Perspektiven der Caritas zu Flucht und Migration
Viele scheinbar aktuelle Herausforderungen sind nicht neu. Was sich immer wieder ändert und Fragestellungen neue Qualität verleiht, sind die jeweiligen Rahmenbedingungen und Ausprägungen von Flucht und Migration. Deshalb ist die Caritas gefordert, die eigene Arbeit zu reflektieren und Wege zu suchen, um heute und morgen wirksame Hilfe leisten zu können.
Der perspektivische Ansatz kommt neben der täglichen Arbeit oft zu kurz - hier setzt diese Zusammenfassung von Perspektiven an. Sie zeigt Herausforderungen in Fragen von Migration und Flucht auf, bewertet sie und bietet damit eine grundlegende Orientierung. Aufgrund der Konzeption hat diese Perspektiven-Zusammenfassung nicht den Anspruch, Antworten auf die Frage zu formulieren, wie der aktuelle Anstieg der Fluchtbewegungen bewältigt werden kann. Der Deutsche Caritasverband (DCV) ist wie alle anderen Akteure, die hierfür Verantwortung tragen, in einem Suchprozess. Die in dieser Zusammenfassung eingenommene Grundsatzorientierung will den verbandsinternen Klärungsprozess unterstützen.
Die Kirche und ihre Caritas haben weltweit seit vielen Jahren intensive Erfahrungen im Umgang mit Migration, Flucht und deren gesellschaftlichen Folgen gesammelt. In Deutschland gilt ihr Einsatz denjenigen, die hier leben, aber auch jenen, die künftig kommen werden. Besonders setzen sie sich für Menschen ein, die etwa aufgrund von Flucht, Vertreibung oder Ausbeutung besonderen Schutz und Unterstützung benötigen. Dieses Engagement speist sich aus dem christlichen Verständnis, wonach die Menschheit eine Einheit bildet, aus der kein Mensch ausgeschlossen werden darf. In den Migrant(inn)en sieht die Kirche das Bild Christi, der gesagt hat: "Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen" (Mt 25,35). Solidarität und Aufnahmebereitschaft bilden zentrale Werte für Christinnen und Christen.
Die lange Tradition der Kirche und ihrer Caritas im Umgang mit Migrant(inn)en und Flüchtlingen wie auch die deutliche Parteinahme von Papst Franziskus für diese Gruppen sind Ansporn und zugleich Verpflichtung, diese Arbeit auch in Zukunft wirkungsvoll weiterzuführen. Dazu gilt es heute schon an morgen zu denken. Pragmatische und schnelle Hilfe ist etwa für Flüchtlinge unerlässlich, die aktuell nach Deutschland kommen. Neben dieser unverzichtbaren Arbeit im "Hier und Jetzt" denkt die Caritas über die Gestaltung von Regelungen für Migration und Flucht nach und wirkt daran mit, dass auch Eingewanderte ihren selbstverständlichen Platz in der Gesellschaft haben.
Dieses Perspektivenpapier entwickelt nicht für jede Frage neue Positionen. Aber es zeigt, in welche Richtung die Caritas gehen und wie sie dazu ihre Ressourcen einsetzen möchte.
Adressaten des Papiers sind alle Mitglieder und Ebenen des Verbandes von der Orts- über die Diözesan- und Landes- bis zur Bundesebene, von der Leitungsebene bis zu den Mitarbeitenden der verschiedenen Fachbereiche. Es behandelt die drei Themenkomplexe "Verantwortung über Grenzen hinweg wahrnehmen: Flüchtlinge schützen - Migration fair gestalten", "Die Gesellschaft in ihrer Vielfalt mitgestalten" sowie "Caritas konsequent an den Menschen ausrichten". Alle drei Kapitel benennen und bewerten zunächst die wichtigsten Trends und Herausforderungen und beschreiben auf dieser Grundlage Schwerpunkte der Arbeit der Caritas in den kommenden Jahren. Inhaltlich konzentriert sich das Papier auf Bereiche mit direktem Bezug zum Migrationsgeschehen. Aspekte, die für alle Menschen in Deutschland gleichermaßen wichtig sind, wie Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik oder Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, greift der Text nur auf, wenn spezifische Zusammenhänge (zum Beispiel herkunftsbezogene Diskriminierung) bestehen. Die Herausforderung wird darin bestehen, die entwickelten Perspektiven in der täglichen Praxis mit Leben zu füllen und weiterzuentwickeln.
Verantwortung wahrnehmen - Migration fair gestalten
In welchen Fällen dürfen Menschen in ein Land einreisen und dauerhaft dort bleiben? Dieser Frage müssen sich Staaten mit Blick auf Migration und Flucht stellen und bei ihren Antworten internationale Vereinbarungen und menschenrechtliche Grundsätze beachten. Deutschland diskutiert diesbezüglich vor allem folgende Fragen kontrovers: die Mobilität innerhalb der Europäischen Union, wie mit Menschen umzugehen ist, die beispielsweise vom Westbalkan kommend in Deutschland Asyl beantragen, tatsächlich aber Arbeit und Perspektiven suchen und – angesichts weiter steigender Flüchtlingszahlen – die Gestaltung von Zugängen für Menschen nach Deutschland und Europa, die hier Schutz suchen.
- Der technologische Fortschritt verändert und vereinfacht Migrationsprozesse. Die relativ problemlose Überwindung großer Distanzen, neue Kommunikationsformen und verbesserte Informationsmöglichkeiten haben erzwungene wie auch selbstbestimmte Migration in den vergangenen Jahren erleichtert. Phänomene wie temporäre Migration oder Pendelmigration von Menschen mit Wohnsitzen in mehreren Staaten gewinnen auch dadurch an Bedeutung.
- Einwanderung ist in Deutschland erwünscht, wenn Gesellschaft und Unternehmen profitieren.
Durch den demografischen Wandel wurde Einwanderung in Deutschland zur Zukunftsfrage. Anders als noch vor einigen Jahren arbeiten Politik und Unternehmen im globalen Wettstreit um Fachkräfte auf die Etablierung einer "Willkommenskultur" für potenzielle ausländische Arbeitskräfte hin. Für diesen Personenkreis erleichterte die Politik Einwanderungsregelungen zuletzt mehrfach. - Im Falle gering qualifizierter Menschen stellt die Politik Einwanderung in Frage.
