Sozialer Frieden: eine Frage der Gerechtigkeit
Politik und Verwaltung stehen vor der Herausforderung, den sozialen Frieden als zentralen Leitgedanken in ihren Entscheidungsprozessen zu verankern, was entscheidend zur sozialen Kohäsion in einer pluralistischen Gesellschaft beiträgt. Angesichts komplexer sozialer Rahmenbedingungen ist die Förderung des sozialen Friedens unerlässlich für das Entstehen einer gerechten und stabilen Gesellschaft.1 Doch was trägt konkret zum Erhalt des sozialen Friedens bei, und wie beeinflusst staatliches Handeln diese Dynamik?
Um diese Fragen fundiert zu beantworten, ist eine systematische Bewertung aller politischen Maßnahmen unter den Aspekten sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit erforderlich. Vorhaben müssen institutionell überprüft werden, um ihre soziale Verträglichkeit sicherzustellen.2 Impact Assessments (Wirkungsbewertungen) spielen eine immer zentralere Rolle in der Entscheidungsfindung, insbesondere in kommunalen Kontexten. Sie analysieren die potenziellen Auswirkungen von geplanten politischen Maßnahmen auf verschiedene soziale, wirtschaftliche und ökologische Bereiche und tragen dazu bei, Effekte auf sozialen Frieden und Gerechtigkeit zu steuern.
Um positive Auswirkungen auf den sozialen Frieden zu gewährleisten, sind Leitlinien und Bewertungsinstrumente notwendig. Diese Instrumente unterstützen eine strukturierte Entscheidungsfindung, die den sozialen Frieden in den Mittelpunkt stellt. Entscheidungsträger:innen könnten damit Werkzeuge an die Hand gegeben werden, um die Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf verschiedene soziale Gruppen und Gerechtigkeitsaspekte systematisch zu bewerten.
Es gibt verschiedene Perspektiven auf den sozialen Frieden, darunter rechtliche, wirtschaftliche und soziale Sichtweisen. Michael Brie beschreibt, dass sozialer Frieden eine kooperative und gewaltfreie Art der Bearbeitung sozialer Fragestellungen umfasst.3 Diese Betrachtung konzentriert sich insbesondere auf die Beziehungen zwischen großen gesellschaftlichen Gruppen, die aufgrund ihrer unterschiedlichen sozialen Lagen ungleichen Zugang zu wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen haben. Vor diesem Hintergrund lässt sich sozialer Frieden am besten im Kontext sozialer Gerechtigkeit definieren, da er eng mit der Fairness in der Verteilung von Ressourcen, Rechten und Chancen innerhalb einer Gesellschaft verknüpft ist.
Unzureichend erfüllte grundlegende Bedürfnisse wie Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und wirtschaftlicher Teilhabe führen zu Ungleichheiten, die soziale Konflikte begünstigen. Extreme Ungleichheiten in der Verteilung von Lebenschancen gefährden somit den sozialen Frieden.4
Wie sich ein politisches Modell für sozialen Frieden entwickeln lässt
Ein Anliegen besteht darin, wie Gerechtigkeitsdimensionen präzise erfasst werden können und welche Instrumente zur Verfügung stehen, um im Sinne des Impact Assessments evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. Durch die Analyse von Daten und Informationen über die Auswirkungen von Maßnahmen auf verschiedene Gruppierungen und Ressourcen soll das Modell eine Grundlage für Entscheidungen bieten, die auf objektiven und nachvollziehbaren Kriterien basieren. Bislang wurde ein solches Modell nicht entwickelt.
In der Forschung wurden mehrere Indizes eruiert, die wertvolle Anhaltspunkte für die Entwicklung eines geeigneten Modells des sozialen Friedens bieten. Hierzu zählen der Index der sozialen Gerechtigkeit der Bertelsmann-Stiftung5, die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals - SDG) der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (DNS), die die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung umsetzt6, sowie der Radar Gesellschaftlicher Zusammenhalt7.
In diesem Zusammenhang hat sich der SKM Köln mit dem Thema sozialer Frieden auseinandergesetzt und die benannten Indizes eingehend untersucht. Dabei wurden spezifische Indikatoren identifiziert, die für den sozialen Frieden von Bedeutung sind, und acht zentrale Bewertungsdimensionen für sozialen Frieden ermittelt:
1. Armut/Armutsvermeidung
Indikatoren: Anteil der Leistungsberechtigten nach SGB II/SGB XII, materielle Deprivation (zum Beispiel Zahlungsrückstände, Wohnungslosigkeit), relative Armut unter verschiedenen Altersgruppen.
2. Gesundheit & Wohlergehen
Indikatoren: Verfrühte Sterblichkeit, Zugang zu medizinischer Grundversorgung, Bekämpfung übertragbarer und nicht übertragbarer Krankheiten, Verfügbarkeit von Pflegeheimplätzen.
3. Zugang zu hochwertiger Bildung
Indikatoren: Frühkindliche Bildung (Betreuung von unter Dreijährigen), Schulabbrecherquote, Bildungsübergänge.
4. Weniger Ungleichheiten
Indikatoren: Einkommensverteilung, Chancenungleichheiten (zum Beispiel Beschäftigungsquote bei Personen mit Migrationshintergrund).
