Neu definierte Pflegebedürftigkeit bringt Systemwechsel
Seit die Pflegeversicherung im Jahr 1995 in Kraft getreten ist, stand die dort vertretene Auffassung von Pflegebedürftigkeit in der Kritik: Pflegebedürftigkeit wurde in erster Linie durch das Vorhandensein von körperlichen Beeinträchtigungen bestimmt. Demzufolge standen auch bei pflegerischer Unterstützung vor allem körperbezogene Verrichtungen im Vordergrund wie zum Beispiel Hilfe bei der Körperpflege oder bei der Nahrungsaufnahme. Den Bedarfslagen von Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen wurde dieses Verständnis nicht gerecht.
In der Folgezeit gab es wiederholt Bestrebungen, das Leistungsrecht der Pflegeversicherung insbesondere auch für demenziell erkrankte Pflegebedürftige zu verbessern. Dafür steht das sogenannte Pflege-Ergänzungsgesetz (2002), der Anspruch auf zusätzliche Betreuungsleistungen für Menschen mit Demenz (2008) sowie das Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (2013). Eine entscheidende Veränderung der Sicht auf Pflegebedürftigkeit und damit auch der Leistungen der Pflegeversicherung wurde damit nicht erreicht.
Mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz (PSG I) wurde im Januar 2015 eine grundlegende und umfassende Reform der Pflegeversicherung eingeleitet. Hier stand zunächst die Flexibilisierung und Ausweitung der Leistungen für Pflegebedürftige und für ihre Angehörigen im Vordergrund. Die zweite Stufe der Reform folgte im gleichen Jahr. Bereits im November 2015 wurde das Zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II) vom Bundestag verabschiedet.
Bei dieser Reform wurde ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff festgelegt und - damit verbunden - ein Neues Begutachtungsassessment (NBA) sowie die leistungsrechtliche Differenzierung zwischen fünf Pflegegraden anstatt der bisherigen drei Pflegestufen eingeführt. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, das NBA und das neue System der Pflegegrade sind ab dem 1. Januar 2017 verbindlich umzusetzen.
Was ist „neu” am neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff?
Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs wird oft als das Kernstück des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes bezeichnet, beziehungsweise als ein Paradigmenwechsel, der – so legt dieser Begriff nahe – zu einer neuen Sichtweise auf Pflegebedürftigkeit und einem umfassenderen Verständnis von (professioneller) Pflege auf gesellschaftlicher und sozialpolitischer Ebene beitragen soll.
Dementsprechend findet sich im Zweiten Pflegestärkungsgesetz in § 14 Abs. 1 SGB XI eine Neufassung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit, die sich grundlegend von der bisherigen Begriffsbestimmung unterscheidet. Während nach bisherigem Recht Personen dann pflegebedürftig sind, wenn sie wegen einer körperlichen oder geistigen Krankheit oder Behinderung für Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens Hilfe benötigen, lautet die neue Definition:
"Pflegebedürftig (…) sind Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten (…) aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbstständig kompensieren oder bewältigen können."
Entscheidend für das neue Verständnis von Pflegebedürftigkeit ist damit der Grad der Selbstständigkeit bei alltäglichen Aktivitäten. Oder - vereinfacht gesagt - je stärker die Selbstständigkeit beeinträchtigt ist, desto größer ist die Abhängigkeit von personeller Hilfe.
Die Selbstständigkeit betrifft sechs Bereiche
Für die Einschätzung des Grades der Selbstständigkeit sind folgende Bereiche relevant:
- Mobilität;
- kognitive und kommunikative Fähigkeiten;
- Verhaltensweisen und psychische Problemlagen;
- Selbstversorgung;
- Bewältigung von und Umgang mit krankheits- und therapiebezogenen Anforderungen;
- Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte.
Diese sechs Bereiche sind in den Modulen des Neuen Begutachtungsinstruments abgebildet, das den Grad der Pflegebedürftigkeit (Pflegegrad) ermittelt. Anders als im bisherigen Begutachtungssystem geht es nicht mehr darum, den Zeitaufwand für bestimmte Verrichtungen gemessen in Minuten zu erfassen und daraus die jeweilige Pflegestufe abzuleiten. Die zentrale Frage lautet jetzt: Was kann der betreffende Mensch? In welchem Maße ist er/sie in der Lage, die entsprechenden Aktivitäten selbstständig, das heißt ohne personelle Unterstützung, auszuführen?
