Lokal verorten, damit Hilfe nicht zur Endstation wird
Mit Beginn in den 1970er Jahren wurde ein individualisiertes Verständnis von "Nichtsesshaftigkeit" allmählich von einer sozialwissenschaftlichen Perspektive der "Wohnungslosigkeit" im Kontext von Armut, Wohnungsnot und Marginalisierungsprozessen abgelöst. Dies war die Voraussetzung für die programmatische Weiterentwicklung der Wohnungslosenhilfe im Hinblick auf Rechtsverwirklichung, Hilfe zum Bleiben, Hilfen für Wohnung, Arbeit und Gesundheit, Alltagsnähe und Verwirklichung von Bürgerrechten, Ressourcenorientierung und Empowerment sowie Mitbestimmung der Betroffenen in den Einrichtungen.
Die Wohnungslosenhilfe der Caritas hat diesen fachpolitischen Perspektivenwechsel in ihrem Grundsatzpapier Mitte der 1990er Jahre ausformuliert. Im Leistungsrecht des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) fand dieser Wandel schließlich seinen Niederschlag in der Reform der Durchführungsverordnung zu § 72 BSHG, heute §§ 67ff. SGB XII, in der anstelle der Bestimmung von leistungsberechtigten Zielgruppen (zum Beispiel Nichtsesshafte, aber auch Landfahrer) ein Lebenslagenkonzept der "besonderen sozialen Schwierigkeiten" verankert wurde.
Die soziale Ausgrenzung überwinden
Ziel der Hilfen ist, die Betroffenen - über die Existenzsicherung hinaus - durch breitgefächerte Maßnahmen darin zu befähigen und zu unterstützen, ihre soziale Ausgrenzung zu überwinden. Der Wohnungslosenhilfe kommt dabei eine Brückenfunktion zu, um Zugänge zur Regelversorgung zu schaffen. Auf diese Weise sollen gesellschaftliche Ressourcen wie Wohnung, Arbeit, (Aus-)Bildung und medizinische Versorgung erschlossen werden.
Im Zuge dieser Auseinandersetzung hat sich die Wohnungslosenhilfe zu einem qualifizierten, differenzierten Hilfesystem entwickelt, das vielfältige, auch kombinierte Hilfen in Leistungsmodulen anbietet. Ziel ist die Wiedereingliederung und eine umfassend verstandene Teilhabe.
Weniger Integrationsleistungen und mehr Ausgrenzung
Die Gesetze zur Reform des Arbeitsmarktes, insbesondere die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit ihrer Programmatik des Förderns und Forderns, stellen die Wohnungslosenhilfe aktuell vor große Herausforderungen.
Die Fokussierung auf die Wiedereingliederung in Erwerbsarbeit, die unter Finanzierungsvorbehalt stehenden zusätzlichen Integrationsleistungen, das Wegbrechen bisheriger kommunaler Leistungen (beispielsweise im Bereich Arbeit und Beschäftigung), die unzureichende Verknüpfung mit den Leistungen des SGB XII - um nur einige wenige Punkte zu benennen - stellen die erforderliche umfassende Hilfe für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten in Frage.
So äußerte sich der Deutsche Caritasverband im Juni 2008, dass "mehr als drei Jahre nach Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende noch erhebliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung vor Ort bestehen, die zulasten der Betroffenen gehen und ihre Rechte beeinträchtigen … Problematisch gestaltet sich immer noch die Integration von arbeitsmarktfernen Personen in den Arbeitsmarkt. Der aus dem Bundessozialhilfegesetz in das SGB II eingeflossene Auftrag der sozialen Integration der Leistungsberechtigten und deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist nicht hinreichend umgesetzt worden."1 Dies gilt in besonderem Maße für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten.
Anteil junger und alter Wohnungsloser steigt
Die bisherigen Erfahrungen nähren Befürchtungen, dass die neue sozialpolitische Fokussierung auf die Integration in den Arbeitsmarkt eine "Zwei-Klassen-Sozialarbeit" etablieren könnte: qualifizierte Hilfen für diejenigen, die noch Aussicht auf Integration versprechen, und eine niedrigschwellige Armenfürsorge für Personen ohne Vermittlungsperspektiven.
Diese Befürchtung wird gestützt durch die zunehmende Differenzierung der Klientel in den letzten zehn bis 15 Jahren, die eine Ausweitung von prekären und ungeschützten Lebenslagen aufzeigt (vgl. dazu den Beitrag von Hartmut Fritz in neue caritas Heft 16/2008, S. 18). Statistiken deuten darauf hin, dass insbesondere der Anteil junger und alter Menschen sowie der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund aller Voraussicht nach weiter zunehmen wird.
