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Sozialcourage Selbsterfahrung

Schweigen als Auszeit: Wie Exerzitien Ruhe und Klarheit schenken

Viele suchen inmitten eines dichten Arbeitsalltags nach Ruhe. Unsere Kollegin hat vier Tage Schweigen auf dem Benediktushof erlebt – eine Auszeit, für die Caritas-Mitarbeitende Sonderurlaub erhalten können. Hier berichtet sie von ihren Erfahrungen.

Eine Illustration zeigt eine Frau mit langen blonden Haaren und orangem Mantel, die mit geschlossenen Augen auf einer Holzbank in einem Klostergarten sitzt. @ Thomke Meyer

Sonntagmittag

Ich bin nicht fit. Und freue mich gleichzeitig auf vier Tage Schweigen. Meinen Posteingang habe ich auf 200 Mails runtersortiert, eine volle To-do-Liste, zu viel Arbeit und Veränderungen habe ich im Gepäck. Im Bus treffe ich auf andere, die offenbar das gleiche Ziel haben, viele Mittfünfziger wie ich. Man kennt sich, ich schnappe Gesprächsfetzen auf: "Sesshin", "Familienaufstellung", "das innere Kind rausgelassen".

Irgendwie wäre es mir lieber, sie wären auch jede:r für sich unterwegs. Eine alleinreisende Frau spricht mich an: ob ich schon mal auf dem Benediktushof gewesen sei? Das sei ja schon eine Herausforderung mit dem Schweigen. Wir gehen über eine kleine Brücke an einem barocken Kirchenrundbau vorbei.

Ich checke ein. Ein Flyer erzählt mir etwas über die Hausregeln und den Sinn der Stille auf dem Areal. Hausgäste verpflichten sich, eine Stunde am Tag mitzuarbeiten – beim Abräumen, in der Spülküche, in Gärtnerei oder Nähstube: "Durch die Meditation entsteht in uns eine Bewusstheit, die während der Arbeit als absichtsloses Tun zum Ausdruck kommen kann." Ich bin gespannt.

Ich mag mein kleines Einzelzimmer mit der Dachschräge, an der ich mir dann und wann den Kopf stoßen werde. Das Bett beziehe ich selbst. Meine Siebensachen sind schnell verstaut, mein Hiersein erscheint mir übersichtlich. Das tut gut. Ich schaue mich auf dem Gelände des ehemaligen Klosters um, das jetzt ein "überkonfessionelles Zentrum für Achtsamkeit und Meditation" ist: Herbstlaub unter alten Bäumen, Kunst am Wasser, ein Labyrinth auf dem Rasen. Begegne ich Menschen, lächeln manche zurück, nicht wenige schauen beiseite. Ich finde heraus, dass es hier zum guten Ton gehört, andere nicht mit Blicken zu bedrängen. Auch grellbunte Kleidung ist unerwünscht.

Zeit fürs Abendessen, gleich sehe ich meine Gruppe. Im Speisesaal ist für vier Kurse gedeckt. Etwa 50 Menschen stehen still vor ihren Plätzen.

Ein Mitarbeiter begrüßt uns und erklärt das Essensritual: Hinter dem Stuhl warten, bis ein Glöckchen klingelt. Eine Verneigung, dann setzt man sich. Jede Tischgemeinschaft reicht sich die Schüsseln, bis alle versorgt sind. Erneutes Verneigen – erst dann wird gegessen. Ich werfe verstohlene Blicke auf meine Gruppe. Mit mir haben sich vier Frauen und drei Männer angemeldet für "Innehalten im Alltag". Der Kursleiter isst mit uns. Spinatsuppe, Couscoussalat mit Zucchini und Rote-Bete-Pesto finden mit angestrengtem Lächeln und stumm gehauchtem Dank ihren Weg auf die Teller, dazu gibt es Brot und Butter. Auf Letztere verzichte ich, da sie weit weg steht und ich es nicht wage, mit Gesten auf mich aufmerksam zu machen. Besteck klappert, die Gruppen essen, den Blick gesenkt. Es ist ungewohnt, so eng zusammenzusitzen und kein Gespräch zu führen. Mein Herz schlägt schneller, da ist ein Unbehagen, zugleich genieße ich das Essen.

Wie meine Tischnachbarin habe ich mich für einen Dienst nach dem Abendessen eingetragen. Wir bleiben sitzen, bis wir abgeholt werden. Schweigend und ohne Beschäftigung nebeneinander zu warten, fühlt sich beklemmend an. Normalerweise würde ich so eine Situation sofort verändern: aufs Handy schauen oder mich schnell verabschieden. Wenn ich nichts weiter beitragen kann, muss ich gehen. Denken andere auch so? Was spricht eigentlich dagegen, dass ich einfach hier bin?

