Teamgeist als Basis für Gewaltprävention
Wo Menschen auf der Straße Schutz suchen, ist es Aufgabe der Sozialarbeit, auch Mitarbeitende vor Gewalt zu schützen. In der Mülheimer Arche setzt sich Fabian Daniels mit seinem Team für sichere Räume ein.Christiane Stieff
Fabian Daniels leitet seit zwei Jahren drei Einrichtungen des SKM Köln, die sich um die sozialarbeiterische Begleitung und medizinische Versorgung odachloser, wohnungsloser und anderer Menschen mit Hilfebedarf kümmern: die Mülheimer Arche, die Winterhilfe Köln und das Projekt Wohnen auf Zeit. Esther Baron sprach mit ihm über Gewalt in der alltäglichen Arbeit und über Prävention.
Was erleben Sie und Ihre Mitarbeitenden an Gewalt in Ihrer täglichen Arbeit?
Zunächst muss ich sagen, dass wir mit Personen zu tun haben, die sich in einer Krise befinden. Der Grad an Verwahrlosung in dieser Gruppe hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. Diese Menschen sind oft nicht das erste Mal durchs System gefallen, und wir sind sicher nicht die ersten Sozialarbeiter:innen, denen sie begegnen. Sie stehen unter extremem Stress. Dann verliert man schon mal leichter die Fassung. Das kennt man vielleicht auch von sich selbst. Wir kriegen viel ab, was eigentlich nicht gegen uns gerichtet ist. Da ist viel Wut über den Staat, die Politik, die Stadt oder die Ämter. Wir puffern viel ab. Aus der Nummer kommen wir auch nicht raus. Das ist Teil unseres Jobs. Wir erleben regelmäßig verbale Beschimpfungen und Beleidigungen. Zudem haben weibliche Mitarbeiterinnen die Herausforderung, häufiger mit sexualisierter Gewalt konfrontiert zu sein: sexistische Kommentare, manchmal auch Avancen. Zu körperlicher Gewalt kam es bisher nur selten.
Von wem geht die Gewalt aus? Eher von Männern oder Frauen, und hat sie zugenommen?
Das kann man so nicht sagen, bei uns halten sich meist 30 Prozent Frauen und 70 Prozent Männer auf. Das ist in den meisten Einrichtungen für Obdachlose der Fall. Es hängt vom Einzelnen ab und seiner individuellen Verfassung. Die Leute sind, meiner Beobachtung nach, frustrierter geworden und psychisch belasteter. Das heißt aber nicht, dass es gleich zu Gewalttaten kommt. Wir beobachten auch Phasen mit mehr oder weniger Gewaltpotenzial. Im vergangenen Sommer hatten wir in der einen Einrichtung phasenweise mehr Konflikte, aber das waren eher Konflikte der Besucher:innen untereinander. Da haben wir vermehrt Hausverbote ausgesprochen. Wir haben klare Regeln für den Aufenthalt bei uns, die wir auch strikt durchsetzen. Das hilft.
Bereiten Sie Ihre Mitarbeitenden auf die Möglichkeit von Gewalterfahrungen vor?
Wir tun viel dafür, dass es nicht zu Gewalt kommt. Im Vorstellungsgespräch sprechen wir an, dass wir es mit einer besonderen Klientel zu tun haben, und wir lassen die Bewerber:innen probearbeiten. Da zeigt sich schon, ob eine gewisse Resilienz vorhanden ist. Wir haben ein Präventionskonzept zum Umgang mit grenzverletzendem Verhalten und ein Prozedere, wenn es zu einer Gewalttat kommt.
Wie gehen Sie als Leitung und Team mit der Thematik um?
Wichtig ist, dass wir schnell reagieren. Eine angstfreie Atmosphäre und ein respektvoller Umgang im Team sind wichtige Voraussetzungen, damit Mitarbeitende sich trauen, einen Vorfall auch anzusprechen. Alles muss dokumentiert werden. Gibt es einen Vorfall, dann muss schnell eine Anzeige bei der Berufsgenossenschaft (es handelt sich um einen Arbeitsunfall) und gegebenenfalls bei der Polizei erfolgen. Die wichtigste Maßnahme zur Gewaltprävention und dem Umgang mit Gewalt ist ein starker Teamzusammenhalt. Das größte Risiko für uns geht nicht von Gewalttaten einzelner Klient:innen aus, sondern von dem, was die Arbeit mit einer sehr vulnerablen Zielgruppe mit sich bringt. Wenn beispielsweise ein:e Bewohner:in in der Einrichtung verstirbt oder Mitarbeitende tagtäglich mit schweren Schicksalen konfrontiert sind. Für schnelle Hilfe bietet die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) eine kostenlose Krisenberatung an. Ansprechpartner:innen sind auch die Notfallseelsorger:innen des Bistums.
