Sich erinnern heißt leben
Der Zollstock aus der Werkstatt des verstorbenen Ehemanns, alte Familienfotos, Lavendelduft aus dem Döschen, das immer im Kleiderschrank hing, der alte Wohnungsschlüssel, der so vertraut in der Hand liegt - das sind Gegenstände, die Erinnerungen wachrufen und Gefühle wecken, auch wenn die Dinge selbst dem Gedächtnis nicht mehr bewusst sind. Es sind Gegenstände aus der "Erinnerungskiste" einer Bewohnerin des Alten- und Pflegeheims Haus Simeon in Lübeck. Betreuerin Adele Haase, die für Bewohner mit erheblichem Betreuungsbedarf zuständig ist, hat für jeden ihrer Schützlinge ein solches Kästchen angelegt. Gemeinsam mit den Angehörigen sucht sie Dinge aus, die den alten Menschen aus ihrer Lebensgeschichte vertraut sind, die eine besondere Bedeutung für sie gehabt oder sie jahrelang im Alltag begleitet haben.
Die persönliche Erinnerungskiste hat eine wichtige Funktion in der täglichen Arbeit mit den meist dementiell erkrankten Menschen. Die vertrauten Gegenstände sprechen das Gedächtnis an und helfen, Erfahrungen aus der Vergangenheit wieder zu beleben. "Wenn ich einem Bewohner seine Kiste auf den Schoß stelle, ist das wie ein Geschenk, das er immer wieder neu auspacken kann", sagt Adele Haase. "Die frühere Chefredakteurin unserer Heimzeitung erkennt dabei sogar ihre Artikel wieder, obwohl sie inzwischen stark verwirrt ist." Die Gegenstände aus der Erinnerungskiste bewirken freudige Momente im Lebensalltag der Menschen, sie wirken aber auch beruhigend und werden zum Beispiel bei Unruhezuständen auch vom Nachtdienst eingesetzt.
Erinnerungspflege - ein Schlüssel zu mehr Lebensqualität
Die Gefühlswelt bleibt bei Menschen mit Demenz unbeeinträchtigt, häufig macht der Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit sie sogar sensibler für Gefühlsschwingungen. "Deshalb ist es wichtig, diesen Menschen ein ganz normales Gefühlsleben zu ermöglichen", erklärt Adele Haase. "Sie sollen Freude, Wut, Trauer, Zufriedenheit empfinden und zeigen können und dabei einfühlsam begleitet werden." Eine Möglichkeit dazu ist Erinnerungspflege, eine Arbeits- und Kommunikationsweise, die mit dem "Schatz der Erfahrungen" aus dem Leben eines Menschen arbeitet. Dabei werden die Menschen gezielt mit ihren Erinnerungen in Kontakt gebracht, längst verschüttet geglaubte Gefühle, Erlebnisse und Kenntnisse werden vergegenwärtigt. "Sich erinnern heißt leben", sagt Betreuerin Adele Haase. Im Vordergrund stehen hier nicht die Defizite, sondern das, was der Mensch noch kann. Die Erinnerung an das, worauf man einmal stolz war, was man geschafft hat, was einem wichtig war, ist Orientierungshilfe im Hier und Jetzt und stärkt das Gefühl für die eigene Identität.
Je mehr Sinne angesprochen werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Erinnerungen geweckt werden. Die Betreuerin arbeitet vor allem mit Ritualen, Bildern, Geschichten, Musik und kreativen Beschäftigungen wie Basteln und Handarbeiten. Dabei orientiert sie sich an den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Bewohner und versucht, möglichst viel über deren Lebensgeschichte zu erfahren. So entstand auch der "Tanztee im Schlosscafé", der durch die Jugenderinnerungen einer Bewohnerin angeregt wurde und jetzt regelmäßig im Wohnbereich für Menschen mit Demenz stattfindet. Bewohner und Pflegekräfte tanzen gemeinsam zu Schlagern aus den 40er und 50er Jahren, mit erstaunlichem Effekt: "Tanzbewegungen aus der Vergangenheit werden erinnert und selbst Parkinson-Erkrankte mit Trippelschritt können nach kurzer Zeit fließende Bewegungen tanzen", berichtet Adele Haase. "Eine Teilnehmerin fand es 'schön wie im Theater'."
Gesetzlicher Leistungsanspruch macht zusätzliche Betreuung möglich
"Menschen, die unter Gedächtnis- und Orientierungsstörungen leiden, brauchen besondere Pflege und Aufmerksamkeit", sagt Pflegedienstleiterin Karin Östreich, "dabei sollen sie aber so normal wie möglich leben, tätig sein und in Respekt altern können." Seit vier Jahren gibt es im Haus Simeon einen speziellen Wohnbereich für Menschen mit Demenz, in dem 15 Personen mit starker Verwirrtheit ihr Zuhause haben. Die Arbeit von Betreuerin Adele Haase wäre jedoch nicht möglich ohne den zusätzlichen Leistungsanspruch, den Versicherte mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz seit dem 01.07.2008 geltend machen können. Der tatsächliche Hilfe- und Betreuungsbedarf von Menschen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen wurde bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit häufig nicht berücksichtigt. Jetzt haben Bewohner einer Pflegeeinrichtung Anspruch auf Vereinbarung leistungsgerechter Zuschläge zur Pflegevergütung, wenn auf Dauer ein erheblicher Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung besteht (§ 45b SGB XI) und die Einrichtung ein zusätzliches, über das normale Betreuungsangebot hinausgehendes Angebot der Betreuung und Aktivierung vorhält (§ 87b Abs. 1 Satz 3 SGB XI). Maßgeblich für die Gewährung der zusätzlichen Leistungen sind nicht bestimmte Krankheitsbilder, sondern der tatsächliche Hilfebedarf des Versicherten, der anhand von 13 Kriterien (z.B. "Verkennen und Verursachen gefährdender Situationen", "Unfähigkeit, eigenständig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren") festgestellt wird.
Alle Alten- und Pflegeheime der Caritas in Schleswig-Holstein bieten mittlerweile diese zusätzliche Betreuung an. Adele Haase hat dafür eine spezielle Ausbildung zur "Zusätzlichen Betreuungskraft" absolviert und ist jetzt zuständig für 30 der 106 Bewohner des Hauses. Da sie seit 15 Jahren als Pflegekraft im Haus Simeon arbeitet und den Demenzbereich mit aufgebaut hat, kennt sie die meisten von ihnen schon lange, eine gute Voraussetzung für die personenzentrierte und biografieorientierte Arbeit, die auf Grundsätzen des Sozialpsychologen Tom Kitwood basiert. Ihre Stelle wird vollständig durch den neuen Vergütungsanspruch finanziert und ermöglicht eine Arbeit, für die vorher im Pflegealltag keine Zeit war. "Zu Pflege und sozialem Dienst kommt mit der sensiblen Betreuung von Frau Haase eine weitere Facette hinzu, die jetzt auch stärker bei der Pflegeplanung Berücksichtigung findet", meint Heimleiterin Lioba Mitter.
Kontakt:
Caritashaus Simeon - Alten- und Pflegeheim
Hartengrube 2-4, 23552 Lübeck
Telefon: 0451 79923-0
info@haus-simeon.de
www.haus-simeon.de