Gering qualifizierte Personen aus Nicht-EU-Staaten können nach wie vor nur unter sehr engen Voraussetzungen nach Deutschland kommen. Regelmäßig gerät ihre individuelle Selbstbestimmung in Konflikt mit staatlichen Regelungsinteressen. Aktuell gibt es in Deutschland beispielsweise Bemühungen, Migration mit Hilfe der Entwicklungspolitik zu steuern: Dazu werden Staaten Gelder in Aussicht gestellt, wenn im Gegenzug Maßnahmen gegen grenzüberschreitende Wanderung ergriffen werden. Migrant(inn)en ohne Einwanderungsperspektiven weichen somit auf gefährliche Routen aus und geraten in die Hände von Menschenhändler(inne)n. Eine erhebliche Zahl, insbesondere vom Westbalkan kommend, begibt sich - mangels anderer Einwanderungsperspektiven nach Deutschland - ohne Chancen auf eine Anerkennung als Flüchtling in die entsprechenden Verfahren. - Die Mobilität für EU-Bürger(innen) wird neuerdings als Problem wahrgenommen.
Von ihrem Recht, in Deutschland jederzeit Arbeit aufnehmen zu können, machen EU-Bürger(innen) seit Jahrzehnten regen Gebrauch und stellen seit langem die größte Einwanderergruppe.Durch wirtschaftliche Krisen in Europa und deren soziale Folgen hat sich die Dynamik noch verstärkt. Neu ist, dass die Freizügigkeit infrage gestellt wird. Insbesondere wenn sie aus einem östlichen Mitgliedstaat stammen, wurden gering qualifizierte EU-Bürger(innen) verschiedentlich als "Sozialtouristen" denunziert. Tatsächlich gibt es in einigen Kommunen Probleme etwa im Kontext von Prostitution oder Wohnungslosigkeit und Herausforderungen, beispielsweise Schul- und Kitaplätze in ausreichender Zahl bereitzustellen. Eine missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen tritt jedoch allenfalls vereinzelt auf und kann mit bestehenden Regelungen sanktioniert werden.
- Weltweit sind immer mehr Menschen auf der Flucht, wobei nur ein geringer Teil der Flüchtlinge nach Europa und Deutschland gelangt.
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs waren weltweit nie mehr Menschen auf der Flucht als heute.Jeder und jede kann zum Flüchtling werden: Alte und Junge, Arme und Reiche, Männer und Frauen. Anders als in Deutschland vielfach wahrgenommen verbleibt ein Großteil der Menschen während ihrer Flucht in der jeweiligen Herkunftsregion. Allerdings steigt nach Jahren der Stagnation auch die Anzahl der Flüchtlinge in Europa und Deutschland deutlich.
Flucht ist eine Folge von (Bürger-)Kriegen und Unrechtsregimen, deren Ursachen sich nicht allein auf die jeweiligen Krisenregionen beschränken.
Fluchtursachen lassen sich oftmals nicht monokausal erklären. Neben dem Handeln diktatorischer Regime und Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen wirken sich auch politische und wirtschaftliche Verflechtungen, etwa durch den Abbau bestimmter Rohstoffe oder den Export von Waffen in Krisenregionen, auf (innerstaatliche) Konflikte aus und können damit Flucht bedingen. - Flüchtlinge kommen auf verschiedenen Wegen.
Resettlement und humanitäre Aufnahmeprogramme des Bundes und der Länder ermöglichen bestimmten, jedoch sehr eng gefassten Personengruppen einen sicheren Weg zur dauerhaften Aufnahme in Deutschland. Weil die Außengrenzen auch abseits des Mittelmeers in den letzten Jahren immer stärker gesichert und überwacht werden, weichen Flüchtlinge außerhalb dieser Programme auf riskanter werdende Routen aus, auf denen nahezu täglich Menschen sterben. Dabei vertrauen sie sich mehrheitlich Schlepper(inne)n und Schleuser(inne)n an. Damit verbunden sind verschiedenste Gefährdungen und Bedrohungen: Menschen verlieren ihr Leben in überfüllten Booten und Fahrzeugen oder erleben Traumatisierung durch Vergewaltigung, Ausbeutung oder den Verlust von Familienangehörigen. - In Deutschland wird bei Zugang, Aufnahme und Status von Flüchtlingen differenziert.
Wird ein Mensch politisch verfolgt? Ist er schutzbedürftig? Muss er in seinem Heimatland eine akute Bedrohung fürchten? Diese Fragen geben in Deutschland seit jeher Anlass für Diskussionen. Unverzichtbar ist der Anspruch, dass jeder Schutzsuchende auf eine rechtsstaatlich einwandfreie Prüfung seiner Schutzbedürftigkeit bauen kann. Im Zuge des demografischen Wandels wird bei Aufnahmeprogrammen neben der Frage des Schutzbedarfs auch die Qualifikation vermehrt als Aufnahmekriterium diskutiert. - Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union werfen Fragen auf.
Die Standards der Aufnahme- und Asylsysteme sind in einigen europäischen Staaten mangelhaft. Außerdem kritisiert unter anderem die deutsche Bundesregierung die ungleiche Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU und mahnt die Solidarität der Mitgliedsländer in dieser Frage an. Theoretisch sieht das innereuropäische Zuständigkeitssystem ("Dublin-Verordnung") vor, dass das Verfahren von Flüchtlingen, die ohne Aufnahmeprogramm nach Europa kommen, in dem Land abläuft, in dem sie zuerst den Boden der Europäischen Union betreten haben. Individuelle Belange berücksichtigt das Dublin-System nur in Ausnahmefällen. Tatsächlich finden in absoluten Zahlen die meisten Asylverfahren in Ländern der Mitte und des Nordens statt - im Verhältnis zur Bevölkerung nehmen die kleinen Staaten die meisten Flüchtlinge auf.
Eine Lösung, die Staaten wie auch Schutzsuchenden gerecht wird, ist aktuell nicht absehbar, da letztlich alle Staaten auf die Begrenzung der Flüchtlingsaufnahme hinarbeiten.
