Raum der Stille: Anselm Grün über Spiritualität, innere Kraft und Hoffnung
@ Abtei Münsterschwarzach/Julia Martin
Punkt fünf Uhr in der Früh, ein heller Glockenschlag. Es ist dunkel und herbstlich kühl. Die Mönche der Benediktinerabtei Münsterschwarzach kommen zur Morgenhore in ihrer mächtigen Klosterkirche zusammen, um Gott zu begegnen und ihn zu preisen. Auch halten sie betend Wache über die Menschen, damit diese nicht von inneren Feinden überfallen werden und in Frieden ihren Tag beginnen können. Wie tröstlich das ist für alle, die noch in ihren Betten ruhen! Insgesamt fünfmal unterbrechen die Mönche das, was sie gerade tun – am Morgen den Schlaf, während des Tages die Arbeit –, um sich zum Gebet oder zur Eucharistiefeier in der Abteikirche zu versammeln.
Einer von ihnen ist Anselm Grün. Er ist nicht nur einer der bekanntesten Benediktiner, er ist auch einer der erfolgreichsten Buchautoren unserer Zeit. 20 Millionen seiner Bücher wurden verkauft, übersetzt in über 30 Sprachen. Esther Baron von der Sozialcourage hat ihn in Münsterschwarzach besucht und mit ihm über die Sehnsucht nach Spiritualität gesprochen.
Was bedeutet Spiritualität für Sie?
Anselm Grün: Spiritualität bedeutet für mich: offen zu sein für das Geheimnis Gottes, aber das heißt auch, offen zu sein für das Geheimnis des Menschen. Für mich als Christ hat natürlich Priorität, offen zu sein für den Geist Jesu, mich von seiner Liebe und Barmherzigkeit bestimmen und prägen zu lassen. Spiritualität kann auch grundsätzlicher verstanden werden als Offensein für das Geheimnis. Für uns ist das Gott. Aber man kann nur an Gott glauben, wenn man auch an den Menschen glaubt und in jedem Menschen Christus sieht, das heißt, dass wir den anderen nicht festlegen auf das, was wir wahrnehmen, sondern hinter die Fassade blicken – diese ist ja oft verschlossen oder undurchdringbar –, dass wir da die Sehnsucht nach dem Guten sehen. Darin zeigt sich die christliche Spiritualität.

Wie kann Spiritualität helfen, Probleme zu bewältigen?
Ich begleite viele Menschen, auch in schwierigen Lebenslagen. Für mich ist es wichtig, zu zeigen: In jedem Menschen ist ein heiliger Raum, wo die Welt keinen Zugang hat, ein Raum der Stille. Heilig ist das, was der Welt entzogen ist, wo die Welt keinen Zugang hat. Und in diesen heiligen Raum lasse ich die Probleme nicht rein. Emotional schon. Ich habe ja keinen Panzer um mich herum. Das ist eben die Kunst, sich einzulassen und zugleich in der Mitte zu bleiben.
Wichtig ist, an die eigenen Quellen zu kommen. Zu spüren, ich schöpfe aus einer tieferen Quelle, die nie versiegt, weil sie göttlich ist. Für diejenigen, die ich begleite, die in Not sind – da darf Spiritualität nicht so ein frommes Pflaster sein, das ich nur drüberklebe, sondern wichtig ist, dass die Menschen einen Sinn sehen. Gut, in der Krankheit kann man noch nicht unbedingt einen Sinn sehen, aber man kann der Krankheit einen Sinn geben. Das Schicksal kann uns vieles nehmen, die Gesundheit und liebe Menschen, aber eins kann es uns nicht nehmen: die Freiheit, darauf zu reagieren und dem einen Sinn abzuringen. Dann können wir anders damit umgehen. Darin unterstütze ich die Menschen.
Wie finden Menschen ihren inneren Raum?
In die Stille gehen, Meditation kann eine Hilfe sein. Mir hilft oft schon die Vorstellung von meinem inneren Raum. Ich war lange Cellerar, also für die wirtschaftlichen Belange des Klosters zuständig. Da habe ich Sitzungen gehalten mit Handwerkern und die waren oft stürmisch. In solchen Situationen war es für mich wichtig, mich auf die Situation, auf die Menschen einzulassen, auch emotional – aber mitten im Trubel relativierte die Vorstellung, dass dieser heilige Raum in mir ist, die Probleme. Das gab und gibt eine innere Freiheit mitten im Tun.
Viele Caritas-Mitarbeitende haben eine große innere Motivation, zu helfen, aber fühlen sich auch oft ausgebrannt. Wie können sie sich davor schützen?
Einmal ist es wichtig, eine Grenze zu akzeptieren. Ich bin nicht Gott, der aus dem Vollen schöpft, sondern ich muss auch meine Grenze wahrnehmen. Wichtig ist da Demut. Aber trotzdem: Auch wenn ich am Sonntag arbeiten soll, weil kein anderer da ist, kann ich mich zur Arbeit zwingen oder ich kann sagen: Gut, das passt mir jetzt zwar nicht, aber ich spüre da einen Anruf Gottes, den Menschen zu helfen. Ich versuche nach innen zu gehen und zu sagen: Da ist eine Quelle und aus dieser Quelle kann ich schöpfen.
