Die Ziele des Klienten sind immer Kern der Beratung
Es gibt prinzipiell zwei Situationen, die Menschen dazu veranlassen, Beratung in Anspruch zu nehmen. Ein Teil der Klienten kommt mit dem Wunsch, Lebensverhältnisse oder Verhaltensweisen zu verändern. Dies ist verbunden mit dem Wissen, dass die eigenen Ressourcen für derartige Änderungsvorhaben nicht ausreichen. Betroffene nehmen selbstständig Kontakt mit einem Berater auf, ohne Druck von außen.1 Es gibt aber auch die "fremdinitiierte Kontaktaufnahme". Der Klient wird durch andere Menschen, Institutionen oder gesetzliche Vorgaben verpflichtet, sich beraten zu lassen. Hier wird der Begriff "Zwangskontext" benutzt.
Im Zwangskontext ist der von außen kommende Druck für viele Klienten, oberflächlich betrachtet, die einzige Motivationsgrundlage, sich beraten zu lassen. Hier ist der Berater2 in besonderer Weise aufgefordert, diesen speziellen "Überweisungskontext" zu nutzen. Damit hier Beratung erfolgreich sein kann, sollte der Berater seine Aufmerksamkeit nicht auf die scheinbar mangelnde Motivation des Klienten lenken.
Beratung unter Zwang, das geht eigentlich nicht
Beratung in der sozialen Arbeit findet immer zwischen den Polen Kontrolle und Unterstützung statt. Durch den Zwangskontext steht jedoch der Aspekt der Kontrolle stärker im Vordergrund. Für den Berater ergibt sich draus die Schwierigkeit, dass er seine eigentliche Rolle nicht wahrnehmen kann. Denn Berater unterstützen Klienten bedingungslos dabei, ihre Ziele zu erreichen. Im Zwangskontext aber wirken auch Ziele von Personen mit, die am Beratungsprozess nicht direkt beteiligt sind. Die Frage, was der Klient benötigt, um seine Situation bewältigen zu können, tritt häufig in den Hintergrund.
Wie können Berater in sogenannten Zwangskontexten dennoch eine Beziehung zum Klienten aufbauen, die Entwicklung ermöglicht?
Ein erster Schritt könnte sein, dass Berater und Klient die Beratungssituation in eine neue Perspektive rücken, indem sie nicht mehr vom "Zwangskontext" sprechen, sondern von einem "schwierigen Überweisungskontext". Diese vordergründig "nur" sprachliche Veränderung ermöglicht dem Berater, sich anders auf den Klienten einzustellen. Er würdigt dabei, dass der Klient sich für die Beratung und gegen etwas anderes entschieden hat. Damit wird der Blick frei und die Ziele des Klienten stehen im Fokus, auch wenn die Situation weiter schwierig bleibt.
Die Haltung des Beraters ist entscheidend
Für die Gestaltung der Beratung in schwierigen Überweisungskontexten hat sich der systemische Ansatz als besonders zielführend erwiesen. Er geht von verschiedenen Grundannahmen aus, die sich auf die Interaktion zwischen Berater und Klient beziehen. Über allen Annahmen steht als Grundüberzeugung, dass "erfolgreiche" Beratung in der Haltung des Beraters ihren Ausgang findet. Systemische Berater arbeiten nicht "nur" an Problemen, sondern hauptsächlich an dysfunktionalen Interaktions- und Denkmustern, Wahrnehmungsweisen und Wertvorstellungen, also an der Haltung der Klienten. Um diese Dimension von Beratung professionell auszugestalten, ist das Bewusstsein um die eigene Haltung (Glaubenssätze, Werte, Weltbilder usw.) unabdingbare Voraussetzung.