Welche Präventionsmaßnahmen haben Sie?
Wir als Leitung stehen als Ansprechpartner:innen zur Verfügung. Wir haben eine Awareness-Beauftragte, eine Ansprechpartnerin aus dem Team. Mit ihr kann niederschwellig ein kollegiales Gespräch geführt werden, wenn man einen Vorfall nicht gleich mit der Leitung besprechen will. Wer die Ansprechpartner:innen sind, ist mit E-Mail-Adressen in unserem Konzept zum Umgang mit grenzverletzendem Verhalten festgehalten. Jede:r bei uns Beschäftigte bekommt das. Und: Alle müssen alle zwei Jahre eine Deeskalationsschulung durchlaufen, auch Aushilfen und Mitarbeitende in der Hauswirtschaft. Wir haben einen externen Trainer, der unsere Einrichtungen schon länger begleitet. Realistische Situationen werden im Rollenspiel simuliert. Die Fortbildungen finden auch einrichtungsübergreifend für alle niedrigschwelligen Hilfen des SKM Köln statt. Es ist wichtig, dass sich Kolleg:innen austauschen.
Welche Schutzmaßnahmen haben Sie?
In der Winterhilfe sind rund um die Uhr sechs bis acht Kräfte eines privaten Sicherheitsdienstes vor Ort. Das Gebäude ist sehr verwinkelt und weitläufig. Hier sind die öffentlichen Bereiche kameraüberwacht. Die Aufträge dafür werden von der Stadt Köln vergeben. In der Mülheimer Arche wird der Sicherheitsdienst nur partiell eingesetzt. Hier tragen die Mitarbeitenden ein Walkie-Talkie bei sich. Ein vereinbartes Signal zeigt an, wenn jemand Hilfe braucht. Zu Arbeitsbeginn wird täglich geprüft, ob das Gerät auch funktioniert. Und wichtig: Keine:r arbeitet allein und jede:r weiß, wo sich die Kolleg:innen im Gebäude aufhalten. Hauptprämisse: Niemand muss den Helden spielen und sich in Gefahr begeben. Die eigene Sicherheit hat immer Vorrang. Wir haben Türknäufe, die von außen nicht geöffnet werden können. So kann man sich im Ernstfall auch in einem Raum einschließen und warten, bis die Polizei kommt. Wenn wir merken, dass eine Person sehr aggressiv ist, lassen wir ein Beratungsgespräch schon mal ausfallen oder machen es zu zweit. Wir suchen einen größeren Raum. Wenn Gespräche mit potenziell gefährlichen Klienten anstehen, ist es umso wichtiger, vorher Kolleg:innen oder dem Sicherheitsdienst Bescheid zu geben, wo man sich befindet. Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen sollte man sich nicht zu 100 Prozent darauf verlassen, dass nichts passiert. Ein gewisses Risiko bleibt. Jede:r muss umsichtig arbeiten und auf Gefahren und Stimmungen achten. Prävention ist wichtig – wenn es dennoch zu einer Gewalttat gekommen ist, muss man einen Plan haben, wie man damit umgeht.
Telefonische Krisenberatung für BGW-Versicherte
Eine Gewalterfahrung ist ein Arbeitsunfall
Verursacht ein äußeres Ereignis während der beruflichen Tätigkeit einen körperlichen Schaden oder eine seelische Erkrankung, ist es versicherungsrechtlich ein Arbeitsunfall. Deshalb rät die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) dazu, auch Gewalt oder Extremereignisse im Unternehmen sofort mit einer Unfallanzeige bei der zuständigen gesetzlichen Unfallversicherung zu melden. Selbst wenn Betroffene einfach zur Tagesordnung übergehen, kann eine Traumatisierung stattgefunden haben, die schnelle Hilfe erfordert. Die telefonische Krisenberatung der BGW ist ein Angebot zur Frühintervention durch erfahrene Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Unbürokratisch und kostenlos können bis zu fünf Termine für telefonische Einzelberatung à 50 Minuten in Anspruch genommen werden. Verschwiegenheit und Anonymität gegenüber dem:der Arbeitgeber:in wird garantiert. Auf der Internetseite der BGW gibt es ein Kontaktformular. Die Therapeut:innen melden sich innerhalb von zwei Arbeitstagen beim Betroffenen. Voraussetzung für dieses Angebot ist eine Betroffenheit aufgrund der beruflichen Tätigkeit in einer Mitgliedseinrichtung.
Das Formular ist zu finden unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc25-10-bgw