Wir brauchen legale Wege nach Europa
Aus Afrika nach Europa: Der Weg übers Mittelmeer ist oft lebensgefährlich – und teuer, weil Schleuser an der Flucht mitkassieren.Caritas international
Die Europäische Union hat diese Woche beschlossen, ihre Marinemission Sophia bis Dezember 2018 zu verlängern, mit der sie Schleusern im Mittelmeer das Handwerk zu legen und Flüchtlinge in Seenot zu retten versucht. Lässt Sie diese Entscheidung aufatmen, Herr Neher?
Aufatmen wäre zu viel gesagt, aber es ist eine notwendige Entscheidung. Seit Beginn des Jahres sind mehr als 2.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken, das ist eine unerträglich hohe Zahl. Etwa 110.000 Geflüchtete sind in Europa angekommen, davon allein 90.000 an den italienischen Küsten. Noch einmal so viele werden bis Jahresende erwartet. Dass Italien bei der Versorgung der Flüchtlinge und Migranten von den anderen EU-Staaten finanziell unterstützt wird, ist richtig. Denn es ist ja nicht seine Schuld, dass die Flüchtlinge dort zuerst europäischen Boden betreten und es daher gemäß der Dublin-Verordnung für die Bearbeitung der Asylverfahren zuständig ist.
Die Seenotrettung im Mittelmeer bleibt aber heikel, weil die beteiligten Akteure gegenteilige Ziele verfolgen: Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder Sea Watch wollen die Schiffbrüchigen nach Europa bringen, die EU hingegen will sie mit ihren Kriegsschiffen eigentlich von ihren Ufern fernhalten und die Mittelmeerroute schließen. Wie sinnvoll ist diese Kooperation überhaupt?
Es ist eine sehr schwierige Situation und eine einfache Lösung ist nicht in Sicht. Dass sich die Rhetorik seitens der Politik zuletzt so verschärft hat, hängt meinem Eindruck nach auch mit der eigenen Hilfslosigkeit zusammen, weil sie nicht weiß, wie sie dem Problem Herr werden kann.
Sie meinen Aussagen von Politikern wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der Rettungskräfte als Helfer von Schlepperbanden kriminalisiert hat?
Ja, diese Vorwürfe gegen Hilfsorganisationen halte ich zu weiten Teilen für Ablenkungsmanöver. Es mag zwar sein, dass die Schlepper in Libyen damit kalkulieren, dass jenseits der Zwölf-Seemeilen-Zone die Rettungsschiffe kreuzen und sie daher mit Flüchtlingen überladene und seeuntüchtige Boote aufs Meer schicken. Doch die hinter diesem Vorwurf stehende These, dass die Menschen nicht mehr fliehen würden, wenn sie nicht damit rechnen könnten, gerettet zu werden, ist nicht belegt. Wenn jemand in so großer Not ist, wie die Menschen in den Flüchtlingslagern Nordafrikas, wo Folter und Vergewaltigung an der Tagesordnung sind, riskiert er auch den Tod für die Chance auf ein besseres Leben. Die Politik muss alle Anstrengen unternehmen, damit die Flüchtlinge erst gar nicht die Flucht über das Mittelmeer antreten.
Wenn sie das verhindern will, müsste sie den Betroffenen ermöglichen, ihre Asylanträge schon auf afrikanischer Seite zu stellen, etwa in europäischen Botschaften. Ist das realistisch?
Für diesen Ansatz würde viel sprechen, doch er ist nicht einfach zu verwirklichen, weil diese Staaten oft in einem desolaten Zustand sind. Ein Land wie Eritrea, das faktisch eine Militärdiktatur ist, wird kaum erlauben, dass seine Bürger in der Deutschen Botschaft Ausreiseanträge stellen. Klar ist aber auch: Über Asylverfahren allein lösen wir das Problem nicht.
Tatsächlich hat nur ein kleiner Teil der Menschen, die meist aus Westafrika stammen und derzeit über das Mittelmeer kommen, eine Chance auf politisches Asyl.