Eine ältere Frau aus einem anderen Kurs und ich warten neben der Industriespülmaschine auf Geschirr zum Abtrocknen. Gut zehn Minuten vergehen, schließlich spreche ich sie gegen die Regel an und frage sie, wofür sie angemeldet ist. "Haikus", sagt sie kurz und lächelt. Einige Zeit später stellt sie sich mir mit Vornamen vor. So viel Austausch muss sein. Schließlich rackern Maria* und ich eine Stunde lang gemeinsam, auch an den nächsten Abenden. Die Bestecke, Teller und Schüsseln nehmen kein Ende. Mir fällt auf, dass ich mir unter den Aufgaben wieder mal eine ausgesucht habe, bei der ich schon vorher weiß, was zu tun ist und bei der ich nichts falsch machen werde. Warum nicht Gartenarbeit oder Nähen?

Ich werfe Schürze und Haube ab und eile zum Gruppengespräch. Unser Kursleiter ist 1948 geboren, hat seit den 1970er-Jahren unter anderem als körperorientierter Psychotherapeut gearbeitet und sich dann der Meditation zugewandt. Wir bringen unsere Themen ein. Es geht um den "Wunsch, aus dem Denken rauszukommen", um Schlaflosigkeit durch kreisende Gedanken, Unruhe, den Umgang mit körperlichem Schmerz, ums Helfersyndrom oder um fragilen Selbstwert. George geht auf alle einzeln ein und gibt letztlich den Rat, "in die Stille zu gehen", "zu schauen, was man sich selbst schuldig ist".

Montagmorgen

Zum Frühstück gibt es warmen Milchreis mit Pfirsichen. Ich fühle mich nach wie vor unbehaglich, stehe aber nicht auf, weil ich mehr Kaffee brauche. Neben mir bleibt Bernhard* sitzen, dem es offenbar ähnlich geht. Es fühlt sich für eine Weile an, als seien wir ein altes Ehepaar. Ich schenke ihm auch ein, wir lächeln.

Kursleiter George will nachholen, was uns in der Schule nicht über Wahrnehmung vermittelt worden sei. Im westlichen Kulturkreis werde ein Denken in Konzentration und stetes Sich-Beschäftigen honoriert. Schaue ein Kind Löcher in die Luft, heiße es schon im Kindergarten: "Schau mal, Anna hat ein schönes Feuerwehrauto. Willst du nicht mit ihr spielen?" Das konzentrierte Denken bringe Hochleistungen hervor, erzeuge aber auch Stress, der Körper bleibe außen vor. Er will uns zu einer erweiterten Wahrnehmung führen, die den Blick weitet, die Sinne einbezieht. So lasse sich fruchtloses oder toxisches Denken unterbrechen.

Wir "parken" also unseren Blick in einem kleinen Bildausschnitt und nehmen zugleich wahr, dass wir unscharf nach beiden Seiten alles erfassen können. Zugleich lauschen wir den Geräuschen oder der Stille und achten auf den eigenen Atem. So instruiert, werden wir auf einen 30-minütigen Spaziergang geschickt.

Ich streife bedächtig durch das parkartige Gelände, denn ich merke, dass ein schnellerer Schritt diese Art von Wahrnehmung ausschließt. Bestaune das bunte Laub, kleine rosa Blüten am Strauch und das glitzernde sternförmige Moos in den Pflasterritzen. Als wir zurückkommen, kündigt George launig an, dass es ab jetzt keine Pause mehr gebe: Denn Wahrnehmung habe niemals Pause.

Eine Illustration zeigt fünf Menschen - drei Frauen und zwei Männer - die schweigend beim Essen um einen Tisch sitzen.

Das Essen im Schweigen bleibt herausfordernd und zugleich angenehm, weil ich mich in aller Ruhe mit den Speisen beschäftigen kann. Ich empfinde Dankbarkeit, etwas so Gutes zu bekommen wie Kräuterpolenta mit Käse. Permanent nehme ich aber auch eine antreibende Kraft in mir wahr, die zwar nicht sagt, was ich tun soll, aber sozusagen im Leerlauf auf Tempo und Effizienz drängt. Und überhaupt: Ist es okay, hier einfach nur für sich selbst da zu sein?

Dann sitzen wir wieder vor George: "Was brauchen wir für ein erfülltes Leben?" Er schreibt auf: "1. Ich muss mich kennen! 2. Ich muss mich mögen!" Ohne eine freundliche Haltung sich selbst gegenüber gehe es nicht. Sich so annehmen, wie man sich ­vorfindet, mit allen Licht- und Schattenseiten. Drittens nennt er Eigenverantwortung. So ausgesprochen klingen diese Dinge sehr einfach.

Wir experimentieren mit der "breiten Aufmerksamkeit" und einem "weichen Blick", den er uns anhand einer Übung im Fokussieren nahebringt. Setze Denken ein, sollen wir dies nicht bewerten, sondern neutral registrieren – wie ein Schiedsrichter beim Tennis, den die Gemütsverfassung der Spielenden nicht interessiert. Und wir sollen, während er spricht, weniger auf ihn als auf unseren Atem achten. Was wichtig sei, werde uns auch bei mittlerer Konzentration erreichen.