Der Einsatz für Migrant(inn)en und Flüchtlinge bildet seit jeher einen zentralen Teil der "kirchlichen DNA". Die aktuelle Situation macht mit einem positiven Klima für Einwanderung Mut, zeichnet sich aber gleichzeitig durch das Leid von immer mehr Flüchtlingen auf dem Weg nach Deutschland und Europa aus. Teilweise überlagert eine nutzenorientierte Sicht auf Migrant(inn)en, aber auch auf Flüchtlinge, die beispielsweise Lücken im Rentensystem oder in der Versorgung mit Fachkräften oberste Priorität einräumt, Aspekte wie Solidarität und Menschenrechte. Die Caritas ist zweifach herausgefordert: Sie muss schnell helfen und sich gleichzeitig auf die Suche nach langfristig tragbaren Lösungen machen.
Die Unterstützung von Migrant(inn)en und Flüchtlingen mit ihren unzähligen individuellen Schicksalen prägt das Tagesgeschehen in Diensten und Einrichtungen der Caritas. Damit diese Hilfe nachhaltig wirkt, sollte sie noch häufiger bereits im Herkunftsland beginnen. Die Caritas muss sich bei ihren internationalen Partnern dafür einsetzen, dass Menschen schon dort umfassend und kompetent über die Situation im Zielland informiert und so falsche Erwartungen und Enttäuschungen vermieden werden.
Darüber hinaus müssen Wege gefunden werden, die helfen, das Sterben vor den Grenzzäunen und Küsten Europas zu beenden und unerträgliches Leid zu lindern - unabhängig davon, ob Menschen auf der Flucht oder auf der Suche nach Glück oder angemessen bezahlter Arbeit nach Europa kommen wollen. So Papst Franziskus: "Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird!" Im Spannungsfeld zwischen Flüchtlingsschutz und der Abwehr illegaler Grenzübertritte ist die Rettung von Menschenleben eine unverzichtbare humanitäre Aufgabe.
Nicht allein moralische und ethische Grundsätze, sondern auch menschenrechtliche Verträge verpflichten Staaten und Gesellschaften, den Zugang zu ihrem Territorium human zu regeln. Eine Abkehr von Grenzen und staatlichen Regelungsansprüchen hält die Caritas für unrealistisch. Einfache Lösungen gibt es nicht. Nötig sind vielmehr ein fortlaufendes Abwägen und eine Annäherung an praktikable Lösungen.
Caritas als Anwältin für bessere Zugangsmöglichkeiten nach Deutschland und Europa
Gemeinsam mit anderen sucht die Caritas nach Antworten, wie Deutschland und Europa den Flüchtlingsschutz sicherstellen können und wie Zugänge für Flüchtlinge und Migrant(inn)en fair und zukunftssicher zu gestalten sind. Dafür muss die Caritas vorrangig in einen Dialog mit politischen Entscheidungsträger(inne)n treten.
… für eine Politik, die über nationale Eigeninteressen hinaus weitere Aspekte berücksichtigt.
Gerade in Zeiten des demografischen Wandels ist es Aufgabe der Caritas, für eine ausgewogene Einwanderungspolitik einzutreten, die den legitimen wirtschafts- und bevölkerungspolitischen Erwägungen, den Interessen der Migrant(inn)en sowie der Lage in den Herkunftsstaaten gleichermaßen gerecht wird. Ihr weltweites Netzwerk stellt dafür eine zentrale Ressource dar.
Die Caritas vertritt gegenüber politisch Verantwortlichen in Deutschland und Europa folgende Positionen:
- Erleichterte Einwanderungsregelungen für Fachkräfte aus Drittstaaten sollten - orientiert am bestehenden Bedarf in Deutschland - auf wenig qualifizierte Arbeitskräfte ausgeweitet werden und den Menschen damit Perspektiven und Alternativen zu einer illegalen Einreise eröffnen. Zudem sollte es flexible Einwanderungsregelungen für Tätigkeiten ohne Berufsqualifikation wie Saisonarbeit oder Alltagsbegleitung von Pflegebedürftigen geben, die temporäre Migration ermöglichen. Dabei ist der Caritas bewusst, dass sich illegale Einwanderung dadurch zwar verringern, aber nicht vollständig verhindern lassen wird.
- Das europäische Freizügigkeitsrecht muss als historische Errungenschaft für alle EU-Bürger(innen) ungeachtet ihres persönlichen Hintergrundes geachtet und verteidigt werden: für Arme und Reiche, für Qualifizierte wie für Nichtqualifizierte. Die Idee eines Europas ohne Binnengrenzen darf nicht aus populistischen Gründen geopfert werden.
- Bei der Anwerbung von Arbeitskräften muss die Situation im jeweiligen Herkunftsland und insbesondere ein potenzieller Verlust von Fachwissen ("Braindrain") berücksichtigt werden. Um negative Wirkungen für die zurückbleibende Bevölkerung zu minimieren, muss es für Migrant(inn)en ferner einfacher möglich sein, den Kontakt zu halten und Familienmitglieder in die neue Heimat nachzuholen.
- Herkunftsstaaten von Migrant(inn)en müssen unter Umständen bei der Bewältigung der Migrationsfolgen Hilfe erhalten. So unterstützen etwa die internationale Arbeit der Caritas und andere kirchliche Hilfswerke Projekte für zurückgelassene Kinder und alte Menschen in allen Teilen der Welt.
- Obwohl dadurch in bestimmten Fällen der individuelle Migrationsdruck gemindert werden kann, tritt die Caritas Überlegungen entgegen, die Entwicklungszusammenarbeit zur Begrenzung weltweiter Wanderungsbewegungen zu instrumentalisieren.
… für die Orientierung am Schutzbedarf bei der Aufnahme von Flüchtlingen.
Bei der Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen von Aufnahmeprogrammen beziehungsweise Kontingenten müssen humanitäre Aspekte das maßgebliche Kriterium der Auswahl sein. Der Zielkonflikt im Spannungsfeld zwischen humanitärer Hilfe und berechtigten Eigeninteressen ist dabei angemessen auszugleichen.
