Evakuierte Caritas-Mitarbeiterin: „Ich möchte so schnell wie möglich zurück in die Ukraine“
Caritas international: Wie geht’s dir gerade? Mit welchen Gedanken wachst du morgens auf?
Henrike Bittermann: Das Erste, was ich mache, ist meine Telegram-Gruppen checken und schauen, was über Nacht in der Ukraine passiert ist: Wie oft war Feuer? Wie oft Luftalarm in Kiew? Habe ich irgendwelche Neuigkeiten von meinen Freundinnen und Freunden, von meinen Kolleginnen und Kollegen? Ich bin eigentlich die ganze Zeit gedanklich in der Ukraine - und mache mir Sorgen.
Caritas international: Wie gehst du mit dieser ständigen Sorge um?
Bittermann: Klar versuche ich mal abzuschalten, ab und an das Handy aus der Hand zu legen und was Schönes zu machen. Aber das fällt mir schwer. Kurz vor meiner Evakuierung Mitte Februar habe ich in Lviv gelebt. Dort habe ich mir einen Freundeskreis und ein Leben aufgebaut. Ich wäre jetzt gerne dort bei den Menschen, die mir wichtig sind. Momentan versuche ich von Moldawien aus alles zu tun, um die Caritas-Kolleg_innen hier vor Ort, diejenigen in der Ukraine und meine Freund_innen zu unterstützen. Aber es ist ein großer Unterschied, ob man digitalen Kontakt hat oder physisch vor Ort ist, um zu helfen.
Caritas international: Wann war Zeitpunkt, als klar war: Du musst raus?
Bittermann: Ich bin aufgrund des Aufrufs des Auswärtigen Amts aus der Ukraine ausgereist. Das war am 12. Februar, ungefähr zwei Wochen bevor Russland einmarschiert ist. Dieser Aufruf fußte auf Geheimdienstinformationen der USA. Es gab öfters Warnungen, aber diese waren ernster als sonst. Trotzdem ist mir die Entscheidung schwergefallen. Ich war dankbar, als sie für mich getroffen wurde.
Caritas international: Konntest du das Wichtigste bei der Evakuierung mitnehmen?
Bittermann: Ich wusste nicht so richtig, auf was ich mich einstellen soll: Werde ich zwei Wochen weg sein, einen Monat oder sogar länger? Ich bin mit einem Koffer ausgereist, der Rest ist noch in meiner Wohnung in Lviv. Es ging alles sehr schnell. An einem Samstag wurde entschieden, dass ich gehen muss, am Sonntag bin ich ausgereist. Ich habe nicht geschafft, alles zusammenzupacken.
Caritas international: Wie ist es jetzt in der Ukraine? Was erzählen deine Freund_innen und Kolleg_innen?
Bittermann: Ich versuche täglich alle abzutelefonieren und zu hören, wie die Lage ist. In Lviv können die Menschen gerade noch einigermaßen normal weiterleben und arbeiten, weil die Stadt noch nicht von den Kämpfen betroffen ist. Viele Caritas-Kolleginnen und Kollegen sind jetzt in Lviv und koordinieren von dort die Hilfsaktionen. Sie haben ihre Eltern und Kinder aufs Land geschickt - zum einen, um sie dort in Sicherheit zu bringen, zum anderen, damit sie sich jetzt vollumfänglich auf ihre Arbeit konzentrieren können. Bei der Caritas sind alle im Notfallmodus und arbeiten Tag und Nacht.
Meine Bekannten in Kiew sind momentan eigentlich fast nur noch im Bunker oder in dem sichersten Raum ihrer Wohnung. Sie gehen nur raus, um einzukaufen. In der Stadt ist eine Sperrstunde verhängt worden. Es ist jetzt sehr still auf den Straßen, das kann ich mir kaum vorstellen. Ich kenne Kiew nur als eine pulsierende und energetische Stadt.
Caritas international: Wie fühlt sich das an: die Freunde dort in Bunkern und du hier?
Bittermann: Es wird mir wieder schmerzlich bewusst, was das für ein Privileg ist, dass ich in der Ukraine leben durfte und gehen konnte, als es zu gefährlich wurde. Auch meine Freund_innen könnten versuchen zu fliehen. Einige haben das auch versucht. Dann standen sie aber stundenlang an den Grenzen, es war bitterkalt oder es wurde randaliert und sie mussten sich in Sicherheit bringen. Andere haben von vorneherein entschieden zu bleiben. Sie wollen ihr Land verteidigen. Ich kann sie verstehen, trotzdem würde ich mir wünschen, dass sie in Sicherheit sind.
Caritas international: Was waren deine Aufgaben für Caritas international in der Ukraine?
Bittermann: Ich hatte eine Art Mittlerposition zwischen Caritas Deutschland und der Caritas Ukraine. Weil wir aus Deutschland seit Jahren viele große Hilfsprojekte in der Ukraine finanzieren, war es wichtig, eine direkte Ansprechperson für die Kolleginnen und Kollegen vor Ort zu haben. In meiner Verantwortung lagen vor allem die Projekte der Sozialen Arbeit wie Kinder und Jugendarbeit, oder Hauskrankenpflege - aber auch die Sozialzentren im Osten des Landes.
Caritas international: Wie geht es jetzt für dich weiter?
Bittermann: Gerade kümmere ich mich, neben der Unterstützung für die Kolleg_innen in der Ukraine, auch viel um die Koordinierung mit anderen Caritas-Strukturen in Europa, die ebenfalls große Solidarität zeigen und die Caritas Ukraine und die Strukturen der Nachbarländer finanziell unterstützen. Vor allem müssen wir jetzt auch an die Länder denken, die zigtausende Geflüchtete aufnehmen, aber selbst arm sind - so wie Moldawien. Deswegen bin ich jetzt hier in Chișinău, um die Caritas Moldawien dabei zu unterstützen, diesen Kraftakt zu meistern. Langfristig möchte ich aber zurück in die Ukraine. Wir müssen bedenken: So vieles wurde schon bis jetzt durch den Krieg zerstört. Es gibt Millionen Menschen, die ihre Heimat wieder aufbauen müssen, ihre Häuser, ihr Leben. Ich hoffe deswegen sehr, dass die Solidarität hierzulande und auf der Welt anhält, damit wir den Menschen in der Ukraine langfristig zur Seite stehen können.
Mehr über die Arbeit von Caritas international in der Ukraine und in den Nachbarländern erfahren Sie unter www.caritas-international.de/ukraine.