Einzelne Wörter können funktionale Analphabeten lesen, ganze Texte nicht. (Foto: Archiv/Colourbox)
Eine hingekritzelte Unterschrift, eine Tüte voller ungeöffneter Briefe, Ratlosigkeit beim Formular ausfüllen - im Caritas-Diakonie-Centrum Tuttlingen werden die Berater bei solchen Vorfällen hellhörig: Hat da jemand Probleme beim Lesen und Schreiben?
"Die Dunkelziffer ist riesig, weil die Betroffenen sich schämen", sagt Caritas-Geschäftsführerin Ulrike Irion. Deshalb will die Caritas nun möglichst niederschwellig versuchen, diesen Menschen zu helfen. In drei offenen Gruppen vermitteln zwei Mitarbeiterinnen seit einigen Wochen Lesen und Schreiben. Weitere Interessierte können noch dazukommen.
Das Angebot, gefördert von Bundesmitteln, richtet sich an alle, die diese Probleme haben. Oft sind es Migranten, aber nicht nur, die Bandbreite ist riesig. "Kürzlich kam eine Frau, die super Deutsch spricht, aber nicht lesen kann", sagt Annika Pohl, die zwei der Treffen leitet, im Hauptberuf ist sie Deutschlehrerin. Einige Besucher hätten gute Vorkenntnisse, andere täten sich allgemein schwer, erzählt sie. "Man muss erstmal schauen, was die Leute können, dann können sie oft gut in Teams zusammenarbeiten."
"Funktionaler Analphabetismus" heißt das, womit die Betroffenen zu kämpfen haben, in der Fachsprache. Sie können einzelne Sätze lesen oder schreiben, aber keine zusammenhängenden Texte verstehen. Das Bundesbildungsministerium geht davon aus, dass 7,5 Millionen Menschen in Deutschland betroffen sind. "Im Alltag heißt es dann: Ich hab meine Brille vergessen, oder: Das ist so klein geschrieben", berichtet Ulrike Irion von ihren Erfahrungen. In vielen Situationen kommen die Leute damit durch, doch was ist mit E-Mails schreiben, Busfahrpläne lesen, Anträge bei Behörden stellen?
Spielerisch lernen
Genau da setzen die Treffen an. "Wir lesen Texte, schreiben Kleinigkeiten, spielen auch mal Spiele", beschreibt Barbara Stehle, die die dritte Gruppe leitet. Sie engagiert sich schon länger nebenberuflich bei Buntgut, dem Nähprojekt der Caritas. Dort hat sie mit Migrantinnen zu tun, die auch oft Probleme mit der Sprache haben. In den Sprachtreffen erlebt sie nun, dass die Teilnehmer "Feuer und Flamme" seien, Lesen und Schreiben richtig zu lernen.
Ähnliches erlebt auch Annika Pohl: "Viele sind froh, dass sie endlich was gefunden haben, vor allem etwas, wo sie auch mit Kindern hingehen können." Kinderbetreuung gehört bei zwei Treffen mit dazu.
Die Beteiligten hoffen nun, dass das Angebot noch stärker angenommen wird. Der Bedarf, ist Irion überzeugt, sei auf jeden Fall da. Einzig Flüchtlinge, die noch keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben, sind zunächst ausgeschlossen.