Legale Arbeitsmigration mit Perspektive: In Europa eine Ausbildung machen und nach einer festgelegten Zeit zurück in die Heimat.DCV / KNA
Genau: Deshalb brauchen wir unbedingt eine geregelte und europaweit einheitliche Arbeitsmigration. Diese Menschen, die in ihren Herkunftsländern wirtschaftlich keine Zukunft für sich sehen, sollten auf legale Weise in Europa Arbeit finden können. Dies wäre auch ein Betrag zur globalen Entwicklungszusammenarbeit: Schon jetzt unterstützen Migranten aus Afrika, Asien und Lateinamerika, ihre Familien in den Herkunftsländern mit jährlich 575 Milliarden US-Dollar - das ist etwa dreimal so viel wie die staatliche Entwicklungshilfe. Modelle einer zeitlich klar begrenzten Migration wären denkbar: So könnten diese Menschen in einem europäischen Land eine Ausbildung machen, arbeiten und dann zurückzukehren in ihr Heimatland, um dort Wirtschaft und Gesellschaft mit zu entwickeln.
Da fallen einem aber sofort die Gastarbeiter ein, die ab den 1960er Jahren in der Bundesrepublik kamen, dann aber geblieben sind...
Diese Migration war nie geregelt, bei diesem Migrationsmodell hingegen wäre der Aufenthalt in Europa von vorn herein befristet und Teil der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit. Wir haben vor einigen Jahren eine Untersuchung gemacht, die eindeutig gezeigt hat: Der größte Teil der Flüchtlinge will in seiner Heimat bleiben, er will aber auch Geld verdienen und eine echte Lebensperspektive für sich und seine Familie.
Wie kann Europa den Herkunftsstaaten der Flüchtlinge helfen, ihren Bürgern vor Ort bessere Perspektiven zu bieten und so Fluchtursachen verringern?
Die Politik sollte unbedingt den Eindruck vermeiden, dass die weltweiten Flucht- und Migrationsbewegungen kurzfristig zu stoppen sind. Es muss auch klarer unterschieden werden zwischen Flucht aufgrund von Kriegen und bewaffneten Konflikten einerseits, und Migration aufgrund wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit andererseits. Wir wissen aus der Migrationsforschung, dass mehr Entwicklungshilfe zunächst zu mehr Migration führt und nicht zu weniger. Der Grund ist klar: Je kompetenter Menschen sind, desto eher suchen sie Chancen, ihr Können umzusetzen. Die meisten Migranten kommen daher nicht aus den ärmsten Ländern der Welt, sondern aus Schwellenländern wie den Philippinen und Mexiko. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Europa die Arbeitsmigranten aus Afrika braucht und dass Probleme nicht durch Mauern, Stacheldraht und Grenzschutz zu lösen sind. Migration hat es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben, es geht darum, dass alle Menschen ein gutes Miteinander finden in der einen Welt, die uns anvertraut ist.
Ob Arbeitsmigranten oder Asylbewerber: Die Verantwortung für die Integration dieser Menschen muss innerhalb Europas geteilt werden. Doch derzeit verweigern sich viele Mitgliedsstaaten aus mangelnder Hilfsbereitschaft oder aus Angst vor einem Rechtsruck im Innern. Sehen Sie einen Ansatz, wie europäische Solidarität gelingen kann?
Jeder, der das bejaht, läuft derzeit Gefahr, als hoffnungsloser Optimist bezeichnet zu werden. Grundsätzlich ist klar, dass wir mit der Flüchtlingssituation in Europa dauerhaft nur gut umgehen können, wenn wir einheitliche Verfahren und ein solidarisches Miteinander finden. Doch wir müssen nüchtern feststellen, dass Länder wie Polen und Ungarn aufgrund ihrer eigenen Sicht der Dinge im Moment kaum dazu zu bewegen sind. Hier im Gespräch zu bleiben, ist die Aufgabe der Verantwortlichen, steter Tropfen höhlt den Stein. Wenn das gelingt, kämen Hilfsorganisationen nicht mehr in die Lage, Menschen aus dem Mittelmeer retten zu müssen.
Das Interview erschien am 30. Juli in der Zeitung „Der Sonntag” in Freiburg.