geist uns die nötige Energie gibt, Routinen zu durchbrechen, Risiken und Innovationen zu wagen?
Konkret helfen
Was "Diakonia" meint, signalisieren folgende Fragestellungen: Machen sich Führungspersonal und Mitarbeiter(innen) zum hilfreichen Nächsten ihrer Mitmenschen, indem sie sehr konkret helfen, deren Notsituation zu lindern? Tragen sie durch kompetentes professionelles Handeln dazu bei, dass das "Reich Gottes" (weniger Krankheit, weniger Armut, weniger Not, mehr Gerechtigkeit, mehr Solidarität) bereits hier auf Erden anbricht, ohne dass dabei ausdrücklich über Gott oder Glauben geredet wird? Akzeptieren sie zugleich, dass das "Reich Gottes" auf Erden mitten in unseren Einrichtungen und Verbänden nur anbricht und niemals vollendet werden kann, weshalb gerade in der Caritas nicht alles gemacht werden darf, was zum Beispiel medizintechnisch machbar wäre? Ist es ein Qualitätsmerkmal der Caritas, dass Altwerden, Behindertsein, Chronisch-krank-Sein als zum Menschsein dazugehörig gewürdigt und Sterben als ein wichtiger Lebensabschnitt menschenwürdig gestaltet wird? Widersetzt sich Caritas somit öffentlich gesellschafts- und sozialpolitischen "mainstreams" wie der Vergötzung von Jungsein, Schlanksein, Fitsein und Gesundsein?
Kirche mitten in der Welt
Erst im gleichstufigen Zusammenspiel von "Koinonia", "Martyria", "Liturgia" und "Diakonia" konstituiert sich Kirchesein. Werden die vier Dimensionen in Einrichtungen, Diensten und Verbänden zumindest ansatzhaft sichtbar und spürbar, erhält Caritas trotz aller Unvollkommenheit eine nach innen und außen glaubwürdige christliche Identität und erweist sich als gelebte Form von Kirche in der Welt.
Gleiches trifft aber auch auf Pfarrgemeinden oder Pfarrverbünde und neu entstehende Seelsorgeräume zu. Auch sie befinden sich nicht in einem Sonderraum, sondern haben sich, wenn sie sich an Jesus Christus ausrichten wollen, nicht nur allen Menschen und deren Lebensräumen zu öffnen, sondern auch darauf zu achten, die vier Grunddimensionen von Kirchesein im Gleichgewicht zu halten. In vielen Gemeinden ist die Realität aus diversen Gründen jedoch eine andere, wie bereits im Impulspapier "Rolle und Beitrag der Caritas in den pastoralen Räumen" nachlesbar ist: "Der Fokus der Pfarreien liegt oftmals vorwiegend auf der Liturgie und Verkündigung" (siehe neue caritas Heft 3/2009, S. 35). Nicht nur in immer mehr Bistumsleitungen, sondern auch in der seelsorglichen Fort- und Weiterbildung besonders jüngerer katholischer Priester ist zudem immer öfter der Ruf zu hören: "Zurück zum Kerngeschäft". In der Regel ist dies ein Plädoyer für eine stärkere Konzentration auf liturgische Feiern und die Spendung von Sakramenten. Für diakonische Tätigkeiten reiche die Zeit schlichtweg nicht (mehr) aus, es sei denn, Diakone oder auch Ehrenamtliche engagieren sich diesbezüglich. Greift dieses Denken um sich, entsteht die Gefahr, dass "Diakonia" als unverzichtbare Grunddimension von Kirchesein im pastoralen Selbstverständnis an den Rand gedrängt wird oder ganz verloren geht. Ist dies der Fall, dann steht das Kirchesein und damit die gesellschaftliche Glaubwürdigkeit von Pfarrverbünden prinzipiell infrage. Aus pastoral- und diakonietheologischer Perspektive ist deshalb hier ein klares Veto einzulegen.
Nichts einzuwenden ist dagegen, wenn in neu entstehenden großen pastoralen Räumen Pfarrverbünde und Caritas ihre Kräfte synergetisch bündeln, weshalb einzelne Einrichtungen wie beispielsweise Kindergärten, Schulen oder Beratungsstellen nach sorgfältiger Prüfung in die Obhut der Caritas als Kirche vor Ort übergehen. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass alle diakonischen Aktivitäten aus dem Gemeindeleben an die Caritas flächendeckend "outgesourct" werden.
