Online durch die Krise gelotst
"Wir sind die letzten Millennials", sagt AnnMarie und spielt damit auf ihr Alter an. Mit 23 Jahren gehört sie zu den älteren Peer-Berater(inne)n des Projekts U 25 der Caritas Gelsenkirchen. U 25 bedeutet „unter 25 Jahren“. Das Projekt, bei dem Jugendliche und junge Erwachsene Gleichaltrige begleiten, die sich mit Suizidgedanken tragen, läuft dort seit dem Jahr 2013. Die Beratung ist online, unter Wahrung der Anonymität von Hilfesuchendem und Peerberater. Verzweifelte können sich an U 25 wenden und bekommen innerhalb von sieben Tagen eine Antwort auf ihre Mail. Inzwischen sind die Klient(inn)en Digital Natives – also in der digitalen Welt aufgewachsen.
Was Digital Natives erwarten
„Eigentlich müssen wir noch schneller werden“, sagt Projektleiter Niko Brockerhoff. „So neuartig das Projekt auch ist, die Digitalisierung ist inzwischen weiter fortgeschritten, und ich wünsche mir, dass wir zum Beispiel über Chat-Beratung kommunizieren könnten. Das erwarten Digital Natives von Beratungsangeboten.“ So könnten sie auf Hilferufe schneller reagieren. Der 23-jährige gelernte Erzieher und Student der sozialen Arbeit hat für U 25 ein Digitalkonzept entwickelt, das aber mangels finanzieller Ressourcen bislang nicht umgesetzt werden konnte.
Im Peerberater-Team von U 25 Gelsenkirchen engagieren sich 15 junge Menschen ehrenamtlich: Student(inn)en für das Lehramt, der Sonderpädagogik und der Psychologie genauso wie ein Molekularbiologe, Maschinenbau- oder Mathematikstudenten oder junge Leute aus dem Bundesfreiwilligendienst. Hinter dem Team steht die Fachabteilung Kinder, Jugend und Familie, deren Leiterin Methe Weber-Bonsiepen vor fünf Jahren dafür gesorgt hat, dass das Projekt auch einen Standort bei der Caritas Gelsenkirchen erhielt. Die Peerberater(innen) treffen sich alle zwei Wochen in den Räumen der Caritas zur Fallbesprechung. Außerdem sieht Projektleiter Niko Brockerhoff alle Mails, die sein Team versendet, und steht für Hilfestellung zur Verfügung.
Die jungen Leute arbeiten meist von zu Hause am eigenen Rechner mit anonymem Zugang und zu Zeiten, die sie selbst bestimmen können. Seit dem Projektstart haben die Peerberater in Gelsenkirchen rund 1500 Menschen begleitet. Jeder Berater erhält eine vier- bis sechsmonatige Ausbildung, um auf sein Ehrenamt vorbereitet zu werden, denn manchmal ist der anonyme Mailverkehr auch belastend. Peerberaterin Ilayda berichtet, wie sie einmal freitagabends eine Mail geöffnet hat, in der eine verzweifelte junge Frau einen Abschiedsbrief an sie gerichtet hatte.
Mutlose Menschen auffangen
„Wir sind Zuhörer und Wegbegleiter“, sagt Ilayda, die wie Ann-Marie seit Beginn des Projektes dabei ist. Beide studieren Sozialarbeit in Dortmund. „Das Projekt U 25 hat definitiv meine Berufswahl beeinflusst“, erzählt die 23-Jährige. „Wir können die Menschen in ihrer Verzweiflung auffangen und über Therapiemöglichkeiten informieren. Unser Vorteil ist, dass wir aufgrund des geringeren Altersabstandes Situationen von Mobbing und Verzweiflung bei Jugendlichen kennen.“ Die Anonymität helfe ihnen und den Hilfesuchenden, offen alles zu thematisieren. „Sie wissen, dass sie uns alles anvertrauen können.“
So berichtet Ann-Marie, sie halte seit vier Jahren den Kontakt zu einer jungen Frau, die inzwischen eine Therapie abgeschlossen und sich bei ihr für die Begleitung bedankt hat. „Daraus wird keine Freundschaft, aber wir schreiben uns gelegentlich.“
Verständnis für digitale Medien, gleiche Augenhöhe und die Anonymität helfen den Berater(inne)n. „Wir sehen nicht, ob unser Gegenüber groß, klein, dick oder dünn ist, selbst der Name ist oft ein Pseudonym.“ Anonymität schafft Offenheit.
Mit Social Media gegen ein Tabu
Nach anfänglicher Skepsis sei das Konzept der Peerberatung im Kollegenkreis anerkannt, sagt Weber-Bonsiepen. Die jungen Leute von U 25 werden als echte Bereicherung für die Caritasarbeit akzeptiert. Verbandsstrategisch gesehen seien derartige Projekte ideal, um junge Menschen für die Sache der Caritas zu interessieren – späterer Berufseinstieg nicht ausgeschlossen. U 25 ist auch auf Instagram und Facebook unterwegs. „Inzwischen informieren wir jede Woche mindestens mit einem Posting, was bei uns so läuft, was die Mailberatung macht und wer Peerberater werden kann“, berichtet Brockerhoff. Natürlich wollten sie auch das Thema Suizid aus der Tabuzone holen. Ein Beispiel: 2017 hat sich Chester Bennington, der Sänger der Band Linkin Park, mit 41 Jahren das Leben genommen. „Ein Mensch auf dem Gipfel seines Erfolgs, mit scheinbar glücklichem Familienleben. Das hat viele echt traurig gemacht. Wir haben das zum Anlass genommen, über unseren Facebook-Kanal über Depression und Möglichkeiten der Hilfe zu informieren.“
Das Projekt U 25 finanziert sich nach einer Anschubfinanzierung von zwei Jahren überwiegend aus Spenden. In Deutschland gibt es inzwischen zehn Standorte. Das Ursprungsprojekt wurde in Freiburg in Kooperation mit dem Deutschen Caritasverband entwickelt. Die Caritas Gelsenkirchen finanziert den Projektleiter und stellt die Räume zur Verfügung.
Die Online-Beratung der Caritas: Seit 12 Jahren ist Online-Beratung ein Hilfe-Angebot der Caritas. Per Mail oder Chat richtet es sich an alle, die anonym Rat oder Information suchen. Bewusst werden Beratungsmöglichkeiten für Menschen vorgehalten, für die es ansonsten wenige Angebote gibt. Im Jahr 2017 hatte die Online- Beratung 27.700 Beratungskontakte, eine Steigerung um fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Spitzenreiter sind die Schuldnerberatung und U 25, gefolgt von der Eltern- und Jugendberatung.