… für eine Verwirklichung des Grundsatzes "Menschenschutz vor Grenzschutz".
Ein Verzicht auf Abschottung sowie eine Abkehr von einer abschreckenden Flüchtlingspolitik verlangt ein kontinuierliches Suchen nach Lösungen gemeinsam mit den Verantwortlichen in Deutschland und Europa. Die Caritas vertritt dabei - ohne über Patentrezepte zu verfügen - folgende Positionen:
- Die Diskussion darf sich nicht allein auf eine Bekämpfung des kriminellen Schlepperwesens fokussieren. So berechtigt dies als Teil einer Gesamtstrategie ist, als isolierte Maßnahme bliebe es jedoch weitgehend wirkungslos.
- Ohne eine Eröffnung neuer Zugangswege lässt sich die Zahl derer, die ihr Leben bei einer illegalen Einreise riskieren, nicht reduzieren. So müssen Deutschland und Europa etwa humanitäre Aufnahme- und Resettlementprogramme als zusätzliche Instrumente für bestimmte Personengruppen ausweiten und verstetigen. Auch bei einer Schaffung neuer Instrumente und Programme muss der Zugang individuell Schutzsuchender zum Asylsystem unabhängig von der Form der Einreise garantiert sein.
… für die Garantie des Asylrechts durch individuelle Verfahren.
Das Asylrecht und die Verpflichtungen des Flüchtlingsschutzes sind innerhalb der EU unabhängig vom Aufnahmestaat und der Zahl der Schutzsuchenden unbedingt zu achten. Dabei muss immer der jeweilige Einzelfall Grundlage für eine sorgfältige Prüfung sein.
… für eine solidarische Verantwortungsteilung in der Europäischen Union, die wirksamen individuellen Schutz sicherstellt.
Neben Zugang zu einem fairen Asylverfahren und angemessenen Aufnahmebedingungen sollten die Mitgliedstaaten der EU auf eine solidarische Verantwortungsteilung hinarbeiten, was möglicherweise durch finanzielle Anreizsysteme erreichen werden könnte. Die Caritas wirbt in diesem Sinne für eine Veränderung des bisherigen Systems - wohl wissend, dass dazu nationale Egoismen überwunden werden müssen.
… für nachhaltige Schritte zum Abbau von Fluchtursachen.
Mit ihrer internationalen Arbeit engagiert sich die Caritas in den entsprechenden Ländern, um die Folgen von Kriegen und innerstaatlichen Konflikten zu mildern. Doch getreu der Caritas-Jahreskampagne 2014 ist "weit weg näher, als du denkst": Auch in Deutschland muss die Caritas politische und zivilgesellschaftliche Beiträge leisten, die einer weiteren Eskalation von bewaffneten Auseinandersetzungen, etwa um Rohstoffe, entgegenwirken. Mögliche Ansatzpunkte sind beispielsweise ein schonender Umgang mit Ressourcen, ein nachhaltiges Konsumverhalten sowie restriktive Regelungen beim Waffenexport. Bei allen notwendigen Bemühungen bleibt festzuhalten, dass es Konflikte gibt, die sich einer externen Beeinflussung entziehen.
Die Gesellschaft in ihrer Vielfalt mitgestalten
Als ein Ergebnis grenzüberschreitender Flucht und Migration leben in Einwanderungsländern jene, die dort geboren und aufgewachsen sind, mit eingewanderten und geflüchteten Menschen zusammen. In Deutschland entfacht die Frage, wie dieses Miteinander funktionieren kann, bisweilen kontroverse und zuweilen unsachliche Diskussionen. Zwar gelingt das Zusammenleben hierzulande in einer in weiten Teilen längst multikulturellen, multireligiösen und vielfältigen Gesellschaft häufig gut. Dennoch zeigen sich bei den regelmäßig wiederkehrenden und emotionalen Integrationsdebatten oftmals Sorgen und Ängste, aber auch Abwertung und Rassismus.
2.1 Fakten und Trends
- Vielfalt ist in Deutschland alltäglich.
Nicht zuletzt durch Einwanderung ist Deutschland trotz regionaler Unterschiede in den letzten Jahren "bunter" geworden. Mitunter wird Vielfalt jedoch allein auf den sogenannten Migrationshintergrund reduziert und damit übersehen, dass sich auch Einwandernde und ihre Nachkommen anhand von Wertvorstellungen oder Lebensstilen differenzieren und unterschiedlichen Milieus angehören. - Die Stimme von Einwanderern wird gehört.
Während Verbände oder politische Parteien in der Vergangenheit mitunter als Fürsprecher(innen) auftraten, sind Migrant(inn)en und ihre Organisationen für Politik und Zivilgesellschaft mittlerweile anerkannte Gesprächspartner. - Das Zusammenleben in Deutschland ist insgesamt besser als sein Ruf, aber nicht frei von Herausforderungen und Problemen.
Ungeachtet heftig geführter "Einwanderungs- und Integrationsdebatten" funktioniert das tägliche Mit- und manchmal auch Nebeneinander vielfach ohne Probleme. Insbesondere in den Großstädten hat man sich aneinander gewöhnt. Viele Menschen engagieren sich für ein gelingendes Zusammenleben: als Einzelpersonen, in Sportvereinen, Wohlfahrtsverbänden, Migrantenorganisationen oder in Kirchen und Pfarrgemeinden. Dennoch leiden eingewanderte Menschen in Deutschland vielfach unter Ausgrenzung, Diskriminierung und fehlender Anerkennung. Dies erklärt sich dadurch, dass die beschriebene Ablehnung vor allem bestimmte Personen trifft und oftmals von denjenigen ausgeht, die selbst kaum mit migrantischer Vielfalt in Kontakt kommen. Im Einzelnen ist hierzu festzustellen: - Schutzsuchende sind Teil der Gesellschaft - deren Akzeptanz fällt ambivalent aus.
