Firmlinge schlüpfen in die Rolle alter Menschen
Strahlender Sonnenschein rund um den Tegernsee. Hervorragende Voraussetzungen für das Firmlingsprojekt „Caritas hautnah“, welches an diesem Tag in Rottach-Egern stattfindet. Der Pfarrverband Tegernsee-Egern-Kreuth, die Caritas und die Katholische Jugendstelle in Miesbach haben dieses einmalige Gemeinschaftsprojekt ins Leben gerufen, um Firmlingen verschiedene Aspekte der Nächstenliebe nahezubringen. Die Jugendlichen im Alter von zwölf bis 14 Jahren können an mehreren Workshops teilnehmen. Zum Beispiel dürfen sie im Selbstversuch erfahren, wie sich hohes Alter körperlich anfühlt und welche Auswirkung die Einschränkungen im Alltag haben.
Weniger Beweglichkeit im Alter
„I fühl mi, als wär i 89“, sagt Jakob in bairischem Dialekt und hebt den Arm. „Schwar, des Teil.“ Der schmale 14-Jährige ist gerade in einen sogenannten gerontologischen Alterssimulations-Anzug, kurz „GERT“, geschlüpft. Dieser besteht aus Gewichtsmanschetten, Gelenkbandagen sowie Brille und Ohrenschützern. Knapp 20 Kilo bringt er auf die Waage und ermöglicht es, die Einschränkungen eines alternden Körpers am eigenen Leib zu spüren: Die Muskeln lassen nach, die Bewegungen sind stark verlangsamt, und man sieht und hört schlechter. Derart ausgestattet, soll Jakob nun einige Aufgaben erledigen. Begleitet wird er von Firmling Paul, ebenfalls 14 Jahre alt, der bei Bedarf eine helfende Hand reichen kann. Nach 45 Minuten sollen die Rollen getauscht werden.
In einen nahen Laden gehen, ein Grablicht kaufen und anzünden. Diese einfache Aufgabe wird dank GERT zu einer Herausforderung für die Jugendlichen. Die Stimmung ist gut, als die Gruppe von ihrem Ausgangspunkt aufbricht, der Volksschule Rottach-Egern. Jakob und Paul sind ausgelassen und zu Scherzen aufgelegt. Zehn Minuten später sinkt die Stimmung leicht, denn die Gewichte und Bandagen wirken: Jakobs Schultern hängen, den Armen fehlt der Schwung, der Gang wird unsicher. „Das ist echt anstrengend“, meint der junge Mann. Ihm fällt auf, dass nicht nur der Bewegungsapparat eingeschränkt ist. Als er eine Straße überqueren will, hält Paul seinen Partner schützend zurück, weil ein Auto kommt. „Das hab ich jetzt echt nicht bemerkt. Ich hör nichts“, kommentiert Jakob und schaut nun noch aufmerksamer auf den Straßenverkehr. Zudem spricht er auffallend laut, womit er vermutlich ­seine simulierte Schwerhörigkeit kompensiert.
Mühseliges Treppensteigen
Im Supermarkt wird es noch heftiger für Jakob: Zwanzig Stufen geht es eine Treppe hinunter. Vorsichtig geht Jakob Schritt für Schritt, immer eine Hand fest am Geländer. Ohne GERT wäre er wohl innerhalb weniger Augenblicke unten und wieder oben, doch auch der Rückweg treppauf gestaltet sich unerwartet anstrengend und dementsprechend langsam. Auch hier setzt Jakob immer wieder einen Fuß auf die Stufe, sucht erst nach sicherem Stand, bevor er den anderen Fuß auf die gleiche Stufe nachzieht. Oben angekommen ist er ein wenig außer Atem. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer ist“, gibt er zu bedenken. Nach den Einkäufen fragt Jakob, nur halb im Scherz: „Gibt’s hier irgendwo eine Bank? Ich würd’ mich gerne hinsetzen.“ Zu seiner Erleichterung findet er eine solche recht schnell. Als sich die Jugendlichen hinsetzen und die Gesichter in die Sonne recken, fühlt man sich unwillkürlich an eine Gruppe Senioren erinnert, die auf einer Parkbank die ersten warmen Tage genießt. Dann macht sich unser Probe-Rentner daran, die eben gekaufte Kerze anzuzünden. Das ist in einem GERT gar nicht so einfach: Die behandschuhten Finger fühlen nicht mehr so gut, die Gewichte an den Handgelenken lassen die Hände zittern. Nach einigen Versuchen gelingt das Vorhaben schließlich. Zufrieden pustet Jakob sein Streichholz aus.
Jeder darf GERT mal tragen
Nun ist es an der Zeit, den Anzug zu wechseln. „Man fühlt sich ganz leicht, wenn man aus dem Ding raus ist“, erzählt Jakob fröhlich. „Und irgendwie auch erleichtert. Wirst sehen, Paul“, sagt er zu seinem Partner, als dieser sich anzieht. Dem hochgewachsenen Paul merkt man die Wirkung der Gewichte noch deutlicher an als dem kleineren Jakob. Die Haltung ist sichtbar verändert, die Schultern hängen, die Wirbelsäule ist gekrümmt. Im Laden hat er aufgrund der Brille, die eine Sehschwäche simuliert, etwas Schwierigkeiten, die Preisschilder zu entziffern. Aber auch er sitzt nach etwa einer halben Stunde auf der Bank, die brennende Kerze in Händen. Sein Gesicht ist nachdenklich. Er „kann kaum glauben, was alte Menschen ihren Lebtag lang aushalten müssen“. Als wir zurück in der Volksschule sind und auch Paul sich der Last entledigt hat, ist er sich mit Jakob einig: Nach dieser Erfahrung werden sie in Zukunft viel mehr Verständnis für alte Menschen aufbringen können. „Und Geduld auch, hoff’ ich“, scherzt Jakob.
Selbstversuch des Autors
Nachdem die Workshops vorbei sind, habe ich – 23-jähriger Werkstudent im Caritasverband München und Freising – Gelegenheit, in den Anzug zu schlüpfen. Schnell kann ich die Eindrücke der Jugendlichen nachvollziehen: Ich bin ungewohnt eingeschränkt, Alltagshandlungen sind viel anstrengender. Beim Schreiben fangen die Hände aufgrund der Gewichte an den Gelenken schnell an zu zittern, und als ich mich auf den Boden setze, muss ich mich erst auf alle Viere drehen, um wieder aufstehen zu können. Es ist eine gute Erfahrung, nach der auch ich mir vornehme, in Zukunft geduldiger mit alten Menschen zu sein, die sich langsam bewegen. Trotzdem bin ich doppelt erleichtert, als ich GERT wieder ablege. Denn bis diese Einschränkungen auf natürlichem Wege kommen, habe ich zum Glück noch etwas Zeit.
Quelle dieses Beitrags: neue-caritas-Jahrbuch 2020, S. 221 ff.