Ein Haus voller Leben
Alles cool in Borken.Christian Scharf
Noch herrscht verschlafene Ruhe im mit Bäumen und einem großen Garten gesäumten Haus hinter dem dörflich anmutenden Lattenzaun, doch jetzt, zum Mittag hin, zieht langsam Leben ein. Hauswirtschafterin Susanne ist schon da und klappert in der Küche mit Töpfen und Pfannen, denn pünktlich um 13 Uhr soll die ganze Hausgemeinschaft essen. Erzieherin Daniela kommt gerade herein, fährt rasch den PC im kleinen Mitarbeiterbüro hoch, um die E-Mails zu checken. Mit der Einrichtungszentrale in Fritzlar gut vernetzt, läuft die Kommunikation in vielen Teilen über die elektronischen Kanäle. Auch Jahrespraktikant Jonathan und Rebecca als weitere Erzieherin sind mittlerweile eingetroffen, damit ist das Team für heute Mittag komplett.
Und da kommen auch die ersten Hausbewohner: Theresa*) und Miriam sind gerade eingeschult worden. Stolz wie Oskar platzen sie mit ihren Neuigkeiten in den Gemeinschaftraum: Malen mussten sie heute, und außerdem haben sie zum Rechnen Spielgeld erhalten – Münzen und Scheine, die bis zum morgigen Schultag aus einer vorgestanzten Schablone herausgelöst werden sollen. Bis zum Essen ist noch etwas Zeit, daher gehen die beiden Mädchen schnell noch einmal in den Garten zur Schaukel – im Schlepptau den vierjährigen Benny, derzeit der Jüngste in der Wohngemeinschaft, der als Einziger noch den örtlichen Kindergarten besucht.
Wie in einer Großfamilie
Von vier bis 16 Jahren alt sind die Bewohner dieser Außenwohngruppe, die – so ist das Konzept – weitgehend geschwisterlich zusammen leben. Jedes Kind beziehungsweise jeder Jugendliche hat ein eigenes Zimmer, die jüngeren teilen sich auch schon einmal eines zu zweit. Die Bäder werden gemeinsam genutzt, Küche, Essraum und einige Zimmer bieten ebenfalls Möglichkeit zur Gemeinschaft. Festen Rahmen im Tageslauf bietet werktäglich das gemeinsame Mittagessen der Kinder und der im Dienst befindlichen Erzieher, Aufstehen und Frühstück verteilen sich morgens immer über eine längere Zeitspanne, denn die Kinder besuchen unterschiedliche Schulen und die Fahrschüler müssen früher heraus als beispielsweise die beiden ABC-Schützen und das Kindergartenkind, die etwas länger schlafen können. Um acht Uhr aber haben alle das Haus verlassen.
"Es ist eben wie in einer richtigen Familie", erläutert Ulla Mex, Bereichsleiterin Außenwohngruppen der Kinder- und Jugendhilfe Haus Carl Sonnenschein. "Jeder macht sein eigenes Programm, aber wir haben auch feste Termine wie das Mittagessen, wo wir alle – so weit möglich –zusammenkommen. Nachmittags geht dann jeder wieder seiner Wege".
Nachmittags eigenes Programm - jeder wie er oder sie will
Der Garten in Borken macht den Kindern
viel Spaß.Christian Scharf
Das bedeutet für die Schülerinnen und Schüler zunächst Hausaufgaben machen – wenn nötig unter Betreuung. Für die Freizeit gibt es Angebote wie der gemeinsame Gang auf den Spielplatz oder ins Schwimmbad, vielleicht eine Fahrradtour. Einige der sechs Jungen und zwei Mädchen haben sich auch dem örtlichen Sportverein oder sogar der Freiwilligen Feuerwehr des 850 Einwohner-Ortes angeschlossen. "Vereinssport wie Fußball oder Tischtennis ist auch kein finanzielles Problem. Mit dem Erlernen eines Musikinstruments hingegen sieht es mittlerweile aber leider eher schlecht aus, denn die Jugendämter zahlen nicht mehr die Gebühren der Musikschulen. Und aus unserem Etat heraus – oder von den Eltern der Kinder – ist das aber leider nicht finanzierbar", erklärt Ulla Mex.
Die Eltern, erläutert Bereichsleiterin Mex weiter, stünden zu ihren Kindern in der Außenwohngruppe sowie zu den pädagogischen Mitarbeitern im regelmäßigen Kontakt. Sie behielten ja auch schließlich fast immer die so genannte Personensorge, wenn ihre Kinder in der Außenwohngruppe leben. Dementsprechend legt das Team in Borken-Gombeth großen Wert darauf, sie auch in die Erziehungsarbeit einzubinden; es gibt wechselseitige Besuche, Sommerferienaufenthalte im Elternhaus – alles in Absprache zwischen Eltern, Kindern, Einrichtung und Jugendamt. "Viele Menschen haben eine ganz falsche Vorstellung von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe", betont Einrichtungsleiter Dieter Kumpe. Ambulante wie stationäre Hilfe – also die Heime und Wohngruppen – sind keine Disziplinierungsinstitute sondern Angebote an Familien, die in Erziehungsfragen Schwierigkeiten haben und Hilfe suchen. Geeignete Maßnahmen werden dann von Eltern, Jugendamt und einer entsprechenden Einrichtung gemeinschaftlich erörtert und beschlossen. Die so genannte Inobhutnahme, also die sofortige Herausnahme von Kindern aus ihren Familien, ist die absolute Ausnahme und erfolgt nur dann, wenn akute Gefahr für das leibliche und seelische Wohl der Kinder besteht".
Auftakt vor zehn Jahren
Außenwohngruppen können echte Familien natürlich nicht ersetzen, aber sie können den Kindern und Jugendlichen Ruheraum und Geborgenheit bieten, ihnen Entfaltungsmöglichkeiten aufzeigen, ein Stück Normalität schaffen, die im Elternhaus – aus welchen Gründen auch immer – auf Zeit oder womöglich sogar permanent nicht zu haben ist. Möglichst viel Familienatmosphäre - das Konzept entstand, als fünf Geschwister gleichzeitig in Obhut genommen werden mussten und unmittelbar eine geeignete Wohnform für alle gemeinschaftlich gefunden werden musste. Kurzerhand mietete man das Haus in Gombeth an, und Ulla Mex zog mit den Kindern ein – die erste Außenwohngruppe der Kinder- und Jugendhilfe Haus Carl Sonnenschein war geboren. Exakt zehn Jahre ist das jetzt her, Ulla Mex wohnt nicht mehr mit Haus, aber der damals jüngste der Geschwisterkinder ist noch da und als 16-jähriger mittlerweile der Älteste in der Wohngruppe. Seine älteren leiblichen Geschwister leben längst in eigenen Wohnungen – irgendwo in Nordhessen und darüber hinaus verstreut. Die Idee der Außenwohngruppe aber existiert weiter; das Haus in Borken-Gombeth hat seitdem schon vielen weiteren Kindern Rückhalt und Schutz gegeben.
*) alle Namen der Kinder und Jugendlichen geändert