Die Reaktionen der Zivilgesellschaft auf Schutzsuchende sind gespalten: Vor dem Hintergrund weltpolitischer Ereignisse und der medialen Berichterstattung fordern viele Menschen, die Hilfe für Flüchtlinge zu verstärken. Vielfach kommt es zu beeindruckenden Unterstützungsaktionen, etwa von Kirchengemeinden. Betrifft das Thema das eigene Umfeld und zeigen sich in den Kommunen scheinbar unlösbare Probleme bei der angemessenen Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen, kommt es auch zu Abwehrreaktionen. Dazu gehören auch Proteste und Angriffe, die zum Teil durch rechtsextreme und -populistische Gruppen gesteuert und instrumentalisiert werden. - In Deutschland existiert eine "unsichtbare Vielfalt", die kaum Beachtung findet. Weitgehend unbemerkt leben in Deutschland Tausende Menschen unter prekären Bedingungen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität. Dazu kommen immer mehr Opfer von Menschenhandel, die hierzulande nicht nur als Prostituierte, sondern auch als Arbeitskräfte in Landwirtschaft, Bau, Gastronomie, Fleischverarbeitung oder Privathaushalten ausgebeutet werden. Öffentlichkeit und Politik schenken diesen Menschen kaum Beachtung.
- Der Umgang mit Vielfalt und Angst vor Veränderung kann überfordern, was sich teilweise in Diskriminierung und Rassismus niederschlägt.
Langzeitstudien zeigen, dass Rassismus in Deutschland ein Dauerthema ist. Wer dabei besonders im Fokus steht, wandelte sich im Laufe der Zeit: Derzeit trifft die Ablehnung vor allem Muslime und Roma. Wissenschaftler(innen) erklären dies zum einen mit Ängsten vor Veränderung im sozialen und räumlichen Umfeld, das mit seinen Gewohnheiten und Traditionen in einer komplexer werdenden Welt Sicherheit bietet. Durch den gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Wandel fühlen sich manche Menschen überfordert und reagieren mit Ausgrenzung. Auch gezielte Kampagnen haben ihren Anteil an einer zunehmenden Ideologisierung: Indem das problematische Verhalten einiger als Spezifikum einer Gruppe verallgemeinert wird, versehen Teile von Politik und Medien Schwierigkeiten mit einem migrantischen oder religiösen Hintergrund. Obwohl Haltungen keine unveränderlichen Konstanten sind, ist davon auszugehen, dass sich Rassismus ohne erhebliche Anstrengungen kaum zurückdrängen lässt. Diskriminierung speist sich zum Teil aus Rassismen und ist für Einwandernde und ihre Nachkommen insbesondere bei der Wohnungssuche, auf dem Arbeitsmarkt sowie bei Ämtern und Behörden nach wie vor allgegenwärtig.
Die Kirche und ihre Caritas setzen sich als Teil und Mitgestalterin der vielfältigen Gesellschaft dafür ein, dass sich Menschen in Deutschland unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder ihrem Aufenthaltsstatus mit Respekt behandelt und anerkannt fühlen. Aktuell macht das vielfach gelingende Miteinander vor Ort Mut, gleichzeitig zeigen sich in der Gesellschaft Tendenzen von ungerechtfertigter Ungleichbehandlung, Ausgrenzung und Rassismus. Auch der Umgang mit schutzsuchenden Menschen im Sozialraum ist trotz großer Bemühungen zahlreicher Gruppen und Initiativen verbesserungswürdig. Das verlangt von der Caritas Handeln im Dienste der zugewanderten Menschen. Sie muss gleichzeitig aber auch Antworten finden, wie zukünftig ein friedliches Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft gestaltet werden kann.
Zum einen ist ein anwaltschaftliches Wirken für bessere ausländer-, arbeits- und sozialrechtliche Rahmenbedingungen und größere Partizipationschancen nötig. Gerade wenn Menschen wenige Möglichkeiten haben, ihre Forderungen zu vertreten, ist diese Arbeit unverzichtbar. In erster Linie muss die Caritas daher für Flüchtlinge, Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität, ausgebeutete ausländische Arbeitnehmer(innen) sowie deren Familien eintreten. Anwaltschaft bedeutet auch, sich für bessere Partizipationschancen einzusetzen, damit Eingewanderte ihre Interessen mittel- und langfristig selbst vertreten können.
Zum anderen ist es für die Caritas geboten, an Zukunftsperspektiven für eine vielfältige Gesellschaft mitzuarbeiten und neue Ideen für eine Einwanderungsgesellschaft zu entwickeln, die ihre Bindungskraft behält.
Als Lösungsweg eine einseitige Anpassung von Migrant(inn)en an Bestehendes zu verlangen, wie es in Deutschland lange Zeit mehrheitlich gefordert wurde, kann schon deshalb nicht funktionieren, weil auch "das Bestehende" heterogen und ständiger Veränderung unterworfen ist. Keine Gesellschaft ist konfliktfrei: Stets gibt es Verhaltensweisen und Meinungen, die für jeweils andere nicht akzeptabel sind. Ein gelingendes Zusammenleben ist ein fortlaufender Prozess, der Bemühungen und Aushandlungsbereitschaft aller erfordert. Kontakt und Dialog zu fördern muss daher noch stärker zur originären Aufgabe der Caritas werden. Gesellschaftliche Veränderungen vollziehen sich ungleich langsamer als etwa Gesetzgebungsverfahren, weshalb die Caritas weniger schnelle Lösungen als perspektivische Verbesserungen anstrebt.
Als Solidaritätsstifterin neue Wege des Miteinanders finden
Schwerpunkt der Caritas ist es, in den kommenden Jahren Wege zu finden, wie das Miteinander in Deutschland gestaltet und der Zusammenhalt gesichert werden kann. Dafür macht sie konkrete Kontakt- und Dialogangebote für die gesamte Gesellschaft.
Im Kontext einer vielfältigen Gesellschaft setzt sich die Caritas besonders ein:
… für den Ausbau von Kompetenzen im Umgang mit Vielfalt im Verband.
Als Teil dieser Gesellschaft steht die Caritas selbst in der Verantwortung. Dazu muss sie den Blick nach innen richten. Was die Caritas von "der Gesellschaft" in Sachen Vielfalt - auch in diesem Papier - einfordert, sollte sie stets auch selbst beherzigen, denn auch im Verband gibt es Ängste und Vorbehalte. Deshalb muss die Caritas auch in den eigenen Reihen ein positives Verständnis für Vielfalt fördern und darüber hinaus die Zusammenarbeit mit Migrant(inn)enorganisationen intensivieren.