1. Veränderung ist nicht nur möglich, sondern unvermeidbar
Klienten aus schwierigen Überweisungskontexten werden oft mit dem Etikett "veränderungsresistent" versehen. Diese Zuschreibung sagt in aller Regel mehr darüber aus, wie Berater ihre Beobachtung organisieren - (zu) oft defizitorientiert -, als dass sie etwas über den Klienten erzählt. Allein die Tatsache, dass der Klient in die Beratung kommt, stellt schon eine Veränderung dar. Dies gilt es wahrzunehmen, zu nutzen und dem Klienten zu spiegeln. Folgende Fragen im Beratungsgespräch können diese Veränderungen sichtbar machen: "Was hat sich seit dem letzten Treffen verändert?", "Was haben Sie in der Zwischenzeit anders gemacht?" oder "Was ist seit dem letzten Mal besser geworden?"
2. Zusammenhänge zwischen Problem und Ursache sind konstruiert
Eine gängige Meinung ist, dass jedem Problem eine Ursache zugrunde liegt. Probleme können also gelöst werden, indem die Ursache erforscht und an ihr gearbeitet wird. Systemisch gesehen ist der Zusammenhang von Ursache und Problem jedoch ein konstruierter. Reines Kausalitätsdenken verhindert den freien Blick auf verschiedene Lösungsoptionen. Deshalb sollte sich der Berater davon verabschieden. Wie der Philosoph Heinz von Foerster einmal sagte: "Adieu Kausalität."
3. Menschen sind autonome Systeme und daher nicht direktiv steuerbar
In der Beratung geht es darum, den Klienten als gleichberechtigten Kommunikations- und Kooperationspartner zu respektieren und zu behandeln. Entmündigung führt in aller Regel zu Widerstand, Anpassung und Passivität. Veränderungs- und Kooperationsbereitschaft entsteht dann, wenn die Situation durch den Klienten selbst als kontrollier- und veränderbar erlebt wird. Nur wenn dies beachtet wird, kann der Beratungsprozess genutzt werden, um den Ort der Kontrolle von außen ("Die anderen sind an meiner Situation schuld") nach innen ("Ich kann meine Situation selbst verändern") zu verlegen. Der Klient steuert die Inhalte der Beratung, der Berater den Beratungsprozess. Er hilft dem Klienten dabei, seine eigenen Themen und Fragen zu formulieren, gibt diese aber nicht vor: "Was werden Sie ab heute tun, um den Familienrichter davon zu überzeugen, dass Ihre Tochter bei Ihnen in der Familie bleiben kann?" oder "Was wäre für Sie das beste Ergebnis der Beratung?"
4. Klienten haben alle Ressourcen und Potenziale, die sie brauchen, um ihre Ziele zu erreichen
Eine zentrale systemische Grundannahme sagt, dass Klienten neben ihren Symptomen, Problemen, Defiziten und Schwächen auch Stärken und Ressourcen haben. Genau diese Ressourcen haben ihnen in der Vergangenheit schon geholfen, Problemsituationen zu meistern. Diese Ressourcen und Potenziale gilt es durch die Beratung für die aktuelle Problemsituation zu mobilisieren und zu nutzen.
Werden nur Probleme und Defizite betrachtet, geht der Blick für die Stärken und Ressourcen der Klienten verloren. Sie sind zwar vorhanden, werden aber nicht zum aktuellen Problem in Beziehung gesetzt. Hier helfen ressourcenorientierte Fragetechniken. Mit ihnen kann der Berater Klienten darauf hinweisen, dass sie ähnliche Situationen bereits bewältigt haben oder welche Ressourcen sie mit in die Beratung gebracht haben: "Was haben Sie konkret dazu beigetragen, dass Sie Ihr letztes Problem lösen konnten?" Eine andere Frage wäre beispielsweise: "Welche Ihrer Stärken und Potenziale schätzt Ihre Frau an Ihnen?"
