Das Jahr 2016 ist ein Jahr der Vorbereitung und des Übergangs zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Daher erfolgt die Umsetzung vieler Neuerungen erst zum 1.1.2017. Zur Reform der Pflegeversicherung durch das zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II) hat der Deutsche Caritasverband (DCV) Stellung genommen. Neben vielen Änderungen im Detail (s. unten die gesamte Stellungnahme zum Gesetzentwurf zum Download) bewertet er vor allem folgende Neuerungen:
Regelungen, die ab dem 1.1.2016 gelten
Ab 1. Januar 2016 wird das Pflegestärkungsgesetz I (PSG I) dahingehend korrigiert, dass die Hälfte des Pflegegeldes bei der flexiblen Kombination von Kurzzeit- und Verhinderungspflege während der gesamten Dauer der Inanspruchnahme der Leistung gewährt wird. Dafür hatte sich der DCV eingesetzt. Bisher wurde das Pflegegeld in hälftiger Höhe nur für die Dauer von bis zu vier Wochen fortgewährt. Nach wie vor fordert die Caritas die vollständige Flexibilisierung.
Gegenwärtig kann Kurzzeitpflege bei nicht ausgeschöpfter Verhinderungspflege für acht Wochen in Anspruch genommen werden, während Verhinderungspflege bei nicht ausgeschöpfter Kurzzeitpflege nur für sechs Wochen in Anspruch genommen werden kann. Die vollständige Harmonisierung scheiterte am Finanzvolumen wie auch die lang bestehende Forderung des DCV, die Wartefrist bei der Verhinderungspflege aufzuheben.
Pflegekassen können künftig nicht nur, sondern sie müssen pflegenden Angehörigen oder sonstigen Pflegepersonen Schulungskurse nach § 45 anbieten. Auf Wunsch der Pflegeperson und des zu Pflegenden können diese Schulungen auch in der häuslichen Umgebung des Pflegebedürftigen stattfinden.
Künftig muss Versicherten bei der qualifizierten Pflegeberatung nach § 7a ein(e) für sie namentlich zuständige(r) Pflegeberater(in) zugeteilt werden, der/die bei Vertrauensverlust jedoch gewechselt werden kann. Er/Sie muss auch gezielt auf Entlastungsangebote für die Pflegepersonen hinweisen und auf Wunsch zur Beratung nach Hause kommen. Wenn der/die Pflegebedürftige einverstanden ist, können auch seine pflegenden Angehörigen die Pflegeberatung in Anspruch nehmen.
Regelungen, die ab dem 1.1.2017 gelten
An die Stelle des bisherigen auf Verrichtungen und körperliche Einschränkungen bezogenen Pflegebedürftigkeitsbegriffs tritt ein neuer Begriff, der sich an der Selbständigkeit und den verbliebenen Fähigkeiten orientiert, die es zu stärken gilt. Diese Wende zu einem rehabilitativen und präventiven Ansatz stellt einen Paradigmenwechsel dar und wird vom DCV ausdrücklich begrüßt. Das Ausmaß der beeinträchtigten Fähigkeiten und der Selbständigkeit wird mit einem neuen Begutachtungsverfahren (NBA) erfasst. Maßgeblich sind Einschränkungen in sechs Bereichen (Modulen). Neu ist, dass auch kommunikative und kognitive Fähigkeiten (Modul 2), Verhaltensauffälligkeiten und psychische Problemlagen (Modul 3) sowie die Gestaltung des Alltagslebens und der sozialen Kontakte (Modul 6) erfasst werden. Mobilität (Modul 1), Selbstversorgung (Modul 4) und die Bewältigung von und der Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen (Modul 5) sind Begutachtungskriterien, die auch schon nach dem bisherigen Begutachtungsverfahren erhoben wurden. Das NBA enthält noch ein Modul zu außerhäuslichen Aktivitäten (Modul 7) und zur Haushaltsführung (Modul 8).
Der Schweregrad der Pflegebedürftigkeit wird durch Punktwerte im Bereich von 0 bis 100 Punkten erfasst und in fünf Pflegegrade eingeteilt. Gegenüber den Empfehlungen des Expertenbeirats, der die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs begleitet hat, wurde die Schwelle zu Pflegegrad 1 und 2 nochmals abgesenkt. Dadurch erhalten noch mehr Menschen mit Hilfebedarf Zugang zum System, was der DCV ausdrücklich begrüßt.
Personen bei denen bereits eine eingeschränkte Alltagskompetenz oder Pflegebedürftigkeit festgestellt wurde, werden ohne erneute Antragstellung und Begutachtung zum 1.1.2017 in das neue System übergeleitet. Demenzkranke werden von den bisherigen Pflegestufen 0 bis Pflegestufe 3 und Härtegrad mittels eines "doppelten Stufensprungs" übergeleitet. Das heißt, wer Pflegestufe 0 hat, kommt automatisch in Pflegegrad 2, wer Pflegestufe 1 hat, in Pflegegrad 3 und so weiter. Pflegebedürftige ohne eingeschränkte Alltagskompetenz werden mittels eines "einfachen Stufensprungs" übergeleitet, das heißt von Pflegestufe 1 in Pflegegrad 2 und von Pflegestufe 2 in Pflegegrad 3 und so weiter.