Seelsorge "light": Sparzwang darf kein Grund sein
Unter dem Stichwort "Zurück zum Kerngeschäft" zeichnet sich gegenwärtig aber noch eine andere, äußerst besorgniserregende Entwicklung ab: Unter Verweis auf finanzielle und personelle Engpässe werden immer häufiger professionelle Seelsorger(innen) aus sozialcaritativen Einrichtungen (auch denen der Caritas) in Pfarreien und Seelsorgeräumen abgezogen beziehungsweise vakante Stellen werden nicht neu besetzt. Diese mehr oder minder stillschweigend ablaufende "Seelsorgerückrufaktion", der sich gegenwärtig einzelne Bistümer noch verweigern, wird (analog zur Situation in den Niederlanden) nicht nur dazu führen, dass kirchlich aufgegebenes Terrain nur schwer wiederzugewinnen ist, weil andere Gruppierungen und Religionen wie zum Beispiel Humanisten und Muslime aktiv in den Gesundheitssektor drängen. Die Caritas wird auch gezwungen sein, selbst Sorge dafür zu tragen, Seelsorge in ihren Einrichtungen sicherzustellen. Ob eine Caritaseinrichtung eine glaubwürdige christliche Identität aufweist, hängt zwar davon ab, ob Führungskräfte, Hausober(in) und Mitarbeiter(innen) aller Professionen gemeinsam darauf achten, dass "Diakonia", "Martyria", "Liturgia" und "Koinonia" erfahrbar werden. Professionelle christliche Seelsorger(innen) sind aber dennoch unverzichtbar, denn sie bringen nicht nur den für eine christliche Einrichtung notwendigen theologischen Sachverstand mit, sondern auch die Fähigkeit und Möglichkeit, die Frage nach dem spezifisch Christlichen kontinuierlich wachzuhalten.
"Spiritual Care" könnte sich als Bumerang erweisen
Notlösungen wie die, engagierte Mitarbeiter(innen) oder Ehrenamtliche spirituell zu qualifizieren, damit sie seelsorgliche Teilaufgaben mitübernehmen, sind trotz des positiven Grundanliegens (spirituelle Sensibilisierung anderer Berufsgruppen) mit großer Skepsis zu betrachten, wie die gegenwärtige Entwicklung gerade auch in den Vereinigten Staaten zeigt. "Spiritual Care" klingt zwar moderner als "Seelsorge", kann sich aber als Bumerang erweisen: zum einen berufspolitisch, weil der inzwischen hohe Professionalisierungsgrad christlicher Seelsorge im Gesundheitswesen erheblichen Schaden erleiden würde und sogar die Gefahr besteht, dass der Beruf "kirchenamtlich beauftragte Kategorialseelsorge" langfristig überflüssig wird. Zum anderen könnte es auch inhaltlich Probleme geben, weil "Spiritual Care" gerade wegen seines breiten Spiritualitätsbegriffs nicht nur dazu führen wird, dass christliche Seelsorge ihr typisch katholisches inhaltliches Profil, das auch eine systemkritische prophetische Dimension einfordert, einbüßt, sondern langfristig auch zu einer Verwässerung der typisch katholischen Einrichtungs-Identität beiträgt.
Zusammenfassende Schlussfolgerungen:
- Sowohl Pfarrverbünde als auch Caritaseinrichtungen sind Kirche vor Ort.
- Sowohl Pfarrverbünde als auch Caritaseinrichtungen sind kirchliches Kerngeschäft.
- Aus diesem theologischen Grund (und nicht aus pragmatischen, administrativen oder finanziellen Gründen) sind sowohl Pfarrverbünde als auch die verbandliche Caritas Bestandteil und aktive Mitgestalter des pastoralen Raums.
- Eng vernetzte inhaltliche, personelle und strukturelle Zusammenarbeit ist vorausgesetzt, um wirklich voneinander lernen und profitieren zu können.
- Gegenseitiges Profitieren bezieht sich nicht nur auf die Diakonia-Dimension. Pfarrverbünde können daher von der Caritas nicht nur lernen, wie diakonisches Engagement (besser) gelingt und Kirche (wieder) ein diakonisches Antlitz erhält, sondern auch zukunftsweisende Impulse für Liturgia, Martyria und Koinonia erhalten.
- Caritas wiederum kann sich ohne Angst vor kirchenamtlicher Vereinnahmung von Bistumsvertreter(inne)n und Theolog(inn)en dabei unterstützen lassen, sich tatsächlich im christlich-katholischen Sinn zu respiritualisieren, wobei Bewährtes bewahrt und Neues gewagt werden darf.