Beim Abendmahl heißt es: Er nahm das Brot, segnete es, brach es und gab es seinen Jüngern. Nehmen und Geben müssen ein Gleichgewicht haben. Wenn wir nur nehmen, verschlucken wir uns. Wenn wir nur geben, verausgaben wir uns. Wir können nur geben, wenn wir immer wieder auch nehmen, nehmen in der Stille, nehmen aus der Liebe Gottes, die in uns ist, wenn wir uns Zeit nehmen, nach innen zu gehen. Es ist nicht unbedingt nur eine Frage der Zeit, sondern auch ein Sich-an-die-Arbeit-Hingeben.
Tragen die Menschen Spiritualität in sich?
Viele sagen, die Menschen glauben heute nicht mehr. Wenn das jemand behauptet, sage ich: Du glaubst nicht an den Menschen. Ich glaube, dass in jedem Menschen die Sehnsucht nach etwas Gutem ist, auch die Sehnsucht nach Geheimnis, die Sehnsucht nach Spiritualität und letztlich nach Gott. Auch wenn sie es nicht Gott nennen. Nur wenn ich an diese Sehnsucht glaube, kann ich angemessen mit den Menschen sprechen. Wenn ich die Menschen belehre und sage: "Du musst glauben", dann rede ich an ihnen vorbei.
Ist Spiritualität überkonfessionell und können Caritas-Einrichtungen daran anknüpfen in einer – auch religiös – vielfältiger werdenden Gesellschaft?
Auf der einen Seite ist Spiritualität überkonfessionell, aber natürlich ist sie christlich, wenn ich davon spreche, aus der Quelle des Heiligen Geistes zu leben und sich mit den biblischen Geschichten auseinanderzusetzen. Die klassische Caritasgeschichte ist die vom barmherzigen Samariter, der sich ganz auf den Menschen einlässt, von Mitleid angerührt. Aber er gibt auch weiter an die professionelle Stelle, an den Wirt. Das ist auch Hilfe, dass wir den bedürftigen Menschen nicht zeit unseres Lebens mit uns herumschleppen müssen, sondern spüren: Wir können ihm eine Zeit lang begegnen und ihn dann loslassen. Wenn wir die christlichen Bilder nehmen, dann geben uns diese viel. Natürlich soll die Caritas nach außen hin den Mut haben, diese christlichen Bilder darzustellen, aber nicht, um die Leute zu belehren, sondern im Vertrauen, dass diese Bilder auch die Sehnsucht der Nichtchristen und Nichtchristinnen ansprechen. Bilder vereinnahmen nicht, sondern Bilder wollen sich einbilden und die christlichen Bilder sind heilende Bilder.
Mit über 20 Millionen verkauften Büchern ist Anselm Grün überaus erfolgreich. Seine Schriften wurden in über 30 Sprachen übersetzt.@ Abtei Münsterschwarzach/Julia Martin
Mit Ihren Büchern sprechen Sie sehr viele Menschen an. Wann haben Sie angefangen zu schreiben, und nutzen Sie heute auch Künstliche Intelligenz dazu?
(winkt lächelnd ab) Nein, ich schreibe alles aus mir selbst heraus. Anregungen nehme ich aus Gesprächen und ich lese viel. Auch die Verlage haben Wünsche. (Anselm Grün veröffentlicht im klostereigenen Vier-Türme-Verlag und im Herder-Verlag). 1964 bin ich in den Orden eingetreten, 1968 war die Studentenrevolution. Da haben wir jungen Mönche auch gegen das Kloster rebelliert. Wir haben in der Zen-Meditation und der Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung eine Hilfe gefunden. 1976 sind daraus die ersten Kleinschriften entstanden.
Worauf führen Sie Ihren großen Erfolg zurück, was spricht die Menschen in Ihren Büchern an?
Als Erstes versuche ich eine einfache Sprache zu sprechen, die die Menschen verstehen. Zweitens möchte ich nicht belehren, sondern die Menschen mit der Weisheit ihrer eigenen Seele in Berührung bringen, und drittens schreibe ich nie gegen jemanden.
Sie sprechen von Engeln, die uns begleiten. Wie können Menschen in dieser unsicheren Zeit den Engel der Zuversicht finden?
Wenn ich sage: Der Engel der Zuversicht möge dich begleiten, dann ist das ein Bild für die Gnade, die von Gott kommt. Mir ist wichtig, zu zeigen, dass Gott durch etwas spricht und die Sehnsucht spürbar wird, dass der Himmel zur Erde kommt. Hoffnung ist nicht konkrete Erwartung. Diese kann enttäuscht werden, aber die absolute Hoffnung, die wird nicht enttäuscht. Solange wir Hoffende sind, haben wir eine andere Ausstrahlung in die Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die keinen Hoffnungshorizont hat, die kreist nur noch um sich selbst und die eigenen Bedürfnisse. Hoffnung ist Lebenskraft, notwendig für den Menschen. Dum spiro spero: Solange ich atme, hoffe ich.
Abtei Münsterschwarzach
Spirituell und zugleich der Welt zugewandt leben die Mönche im Kloster Münsterschwarzach gemäß der benediktinischen Ordensregel: Ora et labora, bete und arbeite. Zur Abtei gehören nicht nur ein Gymnasium, ein Gästehaus, das Recollectio-Haus (dieses bietet psychologische und spirituelle Begleitung besonders für Ordensleute und Priester an), sondern auch Handwerksbetriebe wie eine Klosterbäckerei, eine Metzgerei, eine Goldschmiede, der Vier-Türme-Verlag, eine Druckerei und ein Buchladen.