…für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
In einer Gesellschaft der Vielfalt bedarf es einer Haltung der Neugierde und Offenheit, die sich an Respekt und Anerkennung für verschiedene Lebensentwürfe und Kompetenzen zeigt. Um ein solches Klima zu erreichen, ist es nötig, die ausgrenzende gefühlsmäßige Trennung zwischen Eingewanderten und Nicht-Eingewanderten zu überwinden. Damit es nicht bei wohlklingenden Floskeln bleibt, muss die Caritas Menschen begleiten und ermutigen, diesen Weg zu beschreiten. Hierzu stehen verschiedene Instrumentarien zur Verfügung:
- Mit öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen oder Kampagnen wirbt die Caritas bei der Bevölkerung und innerhalb des Verbandes für ein neues Verständnis von Vielfalt.
- In ihrer Kommunikation nutzt die Caritas eine reflektierte und sensible Sprache, die Probleme präzise beschreibt, Unterschiede nicht diskreditiert und berücksichtigt, dass Worte einen Beitrag dazu leisten können, Trennungen und Ausgrenzung zu überwinden oder aber zu verfestigen.
- Zudem sucht die Caritas im täglichen Miteinander nach individuellen Lösungen, die sie erprobt, auswertet und fortlaufend weiterentwickelt. Mögliche Bausteine für Caritasverbände sind ein Mix aus Neuem und Altbekanntem: bürgerschaftliches Engagement von Kirchengemeinden, Gruppen und Einzelpersonen, Kooperationen mit neuen und alten Partner(inne)n, die Vermittlung einer stabilen Identität oder kreativ-innovative Begegnungskonzepte, die Menschen emotional ansprechen. Da es viele der genannten Aspekte bündelt, wird sozialräumliches Arbeiten in diesem Kontext immer bedeutsamer.
… für Dialog und den Abbau von Ängsten und Missverständnissen.
Die Caritas sieht eine Aufgabe darin, zwischen Personen und Gruppen zu vermitteln und dabei Ängste wahrzunehmen: Austauschmöglichkeiten bieten sich in sozialen Netzwerken, aber auch an realen Orten der Begegnung. Bestehende Probleme müssen benannt und sollten nicht mit dem pauschalen Hinweis auf eine bereichernde Wirkung von Vielfalt negiert werden. Stattdessen sorgt die Caritas für eine Versachlichung. Sie bereitet Informationen verständlich auf und benennt klar, wenn durch falsche Aussagen Ängste geschürt werden. Trotz grundsätzlichem Verständnis für die Sorgen von Menschen bezieht die Caritas klare Position gegen Rassismus und Menschenverachtung und steht uneingeschränkt an der Seite derer, die benachteiligt und angefeindet werden.
Caritas konsequent an den Menschen ausrichten
Veränderungen bei Migrations- und Fluchtbewegungen und im Umgang mit deren Folgen wirken sich auch auf die sozialen Dienstleistungen in einer Einwanderungsgesellschaft aus. Nicht nur die Migrationsdienste, sondern sämtliche Angebote und Leistungen des Wohlfahrtsstaates stehen vor der Herausforderung, sich an die Folgen der Mobilität ihrer Nutzer(innen) anzupassen. Daher fordert die Caritas nicht nur von Politik und Gesellschaft, mehr für Partizipation, Teilhabe und den kompetenten Umgang mit Vielfalt zu tun. Sie diskutiert auch, wie sie die eigenen Angebote verändern muss, um den veränderten Ansprüchen gerecht zu werden.
- Angebote der Caritas sichern Beratung und Unterstützung im Interesse der Einwandernden. Die Angebote der Caritas richten sich stets an den Interessen der Hilfesuchenden aus. Dies gilt für Bereiche, die ohne staatliche Zuschüsse getragen werden, ebenso wie für die Beteiligung an staatlichen Programmen. Derzeit werden mancherorts Aufgaben von freien Trägern auf die öffentliche Hand verlagert. Gerade im Kontext von Migration und Flucht kann darunter die erforderliche Parteilichkeit für die Ratsuchenden leiden: Unter Umständen liegen Beratung und Entscheidung in der Folge in der Hand einer Sicherheits- oder Ordnungsbehörde. Dadurch drohen Interessenkonflikte, die eine vertrauensvolle Beratung unmöglich machen können. Eine institutionelle Trennung von Beratung und Entscheidung ist unerlässlich. Da auch soziale Fragen Einfluss auf das Aufenthaltsrecht haben können, muss gesichert sein, dass es keine Weitergabe von Daten an die Ausländerbehörden gibt. Interessenskonflikte können sich auch ergeben, wenn freie Träger staatliche Aufgaben, etwa bei der Unterbringung von Flüchtlingen, übernehmen.
Was versteht die Caritas unter Sozialraumorientierung?
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Sozialraumorientierung ist für die Caritas ein Ansatz, der über den Einzelfall hinausblickt und das Ziel verfolgt, Sozialräume gemeinsam mit den Menschen und ausgehend von ihrem Willen und ihren Bedarfslagen zu gestalten. Bei der Umsetzung von Sozialraumorientierung gelten für die Caritas folgende handlungsleitende Prinzipien:
1. Interessen und Wille der Menschen als Ausgangspunkt
2. Eigeninitiative und Selbsthilfe als starke Motoren
3. Ressourceneinsatz aller Akteure vor Ort als Lösungsansatz
4. Zielgruppenübergreifender Fokus
5. Bereichsübergreifende Kooperation und Vernetzung
Wo liegen Ansatzpunkte für den Migrationsdienst?