Die Auswirkungen der Reformgesetze auf die soziale Arbeit können derzeit noch nicht abschließend bewertet werden, da viele Fragen noch offen sind. So hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Dezember 2007 den Gesetzgeber zu einer grundsätzlichen Klärung der Zuständigkeiten und Kooperationen zwischen Agenturen für Arbeit und Kommunen aufgefordert. Dies bietet möglicherweise die Chance, die Frage nach der zukünftigen Organisation des SGB II mit der Neuausrichtung des Instrumentariums im SGB II zu verknüpfen (s. auch neue caritas Heft 13/2008, S. 3).
Wohnungslosenhilfe hat Monitoring-Funktion
Die Konsequenzen der Reformen für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten sowie deren mittelfristige Auswirkungen auf das Hilfefeld müssen genau beobachtet und bewertet, die Integrationsmöglichkeiten für Menschen mit besonderen Vermittlungshemmnissen ausgelotet werden. Die Wohnungslosenhilfe hat dabei eine unverzichtbare Monitoring-Funktion. Sie muss darüber hinaus auf allen Ebenen dafür eintreten, die Errungenschaften ihrer bisherigen Arbeit für die betroffenen Menschen zu erhalten und weiterzuentwickeln:
(a) Die leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen müssen stimmen
Die Umsetzung des BVG-Urteils im Dezember 2007 muss als Chance für die rechtliche Absicherung einer gemeinsamen Verwaltung und gleichberechtigten Kooperation und Steuerung der Agenturen für Arbeit und Kommunen genutzt werden. Damit wäre die Hilfe aus einer Hand tatsächlich gegeben und Zuständigkeitsfragen wären geklärt.
Darüber hinaus müssen die Grundsätze des BSHG im SGB II verankert werden, um den Fürsorgegedanken im SGB II zu stärken und die individuelle Bedarfsgerechtigkeit für Menschen mit besonderen Vermittlungshemmnissen zu sichern. Die soziale Teilhabe muss als Ziel der Hilfe deutlich gestärkt werden und darf nicht in Aktivierung und Arbeitsmarktausrichtung aufgehen. Dieser Schärfung des Auftrags zur sozialen Integration muss auch in der Ausgestaltung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente Rechnung getragen werden. Die sozialen Integrationsleistungen gem. § 16 Abs. 2 SGB II müssen finanziell so ausgestattet sein, dass nachhaltige - und dies bedeutet oft auch längerfristige - Hilfen realisiert werden können.
(b) Kooperation und Vernetzung weiter ausbauen
Die Differenzierung der Klientel erfordert, die Kooperation und Vernetzung auszubauen und zu intensivieren. Dabei sind insbesondere die Schnittstellen mit der Jugend- und Altenhilfe, mit den Hilfen für psychisch kranke und suchtkranke Menschen sowie mit den Akteuren der Hilfen für Menschen mit Migrationshintergrund in den Blick zu nehmen. Dazu können eigenständige Leistungsmodule entwickelt werden. Erforderlich sind verbindliche Zielvereinbarungen, Absprachen zu Verfahren der Kooperation und zum Case-Management. Die vorrangig zuständigen Arbeitsfelder müssen außerdem ihre Arbeitsansätze und Leistungen dahingehend überprüfen, wie sie den Hilfebedarf ihrer Zielgruppen angemessen aufgreifen können.
(c) Maßnahmen der Bildung und Alltagsbewältigung erweitern
Die Anforderungen an Bildung und soziale Kompetenzen steigen. Bildungsmaßnahmen muss daher zukünftig eine noch größere Bedeutung in der Wohnungslosenhilfe zukommen. Hierzu gehören grundlegende Angebote wie Alphabetisierung, Sprachkurse, Erreichen eines Schulabschlusses ebenso wie gezielte Angebote, Menschen an die Möglichkeiten des SGB II heranzuführen. Unterstützungs- und soziale Trainingsangebote müssen so ausgerichtet sein, dass sie einen Beitrag zur Alltagsbewältigung und zu einem gelingenden Alltag leisten können. Dabei ist darauf zu achten, dass Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten den Anschluss an die alltagsbezogene Nutzung elektronischer Medien halten (Datenverarbeitung, Internet, Mobiltelefon), um selbstständiges Arbeiten zu ermöglichen und erneute Ausgrenzung von gesellschaftlichen Entwicklungen zu vermeiden.