5. Inklusion in den Arbeitsmarkt
Indikatoren: Beschäftigungsquoten von Jugendlichen und älteren Menschen, Qualität der Beschäftigungsverhältnisse.
6. Generationengerechtigkeit
Indikatoren: Familien- und Rentenpolitik, Umweltschutzmaßnahmen, Schuldenmanagement.
7. Gesellschaftlicher Zusammenhalt
Indikatoren: Akzeptanz von Diversität, Nichtdiskriminierung, soziale Inklusion und Engagement in der Zivilgesellschaft.
8. Gesellschaftliche Teilhabe
Indikatoren: Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen, Berücksichtigung des neuen Behinderungsbegriffs.
Diese Dimensionen sind geeignet, die Grundlage für die Entwicklung eines konsensorientierten Modells für sozialen Frieden zu bilden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein systematisches Vorgehen bei der Analyse und Bewertung des sozialen Friedens erforderlich ist. Eine klare Definition der zu berücksichtigenden Indikatoren ermöglicht es, Fortschritte gezielt zu messen und Handlungsempfehlungen zu formulieren, die auf evidenzbasierten Daten beruhen. Der erste Analyseschritt hat die Komplexität der Herausforderungen im Bereich sozialen Friedens aufgezeigt. Um eine tragfähige Entscheidungsgrundlage für Politiker:innen zu schaffen, sind weitere Schritte nötig, unter anderem die Validierung und Priorisierung der Indikatoren. Mit Hilfe zusätzlicher Datenanalysen und Delphi-Befragungen (ein systematisches, mehrstufiges Befragungsverfahren mit Rückkopplung) können präzise Ansätze für die politische Entscheidungsfindung entwickelt werden, um langfristige Strategien zur Förderung des sozialen Friedens zu etablieren.
Wie weiter? Standardisierte Instrumente entwickeln
Das Modell bietet politischen Entscheidungsträger:innen sowie Fach- und Führungskräften die Möglichkeit, Maßnahmen einer gründlichen und methodischen Überprüfung der potenziellen Auswirkungen auf den sozialen Frieden zu unterziehen.
Um dies zu erreichen, sollten standardisierte Instrumente entwickelt werden, die als strukturierte Leitfäden fungieren. Diese Werkzeuge können dabei helfen, sicherzustellen, dass die relevanten Indikatoren für sozialen Frieden – wie Gerechtigkeit, Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe – in jede Phase des Entscheidungsprozesses einfließen.
Eine Evaluierung der Auswirkungen auf den sozialen Frieden könnte spezifische Fragen enthalten wie beispielsweise: "Wie wird sich diese Maßnahme auf marginalisierte Gruppen auswirken?" oder "Gibt es Risiken der Ungleichheit, die in dieser Entscheidung nicht ausreichend berücksichtigt werden?". Solche Fragen sind bei der Entwicklung geeigneter Instrumente äußerst sinnvoll, da sie als Ausgangspunkt für eine tiefere Auseinandersetzung mit den potenziellen sozialen Auswirkungen dienen. Im nächsten Schritt sollten daraus konkrete Wirkungen und Kennzahlen abgeleitet werden, um die Messbarkeit und Überprüfbarkeit der Effekte auf den sozialen Frieden zu gewährleisten.
Ein wichtiges Ziel: bessere politische Entscheidungen
Die kontinuierliche Integration und Überprüfung der Bewertungsdimensionen fördert nicht nur die Verantwortung gegenüber betroffenen Bevölkerungsgruppen, sondern verbessert auch die Qualität und Akzeptanz politischer Entscheidungen insgesamt. Indem Entscheidungen in einem klaren Prozess der Evaluierung verankert werden, können Maßnahmen innerhalb ihrer sozialen Kontextualisierung besser verstanden und entsprechend angepasst werden, um den sozialen Frieden nachhaltig zu stärken.
1. U.a. Putnam, R. D.: Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community. New York, 2000 sowie Wilkinson, R.; Pickett, K.: The Spirit Level: Why Equality is Better for Everyone. London, 2009.
2. Stadt Köln: Leitlinien für ein soziales Köln. 2020; online verfügbar unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc9-25-koeln
3. Brie, M.: Sozialer Frieden. In: Gießmann, H. J.; Rinke, B. (Hrsg.): Handbuch Frieden. Wiesbaden, 2. akt. u. erw. Aufl. 2019, S. 675-683.
4. Eichenhofer, E.: Sozialer Friede. In: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft, Band 2/1995, S. 244-254.
5. Hellmann, T.; Schmidt, P.; Heller, S. M.: Soziale Gerechtigkeit in der EU und OECD. Index Report 2019. Gütersloh, 2019, Kurzlink: https://tinyurl.com/nc9-25-bertelsmann0
6. Die Bundesregierung: Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie Weiterentwicklung 2021, Download unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc10-25-dns
7. Bertelsmann-Stiftung: Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2023. Perspektiven auf das Miteinander in herausfordernden Zeiten. 2024. Download unter Kurzlink: https://tinyurl.com/nc25-9-bertelsmann2