Arbeitsintegration mit Biss
Zahlreiche Katamnesen belegen, dass für viele Drogenabhängige die Rückfallwahrscheinlichkeit - auch nach erfolgreicher Rehabilitation - im ersten Jahr am größten ist. Zugleich zeigen sie, dass eine gelungene berufliche Reintegration der beste Prädiktor (Vorbedingung) für eine suchtmittelfreie Zukunft ist.
Diese Erfahrung bestätigte sich auch in der Rehaklinik Freiolsheim (Baden-Württemberg) und in der dazugehörenden Adaptionseinrichtung im Integrationszentrum Lahr. Dort absolvieren die Klient(inn)en in ihrer letzten Behandlungsphase ein acht- bis zehnwöchiges Praktikum am ersten Arbeitsmarkt. Zwischenzeitlich sind es über 400 Betriebe im Raum Lahr/Offenburg, die bereit sind, Praktikant(inn)en des Integrationszentrums Lahr aufzunehmen. Ausgesucht werden die Praktikumsplätze nach beruflichen Vorqualifikationen, Neigungen und auch danach, ob die Praktikumsanbieter als mögliche künftige Arbeitgeber infrage kämen.
Die Praktikumsplatzsuche erfolgt mit Unterstützung der Mitarbeitenden des Integrationszentrums, in erster Linie aber durch die Bewerber(innen) selbst. Da zwischenzeitlich zahlreiche Betriebe sehr gute Erfahrungen mit den Praktikant(inn)en des Integrationszentrums gemacht haben, ist die Bereitschaft groß, es erneut mit einem Praktikanten/einer Praktikantin zu probieren. Hinzu kommt, dass der Arbeitsmarkt in der Region nahezu leergefegt ist: Die Praktikumsgeber profitieren hier von der Chance, junge potenzielle Nachwuchskräfte unverbindlich kennenzulernen. Zudem entstehen ihnen keine Lohnkosten, und den Versicherungsschutz deckt das Integrationszentrum ab. Für die Patient(inn)en stellt ihr Praktikum einen wichtigen ersten Schritt in die berufliche Reintegration dar - und häufig auch die Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Regelmäßig erhalten 50 bis 65 Prozent aller Praktikant(inn)en des Integrationszentrums Lahr ein Angebot zur direkten Übernahme nach Beendigung der Adaptionsbehandlung. Zahlreichen Rehabilitand(inn)en wird auch ein Ausbildungsvertrag in Aussicht gestellt. Da wir in Lahr und in Offenburg mehrere Wohngemeinschaften für das betreute Wohnen haben sowie eine sehr gute Infrastruktur zur (Selbst-)Hilfe, entscheiden sich viele ehemalige Adaptionsbewohner(innen), in der Region zu bleiben und gegebenenfalls ein Arbeitsplatzangebot anzunehmen. Hierbei zeigte es sich jedoch in der Vergangenheit, dass viele nach ihrer rund einjährigen Rehabilitationsbehandlung kein Interesse mehr an weiterer therapeutischer Begleitung haben. Sie sind glücklich über ihr Arbeitsplatzangebot und haben für sich den Eindruck, den Ausstieg aus der Drogenabhängigkeit nun endgültig geschafft zu haben.
Krisen stellen sich ein - und werden mit "Biss" bewältigt
Doch hier begannen in der Vergangenheit häufig die Probleme: Bereits nach Wochen, in anderen Fällen nach einigen Monaten kam es zu persönlichen Krisensituationen, auch am Arbeitsplatz, beziehungsweise zu Rückfallkrisen. Gerade bei Rückfälligkeit wurde dies von den Betroffenen so lange wie möglich verheimlicht, bis dann letztlich nach Fehlzeiten und Abmahnungen der Arbeitsplatz weg und der Wiedereinstieg in den Drogenkreislauf nahezu unvermeidlich waren. In seltenen Fällen waren es die ehemaligen Patient(inn)en oder auch die Arbeitgeber, die sich frühzeitig hilfesuchend an das Integrationszentrum wandten. In dem einen oder anderen Fall gelang es so, durch Kriseninterventionen, Entgiftungen, Auffangbehandlungen oder durch andere Maßnahmen den Wiedereinstieg in die Abhängigkeit zu vermeiden und den Arbeitsplatz zu erhalten. Viel zu häufig kam jedoch jede Unterstützung zu spät und der Arbeitsplatz war verloren.
Aus diesen Erfahrungen wurde der Kontakt zur Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg (im Folgenden: DRV), dem Hauptkostenträger der Rehamaßnahmen, hergestellt, und zur Unterstützung der beruflichen Reintegration im ersten Jahr nach Therapieabschluss startete das Modellprojekt "Biss" (Berufliche Integration nach stationärer Suchtrehabilitation). Der Rehabilitationswissenschaftliche Lehrstuhl der Universität Freiburg evaluierte es in der Modellphase 2010 bis 2012.