5. Für jedes Problemverhalten gibt es einen Kontext, in dem dieses Verhalten Sinn macht
Ein Mensch verhält sich je nach dem Kontext, in dem er sich befindet: Ein Beispiel kann dies veranschaulichen: Man stelle sich vor, mit der Schwiegermutter auf dem Sofa zu sitzen. Und nun stelle man sich vor, mit dem Partner auf dem Sofa zu sitzen. Das Verhalten wird sich je nach Situation verändern. Systemisch betrachtet sind Probleme Symptome und nur in dem Kontext verstehbar3, in dem sie auftreten. Meist scheitern Lösungsversuche, die den aktuellen Lebenskontext nicht mit einbeziehen. Verhalten erhält erst durch den sozialen Kontext, in dem es stattfindet, Sinn und Bedeutung. Es ist nur in diesem speziellen Bezugsrahmen begreif- und bewertbar. Isoliert vom Kontext betrachtet ist zum Beispiel regelmäßiges Einnässen eines 14-Jährigen ein pathologisches Verhalten. Wächst der Junge aber in einem Klima von sexuellen Übergriffen auf, kann dieses Verhalten als sinnvoll begriffen werden. Leider passiert es noch immer viel zu häufig, dass ein bestimmtes Problemverhalten eines Klienten als ein festes Persönlichkeitsmerkmal diagnostiziert wird.
6. Kooperation und Wertschätzung sind zieldienlicher als Expertentum
Da Menschen nicht steuerbar sind, kann es im Beratungsprozess auch kein Expertentum für das Leben und die Ziele des Klienten geben, außer durch den Klienten selbst. Berater sind allenfalls Experten für den Prozess, der dem Klienten hilft, seine eigenen Lösungen zu finden. Zentrales Ziel eines systemisch orientierten Beratungsprozesses ist es, den Klienten zur Kooperation zu bewegen. Dies geschieht, wenn der Berater den Klienten zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit einlädt, zielgerichtet und eigenverantwortlich Schritte zu unternehmen, die zur Lösung oder Verminderung seiner Probleme beitragen. Zur Kooperation sind Klienten aber nur in einem Kontext bereit, in dem ihr Selbstwert geschützt und gestärkt wird. Dies gelingt dann, wenn sich der Berater in wertschätzender Weise für das Leben des Klienten, für seine Fähigkeiten und Ressourcen interessiert. Nur so ist er in der Lage, einen Kontext zu schaffen, in dem der Wunsch nach Hilfe entstehen kann.
Die Verantwortung für sein Leben trägt immer der Klient
Die Anforderungen an Berater in schwierigen Überweisungskontexten sind hoch und oft stellt diese Arbeit eine extreme Belastung dar. Auch weil verschiedenste Auftraggeber oft widersprüchliche Erwartungen an die Beratung haben. Wie Berater letztlich mit den Belastungen und Herausforderungen umgehen, hängt auch von ihren Werten und Überzeugungen, also ihren Grundannahmen ab. Die systemischen Grundannahmen verbindet ein zentrales Element: Die Verantwortung für das Leben und die Ziele des Klienten liegen einzig und allein beim Klienten selbst - egal, welche Ziele andere Auftraggeber formulieren.
Anmerkungen
1. Das Prinzip der Freiwilligkeit stellt streng genommen eine Illusion dar. Kein Mensch kommt aus freien Stücken zu mir in die Beratung: Es sind die Probleme und Symptome, die Menschen dazu veranlassen mit Beratern Kontakt aufzunehmen.
2. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden hier die männlichen Varianten der Begriffe Berater und Klient verwendet.
3. Symptome sind als Hinweise auf nicht funktionierende Interaktionsmuster in (zum Beispiel Familien- oder Team-) Systemen zu verstehen.
4. Die Autoren Jochen Leucht und Lothar Hellenthal (s. Beitrag S. 13ff. in neue caritas Heft 21/2011) bieten an der Fortbildungs-Akademie des DCV Kurse und Seminare zu den Themen systemische Sozialarbeit, Beratungsresistenz und Zwangskontexte an. Mehr Infos: www.fak-caritas.de