Mit seinen Beratungsangeboten leistet der Migrationsdienst einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung von Einwandernden. Wenn es darum geht, zu einem gelingenden Zusammenleben beizutragen, ist die Fokussierung auf den Einzelfall unzureichend. Diese vielschichtigen Prozesse verlangen einen Perspektivenwechsel, wozu der Ansatz der Sozialraumorientierung einen Beitrag leisten kann: Um in einem lokalen Gemeinwesen für ein Klima des Willkommens und der Anerkennung zu sorgen, müssen alle Bewohner(innen) mit ihren spezifischen Ressourcen in den Blick genommen werden. Dieser Ansatz eignet sich für alle Herausforderungen, bei denen Lösungsmöglichkeiten innerhalb des Sozialraums liegen. Indem die Perspektive auf die Ressourcen, Interessen und Selbsthilfepotenziale gerichtet wird, kann zudem eine teilweise bestehende Defizitorientierung und Pädagogisierung überwunden werden. Für viele, aber nicht für alle Problemstellungen, mit denen der Migrationsdienst konfrontiert ist, bietet die Sozialraumorientierung Lösungsansätze: Geht es beispielsweise um (aufenthalts-)rechtliche Fragen, liegen die Antworten außerhalb des Sozialraums. - Die interkulturelle Öffnung der Dienste, Einrichtungen und Angebote bleibt eine Herausforderung.
Nach ihrem Verständnis stehen die Angebote der Caritas ausnahmslos allen Hilfesuchenden offen. Sie legt seit Jahren großen Wert auf die interkulturelle Öffnung ihrer Angebote. Um den Interessen einer sich wandelnden Klientel in allen Diensten und Einrichtungen gerecht zu werden, wurden Handreichungen verfasst und Konzepte erstellt.34 Und doch bleiben Öffnungsprozesse eine Herausforderung, die eine geänderte Haltung der Mitarbeitenden voraussetzen: Immer noch wirken sich Vorbehalte oder die Angst vor einer Verdrängung bisheriger Zielgruppen negativ aus. Die Ausrichtung auf neue Klient(inn)engruppen stockt ferner, wenn sich Mitarbeitende mit Aufgaben konfrontiert sehen, auf die sie nicht vorbereitet wurden. Dies kann dazu führen, dass Migrant(inn)en ungeachtet ihres Anliegens von den jeweiligen Fachdiensten an den Migrationsdienst verwiesen werden.
- Spezialisierte Angebote für Fragen von Migration und Flucht sind unverzichtbar - unterliegen jedoch einem Wandel.
Neben Zugang zu allen Diensten und Einrichtungen, die auch Menschen ohne Migrationserfahrung nutzen, benötigen Einwandernde spezielle Angebote, wenn es um migrationsspezifische Fragestellungen geht. Die Migrationsdienste haben sich als wichtiger Teil der Beratungslandschaft in Deutschland etabliert und stetig weiterentwickelt. Ausgehend von einer getrennten Beratung für unterschiedliche Nationalitäten steht heute ein ausdifferenziertes Angebot für jugendliche und erwachsene Migrant(inn)en und Flüchtlinge zur Verfügung. Aktuell wird unter Bezugnahme auf das Konzept der Sozialraumorientierung der Beitrag des Migrationsdienstes für ein gelingendes Miteinander diskutiert.
Der Einsatz der Kirche für Menschen in Not zeigt sich heute in bürgerschaftlichem Engagement, gemeindlichen Netzwerken sowie den Verbänden, Diensten und Einrichtungen der Caritas. Die bestehenden, qualitativ guten Unterstützungsangebote sind eine ermutigende Basis für die nötige Weiterentwicklung. Eine solche ist unter anderem bei der interkulturellen Öffnung und einem verstärkten Blick auf die Potenziale des Sozialraums nötig. Auch in diesem Fall gilt, dass der Verband nicht nur die aktuellen Herausforderungen bewältigen, sondern auch konsequent an den Perspektiven für die Arbeit von morgen arbeiten muss: In den örtlichen Diensten und Einrichtungen bietet die Caritas Menschen Unterstützung für ihre Anliegen und bemüht sich darum, ihnen möglichst nachhaltig weiterzuhelfen.
Blickt man über die tägliche Arbeit hinaus, geht es darum, notwendige soziale Dienstleistungen zu erhalten und zu entwickeln. Dazu gehört die finanzielle Seite: Die im Sinne der Ratsuchenden unverzichtbare unabhängige, unparteiliche und freiwillige Beratung durch freie Träger muss abgesichert werden. Unter anderem tritt die Caritas - mit dem Ziel eines flächendeckenden, unabhängigen und individuellen Angebots - für eine öffentlich finanzierte Asylverfahrensberatung sowie eine Beratung von Opfern von Arbeitsausbeutung ein. Zur Schaffung und Sicherung von Angeboten bieten sich auch neue Wege an: Wenn Unternehmen ausländische Arbeitnehmer(innen) anwerben, stehen sie in der Verantwortung, diese und ihre Familien zu unterstützen. Die Caritas begrüßt daher lokale Kooperationen mit Betrieben, Industrie- und Handelskammern oder weiteren Akteur(inn)en. Ungeachtet dessen stehen die Kirche und ihre Caritas selbst in der Pflicht und stellen für diese ureigene Aufgabe in jüngster Zeit verstärkt eigene Mittel bereit.
Im Zentrum dieses Papiers steht die inhaltliche Weiterentwicklung von Angeboten. Derzeit gibt es einen hohen Spezialisierungsgrad, der eine Entwicklung etwa in Richtung stärkerer Sozialraumorientierung erschwert. Die Verantwortung für diese Spezialisierung auf bestimmte Zielgruppen und die Einengung ("Versäulung") der dazugehörigen Arbeitsfelder liegt teilweise bei den Zuwendungsgebern. Damit die Finanzierungsstrukturen die Innovationskraft nicht hemmen, muss die Caritas Gespräche mit dem jeweiligen Zuwendungsgeber suchen, um Förderprogramme, etwa in Richtung einer stärkeren Öffnung für den Sozialraum, weiterzuentwickeln. Teilweise ist fehlende Weiterentwicklung aber auch Routinen, Festlegungen und Beschränkungen innerhalb der Caritas geschuldet, die immer wieder hinterfragt werden müssen.