Der Grad der Selbstständigkeit beziehungsweise die Abhängigkeit von personeller Hilfe wird dabei nicht nur für einzelne elementare Aktivitäten wie Körperpflege oder Essen und Trinken er-
fasst, sondern auch für jene Bereiche, die für eine Teilnahme am sozialen Leben oder den Umgang mit krankheits- und therapiebezogenen Anforderungen von Bedeutung sind und so in der bisherigen Fassung des Gesetzestextes nicht enthalten waren.
Insgesamt beinhaltet das NBA ein sehr weit gefasstes Verständnis von Lebensbereichen, in denen die Selbstständigkeit oder Fähigkeiten eingeschränkt sein können, so zum Beispiel die Selbstständigkeit bei der Verhaltenssteuerung (wie Umgang mit emotionalen Impulsen) oder bei der Aufnahme und Aufrechterhaltung von sozialen Kontakten.
Auswirkungen auf das Leistungsangebot der Pflege
Auf der Grundlage der oben beschriebenen Neufassungen des Gesetzestextes zum Begriff der Pflegebedürftigkeit sowie zur Ermittlung des Pflegegrades lässt sich der Zuständigkeitsbereich der Pflege wie folgt bestimmen: Pflege im Sinne von personeller Hilfe und Unterstützung kann bei allen alltäglichen Aktivitäten und Verrichtungen sowie bei der Gestaltung des Lebensalltags selbst erforderlich sein, das heißt in allen Bereichen, die so auch in den Modulen des NBA enthalten sind.
Durch die Aufnahme einer Vielzahl der für das Leben und die Alltagsbewältigung relevanten Bereiche innerhalb der einzelnen Module ermöglicht das NBA bereits eine differenziertere Sichtweise auf Formen der Unterstützung, die Pflegebedürftige zur Bewältigung des Alltags benötigen. Körperliche, kognitive und psychische Beeinträchtigungen werden dabei gleichermaßen berücksichtigt.
Allerdings erfasst das NBA Pflegebedürftigkeit beziehungsweise den Grad der Selbstständigkeit als Eigenschaft einer Person. Welche konkreten Hilfen und Unterstützungsleistungen innerhalb der einzelnen Bereiche erforderlich sind, lässt sich nicht direkt aus dem Begutachtungsinstrument ableiten. Das NBA kann so lediglich einen Rahmen für das Leistungsangebot der Pflege vorgeben. Allerdings legen die in das NBA aufgenommenen Bereiche und ihre Unteraspekte bereits nahe, dass pflegerische Unterstützungsleistungen qualitativ neu gefasst werden müssen.
Eine zentrale Aufgabe für die Pflege besteht deshalb darin, diesen erweiterten Rahmen zukünftig bei der Versorgung und Betreuung Pflegebedürftiger entsprechend zu nutzen und umzusetzen. Dies kann und muss zwar auch bei der direkten und unmittelbaren Planung und Organisation der individuell erforderlichen Pflegeleistungen geschehen. Zunächst ist es aber erforderlich, die bestehenden Rahmenverträge zur pflegerischen Versorgung nach § 75 Abs. 1 SGB XI auf Länderebene grundsätzlich zu überarbeiten und neu zu fassen - und hier vor allem jene Bereiche, die den Inhalt der Pflege- und Betreuungsleistungen regeln.
Vor allem für ambulante Dienste ist von zentraler Bedeutung, dass die Rahmenverträge an die veränderten gesetzlichen Grundlagen angepasst werden. Vorhandene Leistungsbeschreibungen und -kataloge orientieren sich hauptsächlich daran, die Pflegebedürftigen bei einzelnen Verrichtungen wie Teilwaschung des Oberkörpers, Duschen oder Baden zu unterstützen. Sie erfassen aber viele Bereiche nicht, die für die Bewältigung des Alltags gerade unter den Bedingungen von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit wichtig sind (zum Beispiel Umgang mit psychischen Belastungen oder Erkennen von Risiken und Gefahren). Die mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff initiierte Erweiterung und Flexibilisierung des Leistungsangebots der Pflege lässt sich damit nicht abbilden und kann demzufolge (noch) nicht angeboten und auch nicht vergütet werden.
Die Leistungsbeschreibungen sind zu erweitern
Die Notwendigkeit, das Leistungsspektrum von Pflege- und Betreuungsleistungen ambulanter Dienste zu erweitern, lässt sich am Beispiel der Neufassung von § 36 SGB XI "Pflegesachleistungen" verdeutlichen. In der ab dem 1. Januar 2017 umzusetzenden Neufassung von § 36 ist geregelt, dass jeder ambulante Pflegedienst häusliche Pflegehilfe in Form von körperbezogener Pflege, Hilfen bei der Haushaltsführung und pflegerischer Betreuung anzubieten hat.