Betrieben, die ehemaligen Patient(inn)en einen Arbeitsplatz anboten, wurde die Teilnahme am Biss-Modell offeriert. Auch allen regulär entlassenen Patient(inn)en, die sich nach der Therapie im Nahbereich niederließen, wurde die Teilnahme angeboten. Von Beginn an war ihr Interesse sehr groß. Die mit dem Projekt verbundenen Alkohol- und Drogenscreenings sahen sie nicht als Kontrolle oder Lebenseinschränkung an, sondern eher als Unterstützung einer langfristigen Abstinenz. Teilnehmende Arbeitgeber wiederum sahen eine Risikominimierung und waren dankbar, im Krisenfall einen kompetenten Ansprechpartner zu haben. Immer wieder machten Arbeitgeber die Biss-Teilnahme zur Bedingung für eine Einstellung. Arbeitgeber erhalten durch Biss folgende Angebote:
- regelmäßige Besuche am Arbeitsplatz mit Gesprächsangeboten für Arbeitgeber und Projektteilnehmer(innen);
- Ansprechpartner bei Rückfallverdacht, erhöhten Fehlzeiten oder sonstigen betrieblichen Auffälligkeiten;
- Mediation in Konflikten und Krisen.
Einmal monatlich treffen sich alle Biss-Teilnehmer(innen) zum Gruppengespräch und zur Planung möglicher gemeinsamer Aktivitäten. Mittels Schweigepflicht-Entbindung und eines Dreieckvertrages zwischen Klient(in), Arbeitgeber und Integrationszentrum hat jede(r) Beteiligte stets die Möglichkeit, das Integrationszentrum und Biss zu kontaktieren. Somit werden Rückfallkrisen, aber auch sich kumulierende psychosoziale Problem- und Konfliktlagen zwischen Arbeitergeber und ehemaligen Klient(inn)en frühzeitig aufgegriffen. Ist ein(e) Biss-Teilnehmer(in) tatsächlich rückfällig, lassen sich rasch Hilfsmaßnahmen einleiten: von Krisenintervention und hochfrequenten ambulanten Angeboten über eine Einweisung in eine Entgiftungseinrichtung bis hin zur erneuten stationären Kurzzeitreha. Die getroffenen Maßnahmen werden zwischen Arbeitgebern, Integrationszentrum und Klient(inn)en abgestimmt und verhindern so im Regelfall, dass der Arbeitsplatz verloren geht. Da die Biss-Teilnehmer(innen) um diese Unterstützungsmöglichkeiten wissen, ist die Bereitschaft, über Rückfälligkeit zu sprechen, beachtlich gestiegen.
Verstetigung nach erfolgreicher Modellphase
Der im Frühjahr 2013 vorgelegte Evaluationsbericht dokumentierte eine hohe Zufriedenheit der Biss-Teilnehmer(innen) wie auch der beteiligten Arbeitgeber - diese berichteten von Ermutigung und Absicherung durch das Projekt. Die wohl wichtigsten Ergebnisse waren die hohe Erfolgs- und die geringe Abbruchquote. So wiesen die Biss-Teilnehmer(innen) nach einem Jahr durchweg höhere Abstinenzquoten und deutlich mehr Ausbildungsverhältnisse auf als die Vergleichsgruppe der Studie.
Auch die weiteren Beteiligten wie Jobcenter und DRV waren von den Resultaten des Modellprojekts beeindruckt und sicherten weitere Unterstützung zu. So überführte die DRV?das Biss-Modell ab 1.Januar 2014 in die Regelförderung: Für alle bei der DRV versicherten Biss-Teilnehmer(innen) erhält das Integrationszentrum Lahr einen Pauschalbetrag, der die weitere Begleitung im ersten Jahr nach der Therapie ermöglicht. Angeregt durch die Erfolge von Biss, hat die DRV zudem allen Suchtberatungsstellen die Möglichkeit eröffnet, neben der klassischen Nachsorgepauschale noch eine zweite Nachsorgepauschale - speziell zur Begleitung der Berufsintegration ehemaliger Rehabilitand(inn)en - abzurechnen.
Neben diesen positiven Ergebnissen muss jedoch auch berichtet werden, dass die Deutsche Rentenversicherung Bund und die anderen Rentenversicherungsträger sowie die Krankenkassen das Projekt zurzeit zwar wohlwollend prüfen, bisher aber keine Refinanzierung erfolgt.
Zum Schluss noch einige Zahlen zu Biss: Seit dem 1. Januar 2013 nahmen insgesamt 124 ehemalige Drogenabhängige teil. Von ihnen beendeten 74 (60 Prozent) das Programm erfolgreich mit Übernahme in ein festes Arbeitsverhältnis. Insgesamt konnten über 100 auf den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden. Eine Berufsausbildung absolvierten 31 Personen im Rahmen ihrer Biss-Teilnahme. 26 brachen die Maßnahme ab oder mussten aus dem Programm entlassen werden (21 Prozent), meist aufgrund fortgesetzter Rückfälligkeit. Einige Klient(inn)en fielen wegen ihres entfernten Wohnorts außerhalb der Biss-Reichweite aus dem Programm, das derzeit 24 Teilnehmende umfasst.
Bei Rückfallkrisen, die circa ein Viertel der Teilnehmenden hatten, bewährten sich besonders die intensive ambulante Begleitung, verbunden mit hochfrequenten Drogenscreenings, und eine enge Abstimmung mit dem Arbeitgeber. In elf Fällen war die Rückfälligkeit so weit fortgeschritten, dass die Betroffenen in die stationäre Entgiftung mussten. Bei weiteren sechs war sogar eine stationäre Festigungsbehandlung nötig. Dank der engen Zusammenarbeit zwischen Integrationszentrum und Arbeitgebern ließ sich in den meisten Fällen der Arbeitsplatz trotz der Krisen langfristig sichern.
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