Abends bin ich müde, der Tag war lang. Das mit der mittleren Konzen­tration funktioniert bei mir nicht so gut, Zuhören strengt mich an. Immer wieder verspüre ich ein inneres Aufbäumen bei den Mahlzeiten, möchte einen Witz reißen, schaue verlegen auf meinen Teller oder zu den Nachbartischen. Dass dort ein paar Leute flüstern und Lachkrämpfe unterdrücken, empfinde ich dennoch als störend. Heute bin ich aber schon lockerer beim Essen, ich würde jetzt nicht mehr auf die Butter verzichten.

Dienstag

Als ich zum Frühstück komme und alle vor ihren Plätzen stehen, fühle ich mich wieder unwohl, denke an ein Tribunal. Woher ich das wohl habe?

Von unserer Gruppe bleiben vier länger sitzen. Gegen den Fluchtimpuls versuche ich das gestern Gelernte anzuwenden, den Blick zu weiten, auf Geräusche, Körper und Atem zu achten. Und tatsächlich: Die verunsichernden Gedanken lassen nach; ich kann es genießen, einfach hier zu sein - in Gesellschaft, aber zu rein gar nichts verpflichtet. Konversation machen heißt ja auch immer abliefern. Es wird acht Uhr und ich merke, dass ich eine Viertelstunde einfach mit den anderen dagesessen bin.

George spricht über Gedankenkonstrukte, die sich auflösen können, wenn der Körper entspannt. Wir üben seine Variante progressiver Muskelentspannung, angeleitet und allein. Es soll angenehm sein, Spaß machen. Ziel sei es, sich im eigenen Körper, bei sich zu Hause zu fühlen. Mit diesem wohligen Gefühl werden wir wieder auf einen Spaziergang geschickt.

Abends freue ich mich, Maria wieder in der Spülküche zu sehen. Es wäre netter, einige Worte zu wechseln. In einem solchen Moment kommt mir das Schweigen absurd vor, in anderen fühle ich mich darin aufgehoben.

Mittwoch

Mein letzter Tag. Ich wache um 5.30 Uhr kurz vor dem Wecker auf. Und gehe zur begleiteten Meditation der Hausgruppe. Ein Plexiglas-Schild kündet von einer etablierten Praxis: "6.15–6.45 Sitzen, 6.45–6.55 Gehen, 6.55–7.25 Sitzen". An manchen Plätzen liegen Namensschilder. Ich sitze im Fersensitz auf einem hohen Kissen, das sollte bequem genug sein, um eine halbe Stunde durchzuhalten. Die Anleiterin liest die Regel vor, alle richten sich ein. Ich versuche den "panoramischen Blick" hinter geschlossenen Lidern, lausche auf Geräusche, spüre in meinen Körper und achte auf meinen Atem, der leicht ins Stocken gerät, sobald ich ihn beobachte. Irgendwann kräht ein Hahn. Noch mal. Und noch mal. Es ist früh am Morgen, ich denke nicht viel, die Zeit ist überraschend schnell vorbei. Langsames Gehen im Kreis, und wieder sitzen. Wir rezitieren einen Text der Dichterin Karoline von Günderrode, der eine Vision von Einssein ­beschreibt.

Beim Frühstück fühle ich mich diesmal ruhig und gesammelt, da ist keine Beklommenheit, kein Aufbäumen. Ich ziehe ohne Hektik das Bett ab, räume mein Zimmer und begebe mich ein letztes Mal in den Kursraum zu den anderen Teilnehmer:innen.

Ich fühle mich entschleunigt und befreit. Seit drei Tagen habe ich keine Nachrichten geschrieben, den Rechner nicht angemacht. Doch spätestens zu Hause werde ich beides wieder tun. Und mich konzentrieren, reagieren, checken, leisten, liefern.

Ich denke, ich werde aber auch weiterexperimentieren mit dem "Handwerkszeug, um aus dem Denken auszusteigen", das George uns vermitteln wollte. Und Stille in Gemeinschaft zu erleben, fasziniert mich nach wie vor. Als am Abreisetag nach dem Mittagessen das Schweigen im Speisesaal aufgehoben wird, finde ich es fast ein bisschen schade, wie schnell sich der Raum mit Stimmengewirr und Geschichten füllt.


Der Benediktushof 

Der Benediktushof in Holzkirchen bei Würzburg ist ein Zentrum für Meditation und Achtsamkeit und wurde gegründet von Willigis Jäger (1925–2020). Er war Benediktinermönch in Münsterschwarzach und Zen-Meister. Seine Vision war es laut der Stiftung, die den Benediktushof trägt, die östlichen Weisheitstraditionen zusammen mit denen der christlichen Kontemplation zu erfahren und zusammenzuführen.

Infos: www.benediktushof-holzkirchen.de und www.west-oestliche-weisheit.de

Autor/in:

  • Ingrid Jehne
Zuletzt geändert am:
  • 01.12.2025
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