Im zweiten Absatz von § 36 werden die Ziele und Inhalte von häuslicher Pflegehilfe beschrieben: "Häusliche Pflegehilfe wird erbracht, um Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten so weit wie möglich durch pflegerische Maßnahmen zu beseitigen oder zu mindern und eine Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit zu verhindern. Bestandteil der häuslichen Pflegehilfe ist auch die pflegefachliche Anleitung von Pflegebedürftigen und Pflegepersonen."
Nach dem bisherigen Verständnis ist Anleitung eine Form der Hilfeleistung und bezieht sich darauf, dass Pflegekräfte bei einer konkreten Verrichtung den Ablauf der einzelnen Handlungsschritte oder den ganzen Handlungsablauf anregen, lenken oder demonstrieren sowie die Pflegebedürftigen gegebenenfalls zur selbstständigen Übernahme motivieren. Anleitung in diesem Sinne ist dann erforderlich, wenn Pflegebedürftige aufgrund von kognitiven Einschränkungen keine sinnvollen Abläufe mehr herstellen können oder bestimmte Utensilien nicht ihrem Zweck entsprechend gebrauchen (zum Beispiel bei der Körperpflege). Anleitung richtet sich so auch direkt auf die Person der/des Pflegebedürftigen selbst.
Eine "pflegefachliche Anleitung" entsprechend der Neufassung des § 36 SGB XI ist zum einen wesentlich umfassender, da außer dem/der Pflegebedürftigen auch weitere Pflegepersonen wie zum Beispiel Angehörige einzubeziehen sind. Zum anderen erhält der Begriff der Anleitung durch den Zusatz "pflegefachlich" eine neue Qualität. Anders als bisher geht es nicht darum, einzelne, isolierte Verrichtungen anzuleiten oder zu lenken. Vielmehr stehen präventive, rehabilitative und edukative Aspekte im Vordergrund: Denn durch pflegefachliche Anleitung sollen Pflegebedürftige oder ihre Angehörigen unter anderem dazu befähigt werden, bestimmte Einschränkungen auch in Abwesenheit des Pflegedienstes kompensieren zu können. Dies kann zum Beispiel bedeuten, dass Pflegebedürftige, bei denen Einschränkungen in der Flüssigkeitszufuhr bestehen, weil sie vergessen zu trinken oder ein vermindertes Durstgefühl haben, dazu angeleitet werden, ein Trinkprotokoll zu führen oder aber Angehörige/Pflegepersonen im Haushalt dies übernehmen. Damit in Zusammenhang steht, dass Pflegebedürftige oder ihre Angehörigen lernen, Risiken rechtzeitig zu erkennen (zum Beispiel Dehydration) und ihnen rechtzeitig entgegenzuwirken.
Es versteht sich von selbst, dass diese Form der Anleitung nicht auf einzelne, zeitlich begrenzte Hilfestellungen beschränkt werden kann, sondern einer wiederholten Beratung und Information des Pflegebedürftigen, der Pflegeperson sowie gegebenenfalls auch einer längerfristigen Intervention und vor allem Evaluation bedarf. Eine Leistungsbeschreibung für pflegefachliche Anleitung, die dieses erweiterte Begriffsverständnis aufnimmt, liegt bisher jedoch nicht vor. Es ist somit auch noch nicht geregelt, wie diese Leistung umzusetzen ist und in welchem Umfang sie vergütet werden kann.
Die Voraussetzungen für den Systemwechsel sind da
Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und dem Neuen Begutachtungsassessment sind die Voraussetzungen für einen grundlegenden Systemwechsel in der Pflegeversicherung geschaffen. Denn die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs respektive des NBA verändert nicht nur den Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung inklusive der Begutachtung und der Einstufung, sondern auch das Leistungsspektrum der Pflege selbst erheblich.
Grundsätzlich ist es durch die Neufassung der gesetzlichen Grundlagen im SGB XI möglich, Pflege deutlich personenzentrierter und bedarfsgerechter zu gestalten und Pflege- und Betreuungsleistungen anzubieten, die sowohl den Bedürfnissen von Menschen mit körperlichen Einschränkungen als auch von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen gerecht werden. Ein Paradigmenwechsel innerhalb der Pflege, wie er im Entwurf zum Zweiten Pflegestärkungsgesetz postuliert wird1, kann aber nur erreicht werden, wenn das neue, umfassende Verständnis von Pflegebedürftigkeit und der damit verbundene Anspruch der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen auf alltags- und bedarfsgerechte Unterstützung in das konkrete Leistungsgeschehen überführt werden.
Anmerkung
1. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/5926 vom 7. September 2015, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Zweites Pflegestärkungsgesetz - PSG II),
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