(d) Partizipation und eigene Interessenvertretung stärken
Die Förderung von Partizipation und eigener Interessenvertretung haben in der Wohnungslosenhilfe eine hohe Bedeutung. Dennoch wird das Potenzial der Menschen oft noch unterschätzt. Diese Förderung erfordert die konsequente Ausrichtung der Hilfen auf die Kompetenzen und Ressourcen der Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten und die Anerkennung ihrer Mündigkeit und Selbstbestimmung. Dies wirkt sich auf die Mitbestimmung und Mitgestaltung der Betroffenen in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe aus. In den Einrichtungen und im fachpolitischen Diskurs muss man sich auf "Gegenmacht" und neue Formen der Auseinandersetzung einlassen. Daher ist zu begrüßen, dass mit Unterstützung von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe Mitte der 1990er Jahre mehrere lokale Betroffeneninitiativen gegründet wurden, die sich zur Bundesbetroffeninitiative (BBI) zusammengeschlossen haben. Die BBI ist als Interessenvertretung wohnungsloser Menschen inzwischen in Politik und Fachöffentlichkeit anerkannt.
(e) Öffnung für die präventive Arbeit
Durch die Erweiterung der kommunalen Interventionsansätze zur Wohnungsversorgung von Wohnungsnotfällen2 wird die Frage aufgeworfen, ob sich die verbandlich getragene Wohnungslosenhilfe an der präventiven Arbeit beteiligen soll und die "Wohnungsnotfallhilfe" als neuer Leitbegriff für das Hilfesystem gelten kann. Für eine vorsichtige Öffnung der Wohnungslosenhilfe spricht, dass sie ihre Kernkompetenzen aus der Arbeit mit Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten in die präventive Arbeit zielführend einbringen kann. Die Beteiligung an regionalen Wohnungsversorgungsverbünden, wie sie sich vereinzelt herausgebildet haben, ist daher sinnvoll, wenn dies nicht zulasten ihrer Kernaufgaben, der Hilfen für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten auf Grundlage der §§ 67ff. SGB XII, geht. Bisher legen die Kosten- und Leistungsträger die leistungsrechtlichen Bestimmungen meist noch eng aus. Gegen eine Überführung der Wohnungslosenhilfe in eine Wohnungsnotfallhilfe spricht zudem die damit verbundene Gefahr, dass der spezifische Hilfebedarf von Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten mit Straßenkarrieren gewissermaßen unter den Tisch fällt und nicht mehr eigens wahrgenommen wird. Innerhalb einer breiten Wohnungsnotfallhilfe könnten sich "Creaming-Effekte" durchsetzen, die zulasten wohnungsloser Menschen gehen. Aus den genannten Gründen hat das Arbeitsfeld bisher - trotz vorsichtiger Öffnung und verschiedener Kooperationsmodelle - am Leitbegriff der Wohnungslosenhilfe festgehalten.
(f) Die Wohnungslosenhilfe stärker im sozialen Nahraum verankern
Die oben skizzierten Entwicklungsbereiche zielen auf eine verstärkte Integration der Wohnungslosenhilfe in eine gemeindeorientierte oder gemeindenahe soziale Arbeit. Dies führt zu einem Hilfesystem, das lokal verortet, fachlich differenziert und sozialstrukturell eingebunden ist und das stärker als bisher sozialräumlich agieren kann und muss.
Die Kooperation mit Stadtteilzentren oder Quartiersbüros bietet für die Wohnungslosenhilfe die Chance, sich stärker als bisher vor Ort zu vernetzen und die fallbezogene Hilfe mit einem lebensweltbezogenen Ansatz zu verknüpfen. Die Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden und Ehrenamtlichen kann soziale Räume für diese Menschen öffnen und Teilhabe verbessern. Mit sozialräumlichen Konzepten könnten Ansätze regionaler Versorgung und Planung vorangebracht werden, die andere Bereiche der psychosozialen Arbeit wie Suchthilfeplanung oder psychiatrische Versorgung mit einbeziehen.
Auch im Hinblick auf die Kommunalisierung sozialer Leistungen ist die gemeindenahe Wohnungslosenhilfe eine Option für die Zukunft.
Anmerkungen
1. Stellungnahme des DCV vom 13.6.2008 zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 29.5.2008 (s.a. neue caritas Heft 14/2008, S. 29ff.).
2. Nach der Definition des Deutschen Städtetags von 1987 werden unter Wohnungsnotfällen Personen gefasst, die von Wohnungsverlust betroffen oder bedroht sind oder die in prekären Wohnverhältnissen leben.
Dieser und weitere Beiträge in der neuen caritas Heft 16 2008 zum Thema Wohnungslose beruhen größtenteils auf Vorträgen, gehalten auf der Fachwoche Wohnungslosenhilfe vom 22. bis 25. April 2008 in Augsburg.