Als Dienstleisterin Angebote öffnen und weiterentwickeln
Schwerpunkt der Caritas ist es, in den kommenden Jahren ihre Angebote zu prüfen, zu reflektieren und weiterzuentwickeln, damit sie allen Menschen nachhaltige Unterstützung bieten. Dazu nimmt sie die verbandlichen Strukturen in den Blick.
Bei der Weiterentwicklung ihrer eigenen Angebote setzt sich die Caritas besonders ein:
…für einen in allen Bereichen und Feldern interkulturell geöffneten Verband.
Die Angebote der Caritas - von der Kindertages- bis zur Altenhilfeeinrichtung - müssen allen Ratsuchenden zugänglich sein, auch besonders schutzbedürftigen Menschen. Es gilt, Zugangshürden abzubauen, die beispielsweise durch Sprachbarrieren, eine fehlende Krankenversicherung oder einen unsicheren Aufenthaltsstatus bestehen. Diese Erkenntnisse sind nicht neu: Um nachhaltige Fortschritte zu erzielen, müssen Mitglieder und Gliederungen der Caritas die interkulturelle Öffnung flächendeckend als Aufgabe der Verbandsentwicklung festschreiben. Nur so ist sichergestellt, dass alle Mitarbeitenden neben den bewährten Ansätzen künftig so qualifiziert sind, dass sie eine sensible Haltung für unterschiedliche Lebenswege entwickeln und der Migrationsdienst nicht als "Auffangbecken" für alle Angelegenheiten von Eingewanderten und deren Nachkommen verstanden wird.
…für eine stetige Weiterentwicklung der Migrationsdienste.
Ausgangspunkte für eine Weiterentwicklung der Migrationsdienste sind deren Kernkompetenzen: die Erstberatung beziehungsweise die Unterstützung von Einwander(inne)n bei der Orientierung. Hier wie auch bei der anschließenden Begleitung und Beratung mit dem Ziel gesellschaftlicher Teilhabe müssen die Dienste ihre Kompetenzen, etwa im Bereich des Aufenthaltsrechtes, ausbauen.
Ein weiterer Baustein ihrer Weiterentwicklung ist die sozialräumliche Ausrichtung: Migrationsdienste müssen sich selbst noch stärker als Teil des Sozialraums verstehen.
Auch künftig wird es für sie immer wieder darum gehen, neue Entwicklungen aufzugreifen, Instrumentarien weiterzuentwickeln und Bestehendes infrage zu stellen. Zur Förderung von Partizipation und Innovation sollte die Caritas dabei Nutzer(innen), aber auch Forschungseinrichtungen in die Ausgestaltung von Angeboten einbeziehen. Mit Blick auf Herausforderungen durch Vielfalt bedarf es künftig möglicherweise unter den Schlagworten "zuhören" und "zum Nachdenken bringen" auch Angebote, die auf jene zugehen, die sich mit Veränderung und Vielfalt überfordert sehen.
Im Kontext der Themen dieses Papiers werden Begrifflichkeiten und Konzepte immer wieder infrage gestellt. Teils geht es um semantische Diskussionen, teils um die Qualität und Ausrichtung der Arbeit. Im Folgenden werden unterschiedliche Begrifflichkeiten beziehungsweise Begriffspaare erläutert und der eigene Sprachgebrauch begründet. Grundsätzlich gilt es, auf missverständliche und unpräzise Formulierungen zu verzichten und Phrasen kritisch zu reflektieren.
Exkurs:
Integration und/oder Inklusion
Die Diskussion um Inklusion (und Exklusion) begann nicht erst mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 - geriet aber mit den Debatten in der Behindertenhilfe zunehmend in den Blickpunkt: Konkret geht es darum, Heterogenität als Normalität anzuerkennen und alle Individuen als Teil der Gesellschaft "so anzunehmen, wie sie sind". Letztlich ist dies kein neues Verständnis: Auch bei der Integration handelt es sich um einen gegenseitigen Prozess, in dem Systeme an den Bedürfnissen von Individuen ausgerichtet werden müssen. Weil der Begriff "Integration" aber oftmals als einseitige Anpassung an bestehende Verhältnisse missverstanden wird, wird er in diesem Papier (außer in beschreibenden Passagen) vermieden. Auch neue Begriffe lösen jedoch alte Irrtümer nicht auf, weshalb gleichzeitig darauf verzichtet wird, Integration durch die vermeintlich zeitgemäße Inklusion oder ein anderes Synonym zu ersetzen. Vielmehr wird der Versuch unternommen, missverständliche Formulierungen durch präzises Beschreiben aufzulösen.
Leben in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität
Europaweit ist die Bezeichnung der Menschen, die sich ohne ausdrückliche Erlaubnis kraft Gesetz oder einen Aufenthaltstitel in einem Land aufhalten, umstritten: "Illegale", "Irreguläre", "Sans Papiers" und "Clandestinos" oder "Statuslose" sind hierfür nur einige Beispiele. Manches sind semantische Diskussionen ohne inhaltliche Relevanz - wie die Diskussion um "Illegalität" oder "Irregularität". Klar ist jedoch, dass die Eigenschaft der "Illegalität" an der Einreise oder am Aufenthaltstitel - nicht aber am Menschen - anknüpfen darf, weshalb im vorliegenden Papier die Bezeichnung der "aufenthaltsrechtlichen Illegalität" genutzt wird.
Menschen mit Migrationshintergrund
Zunehmend wird die Bezeichnung "Mensch mit Migrationshintergrund" als ausgrenzend wahrgenommen - als Eigenschaft, die sich ohne eigenes Zutun über Generationen weitervererbt. Bei der Situationsbeschreibung oder der Schaffung von Unterstützungsmaßnahmen mag diese Kategorie - trotz der großen Heterogenität der Gruppe - zum Teil erforderlich sein. Viel zu oft wird der Begriff im täglichen Sprachgebrauch aber fälschlicherweise als Synonym gebraucht: Tatsächlich geht es beispielsweise um Ausländer(innen), um Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit oder um Personen mit einem vermeintlich nicht-deutschen Namen. Im vorliegenden Papier wird die Nutzung der Bezeichnung "Menschen mit Migrationshintergrund" kritisch reflektiert und nur in sehr begrenztem Umfang genutzt.