Sowohl im häuslichen wie im stationären Bereich gibt es einen lebenslänglichen Besitzstandsschutz, so dass niemand, der heute schon pflegebedürftig ist, im neuen System schlechter gestellt ist. Im ambulanten Bereich besteht dabei ein Anspruch in Höhe der bisherigen Leistungen, im vollstationären Bereich ein Anspruch auf den heute gezahlten Eigenanteil. Versicherte, die ab 1. Januar 2017 neu einzustufen sind, werden automatisch nach dem neuen Begutachtungsverfahren untersucht.
Eine Verbesserung für die Menschen ist, dass der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) während der Begutachtung den Bedarf an Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel künftig noch besser einschätzen muss und dass eine entsprechende Empfehlung automatisch - auch ohne ärztliche Verordnung - als Antrag an die Kassen gilt, sofern der/die Antragstellende zustimmt. Sofern sie nicht widersprechen, muss den Antragstellenden das Gutachten automatisch übersendet werden. Dafür hat sich der DCV seit vielen Jahren eingesetzt. Das Gutachten muss zudem transparent und verständlich sein.
Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff wird die ambulante Pflegesachleistung nach § 36 SGB XI neu definiert und erweitert. Der Begriff "Grundpflege" wird durch "körperbezogene Pflegemaßnahmen" ersetzt, der Begriff "hauswirtschaftliche Leistungen" durch "Hilfen bei der Haushaltsführung". Als weitere Leistungsart kommen "pflegerische Betreuungsmaßnahmen" hinzu. Alle Pflegebedürftigen, die den Pflegegraden 2 bis 5 zugeordnet sind, haben Anspruch auf die neue Pflegesachleistung. Die schon bestehenden Betreuungsleistungen bleiben der Sache nach bestehen. Förmlich finden sie sich in neuen Paragrafen und werden auch umbenannt. So heißen die heutigen, nach Landesrecht anerkannten "niedrigschwelligen zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsangebote" nach § 45 b künftig "Angebote zur Unterstützung im Alltag". Sie finden sich in § 45a und werden differenziert nach drei Gruppen: "Betreuungsangebote", "Angebote zur Entlastung von Pflegenden" und "Angebote zur Entlastung im Alltag".
Zwischen den Gruppen gibt es viele Überschneidungen. Aufgrund der fehlenden Trennschärfe hat sich der DCV dafür eingesetzt, dass die Angebote auch integriert nach Landesrecht zugelassen werden können, was der Gesetzgeber jetzt so geregelt hat. Wie bisher können bis zu 40 Prozent des Pflegesachleistungsbetrags in "Angebote zur Unterstützung im Alltag" umgewandelt werden (Umwidmungsbetrag). Die Höhe richtet sich nach dem Pflegegrad und gilt für alle Pflegebedürftigen ab Pflegegrad 2.
Für die zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsangebote steht auch künftig ein eigener Leistungsbetrag zur Verfügung, der im Wege der Kostenerstattung eingesetzt werden kann. Dieser Entlastungsbetrag wird von heute 104 Euro ab dem 1. Januar 2017 auf 125 Euro erhöht. Er kann, wie auch heute schon, ebenfalls für Leistungen im Rahmen der Tages- und Nachtpflege, der Kurzzeitpflege sowie für entsprechende Angebote der Pflegedienste eingesetzt werden.
Ab dem 1.1.2017 werden die Eigenanteile der Heimbewohner(innen) nicht mehr nach dem Pflegegrad gestaffelt, sondern sind für alle Pflegegrade in der jeweiligen Pflegeeinrichtung gleich (sogenannte "einrichtungseinheitliche Eigenanteile"). Diese werden je nach Belegstruktur in den Pflegegraden von Pflegeheim zu Pflegeheim künftig variieren. Diese Regelung ist zwar sozialpolitisch gut gemeint, bedeutet jedoch, dass Pflegebedürftige in den niedrigen Pflegegraden künftig stärker belastet werden. Beispielsweise werden Bewohner(innen) mit Pflegegrad 2 durch die gleichzeitige Absenkung des Leistungsbetrages auf 770 Euro bzw. bei Pflegegrad 3 durch die Absenkung auf 1262 Euro doppelt belastet.Kritisiert hat die Caritas insbesondere, dass die Umstellung der Pflegesätze budgetneutral erfolgen soll.
Obwohl die Demenzkranken - dies sind immerhin 60 bis 70 Prozent der Heimbewohner(innen) - mittels des doppelten Stufensprungs übergeleitet werden und somit erstmals den erforderlichen Leistungen entsprechend eingruppiert werden, wird es an Personal fehlen - sofern die Einrichtungen nicht bereits 2016 neu verhandeln können. Diesen Königsweg hat der Gesetzgeber vorgesehen, der Zeitrahmen ist jedoch eng. Auch die geforderte Regelung, dass bei einer erheblichen Veränderung der Belegstruktur während des Pflegesatzzeitraums nachverhandelt werden kann, wurde im Gesetz verankert. Bis 2020 soll zudem ein wissenschaftlich fundiertes Personalbemessungssystem zur einheitlichen Bewertung des Personalbedarfs in den Pflegeeinrichtungen entwickelt und erprobt sein. Das wird begrüßt, wenngleich eine schnellere Umsetzung wünschenswert wäre.