Jedes fünfte Kind in Baden-Württemberg lebt in Armut oder ist von Armut bedroht. Das sind etwa 385.000 Kinder und Jugendliche. Und was im Makrokosmos passiert, passiert auch im Mikrokosmos: Selbiger Wert gilt durchaus auch für Albstadt, sagt Manuela Mayer, Regionalleiterin bei der Caritas Schwarzwald-Alb-Donau.
Manuela Mayer, Regionalleiterin der Caritas, spricht über Kinderarmut. Foto: Olga Haug
Im Gespräch mit dem ZOLLERN-ALB-KURIER nennt Mayer die Gründe für Armut respektive Kinderarmut und sagt auch ganz klar, dass die erhobenen Zahlen nur begrenzt belastbar sind. Viele fallen durchs Statistikraster.
Denn von Armut sind auch Haushalte betroffen, die keine sogenannten Transferleistungen beziehen. Warum? Weil sie schlichtweg keine beantragen - aus Stolz oder aus Unwissenheit. Lässt man die Dunkelziffer außen vor, ist die Armutsrate seit 2012 um neun Prozent gestiegen.
Arm mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens
Doch wie definiert sich Armut? Allein in Zahlen ausgedrückt, orientiert sich die Definition am mittleren Einkommen. Das sind bei einem Singlehaushalt 900 Euro, bei einer alleinerziehenden Person mit einem Kind 1300 Euro und bei einer vierköpfigen Familie etwa 2300 Euro monatlich, inklusive aller Zuschüsse.
Stehen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung, gilt man als arm.
Risikofaktoren sind unter anderem Erwerbslosigkeit, Alleinerziehende und kinderreiche Familien. Kinder selbst gehören ebenfalls zu den Risikogruppen. Kinder und Jugendliche haben im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ein überproportional hohes Armutsrisiko.
Und der materielle Mangel führt zu anderen Problemen, die sich in der Bildung, im Sozialen, im Kulturellen aber auch in der Gesundheit niederschlagen, erklärt Manuela Mayer. Nachhilfeunterricht werde beispielsweise vom Staat nur dann bezuschusst, wenn das Kind versetzungsgefährdet ist.
Entfaltungsspielraum eines Kindes aus einem durchschnittlichen Haushalt (links), im Vergleich zu einem armen Kind, das in beengten Wohnverhältnissen aufwachsen muss. Foto: Caritas
Außerdem erklärt Mayer, seien die beengten Wohnverhältnisse oft ein Hindernis für konzentriertes Lernen. "Wo in nur einem Zimmer geschlafen, gebügelt und gespielt wird, bleibt kaum Raum zum Lernen." Geleichzeitig hindern die Wohnverhältnisse Kinder auch daran, sich richtig auszutoben.
Der dauernde Verzicht ist anstrengend und führt zu Stress. Auch die Kinder müssen dauerhaft entbehren. Ihre Entwicklungsmöglichkeiten sind beschränkt. An eine musische Förderung ist kaum zu denken. Daraus resultieren oft auch gesundheitliche Probleme.
Im Vergleich zu Gleichaltrigen ist die gesundheitliche Situation von armen Kindern deutlich schlechter, insbesondere was psychische Auffälligkeiten oder Übergewicht anbelangt. Es folgen ein geringes Selbstwertgefühl und ein gesellschaftliches Stigma. Arme Kinder durchlaufen erwiesenermaßen nicht alle Entwicklungsstufen, ergänzt Mayer.
Arme Kinder haben arme Eltern
Kinderarmut ist immer Elternarmut. Kinder werden in eine soziale oder wirtschaftliche Situation hineingeboren und können diese nicht aus eigener Kraft verändern. Und am Eigenwillen fehlt es definitiv nicht, will Mayer entgegen dem gängigen Vorurteil betonen.
Die meisten tun alles im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Viele können schlichtweg von ihrer Arbeit nicht leben. Arme Familien bemühen sich, ihre Situation nach außen hin so lange wie möglich geheim zu halten, doch die Fassade kann nicht lange aufrecht erhalten werden.
Teilhabe ist ohne Geld nicht möglich
Und, das weiß Mayer auch, wer lange in Armut lebt, wird verschlossen. Wie soll die gesellschaftliche Teilhabe ohne Geld funktionieren? Vereine, Freizeiten, Urlaube oder Kindergeburtstage kosten Geld. "Kindergeburtstage sind heutzutage ja fast schon ein Event", sagt Mayer. Wie kann eine arme Familie da mithalten?
Es muss sich etwas ändern - gesellschaftlich und politisch, betont Mayer. Der gesellschaftliche Blick auf arme Menschen ist herablassend. "Du bist faul", lautet oft der (unausgesprochene) Vorwurf.
Mayer nennt hierzu ein Beispiel einer Familie aus Albstadt: Die Frau bekam ein Kind. Leider ein Frühchen. Dieses musste in Tübingen auf die Frühchenstation. Doch die Eltern konnten sich tägliche Fahrten nach Tübingen nicht leisten.
Es sei ein Riesenaufwand gewesen, an unterstützende Gelder zu kommen, sagt Mayer. Doch das gesellschaftliche Stigma war schnell da: Eltern, die ihr Kind vernachlässigen. Dabei übersahen die Kritiker das blutende Mutterherz.
Vorurteile abbauen
Jeder einzelne kann etwas tun, sagt Mayer. Es geht darum, Mitmenschen auf Augenhöhe zu begegnen, Interesse am anderen haben, ins Gespräch kommen und Vorurteile abbauen.
Der vorurteilsbehafteten Frage "Warum bekommen arme Familien noch mehr Kinder?", entgegnet Mayer nüchtern: "Warum sollte man in einem der reichsten Länder nicht so viele Kinder bekommen, wie man will?"
Die Caritas stellt klare Forderungen an die Politik
Zuschlag und Bildung: Zur nachhaltigen Armutsprävention muss der Kinderzuschlag zu einer Kindergrundsicherung weiterentwickelt werden für alle Kinder und Jugendlichen bis 27 Jahre. Bürokratische Hürden müssen abgebaut werden. Bildungsbeteiligung und schulischer Erfolg, unabhängig von der sozialen Herkunft, sind Kernaufgabe einer verantwortlichen Bildungspolitik.
Wohnen: Gezielte Förderung von bezahlbarem, familiengerechten Wohnraum.
Gesundheit: Angebote zur Prävention und Gesundheitsförderung an Schulen. Gezielte Förderung von Vereinsmitgliedschaften, um jedem Kind die Teilhabe an Sport und Freizeitgestaltung zu ermöglichen.
Bildungsgerechtigkeit: Frühe Hilfe, um soziale Ungerechtigkeit von Beginn an zu verringern. Bedarfsgerechte Lernförderung als fester Bestandteil des Schulsystems ab der Grundschule.