Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege wendet sich an Öffentlichkeit und bittet nachdrücklich um ernsthafte und zielgerichtete Unterstützung ihres Dienstes - "Wir vermissen, dass man die Altenpflege wirklich ernst nimmt."
Augsburg, 06.04.2020 (pca). Die Altenpflege steht unter Druck wie nie zuvor. Allein in der Schwabenmetropole leben rund 3.200 Menschen in Altenheimen, rund 300 in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe. Ewa 5.000 ältere Menschen werden durch die ambulanten Dienste der Altenpflege versorgt. Sie alle sind durch den Corona-Virus besonders gefährdet. Doch wer glaubt, dass Politik und Behörden diesen Einrichtungen und Diensten der Altenpflege mit einheitlichen Vorgaben und einer bevorzugten Behandlung z.B. bei Testungen zur Seite stehen, der irrt sich. "Wir erhalten ständig Anordnungen, die sich teilweise überbieten, die sich teilweise widersprechen und teilweise falsch sind", brachte es Pfarrer Fritz Graßmann, Vorsitzender der Augsburger Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und Theologischer Vorstand der Diakonie Augsburg, auf den Punkt.
"Unsere Pflegekräfte leisten wirklich ihr Bestes, sie wollen die ihnen anvertrauten Menschen bestmöglich schützen und pflegen. Doch wir merken, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr und mehr Angst haben, auch weil so viele Rahmenbedingungen dazu beitragen, die Unsicherheit in dieser ohnehin unsicheren Zeit noch zu verstärken ", sagte er am Montag in Augsburg. Aufgrund dieser zunehmen Verunsicherung und der Sorge nicht nur um der anvertrauten älteren und behinderten Menschen, sondern auch um der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatte er die Arbeitsgemeinschaft zu einer Pressekonferenz in das Christian-Dierig-Haus zu einer Pressekonferenz eingeladen. Sie erwies sich als ein Notschrei der Altenpflege an die Verantwortlichen in der Politik und bei den Behörden.
Schuld an der gegenwärtigen verunsicherten Situation ist nicht nur der gravierende Mangel an Schutzkleidung. Es sind, so die anderen Vertreter der Arbeitsgemeinschaft, Susanne Greger für die Eigenbetriebe der Stadt Augsburg), Christine Deschler für die privaten ambulanten Pflegedienste, Werner Blochum für die katholischen und ökumenischen Sozialstationen, Martina Kobriger für den Sozialdienst katholischer Frauen und Eckard RAsehorn für die AWO, die unklaren, sich widersprechenden und auch benachteiligenden Rahmenbedingungen für ihre Arbeit.
In St. Verena, dem Caritas-Seniorenzentrum der CAB Caritas Augsburg Betriebsträger gGmbH am Kappelberg in der Augsburger Innenstadt, beobachteten in der vergangenen Woche Pflegekräfte, dass Bewohner Symptome hatten, die den Verdacht aufkommen ließen, das sie am Corona-Virus infiziert seien. "Wir mussten dann einen ganzen Tag herumbetteln, bis alle zehn Bewohner getestet waren", klagte Brigitta Hofmann, Geschäftsführerin der CAB Caritas Augsburg Betriebsträger gGmbH. Zwei sind positiv getestet, wie sie bei der Pressekonferenz bekannt gab, für die anderen acht Personen liegen bis heute am Montag keine Ergebnisse vor. Nur aufgrund eigenen Bemühens und Drängens sei es am Samstag schließlich gelungen, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in St. Verena durchzutesten.
Auch Eckard Rasehorn von der Arbeiterwohlfahrt berichtete von einer Person, die bei sich zuhause von der Sozialstation der AWO gepflegt wird. "Wir können sofort sagen, wer von unserer Seite mit der Person Kontakt hatte, aber es ist noch niemand davon getestet worden. Bei der einen Person heißt es ja, bei der anderen nein." Auf dieser Grundlage könne niemand derzeit vernünftige Dienstpläne schreiben, unterstrich Hofmann. "Wir können ja auch nicht einfach Pflegekräfte für zwei Wochen nach Hause schicken." Martina Kobriger, Geschäftsführerin des Sozialdienstes Katholischer Frauen, zu dem die stationäre Pflegeeinrichtung St. Afra im Domviertel gehört, wies auf den ohnehin bestehenden Pflegekräftemangel hin. "Seit einem dreiviertel Jahr suche ich vergeblich nach einer Pflegefachkraft. Wenn jetzt eine Kraft wegen des Corona-Virus nach der anderen ausfällt, muss ich das Haus schließen", warnt sie.
Deshalb sind die Vertreter der Augsburger Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege einig: "Wir brauchen von ganz oben die klare Regelung und Anordnung, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Pflegediensten bevorzugt getestet werden und dass Reihentestungen durchgeführt werden. Es darf nicht der Fall sein, dass Gesundheitsämter dazu jeweils eigene Anordnungen erlassen."
Christine Deschler wünscht sich, dass auch eine Testung mit dem Ziel durchgeführt wird zu prüfen, "damit wir wissen, bei wem der Körper schon eine Immunantwort auf das Virus gegeben hat und nun nach heutigem Kenntnisstand für zwei bis drei Jahre gegen COVID-19 immun ist. Diese Person könnten wir dann gezielt bei infizierten Personen einsetzen."
Auch was die Behandlung der Altenpflegeeinrichtungen und -dienste durch die Ärzte betrifft, fühlen sich die Vertreter der Altenpflege in Augsburg stiefmütterlich behandelt. "Wir hängen wie alle anderen Privatpersonen in der Leitung fest. Ich muss schon Mitarbeiterinnen abstellen, damit die sich um das Telefonieren kümmern. Manche Praxen verweisen dann auf die Kummer-Nummer 116 111", berichtet Hofmann. "Wir brauchen einen direkteren Zugang zu den Ärzten mit einer eigenen Nummer. Die Ärzte können sich darauf verlassen, dass wir nur aus gutem Grund anrufen." Rasehorn fordert deshalb: "Wir brauchen mehr Unterstützung durch die Kassenärztliche Vereinigung."
Ruhe und Stabilität im Hinblick auf die Schutzkleidung wird dringlichst gewünscht. Schon die Bewohner und Angehörige seien durch ständig wechselnde Informationen unsicher. Zudem würden sie auf die Pflegedienste unnötigerweise Druck ausüben. ("Unsere Pflegekräfte wissen schon, was zu tun ist und was sie zu beachten haben", setzt Hofmann dagegen.) "Eigentlich bräuchten wir die mehrlagigen MNS-Schutzmasken. Sie sind vorgeschrieben. Aber wir haben sie nicht", sagt Rasehorn. "Das macht großen Ärger. Es löst unter unseren Mitarbeitenden auch Wut aus."
Der Markt verlangt zudem für Schutzmasken horrende Preise. Kosteten sie zu normalen Zeiten vor der Corona-Krise 45 Cent, so verlangen die Hersteller jetzt 18 Euro pro Stück. Hofmann hat für die 15 Caritas-Seniorenzentren, die zur CAB gehören, kürzlich 2.000 Stück zu diesem Preis pro Stück bestellt. "Dabei weiß ich nicht, wer mir diesen Mehrpreis ausgleicht." Auch wenn die CAB für die Schutzbekleidung Lagerbestände habe, wisse sie nicht, wie lange diese ausreichten. "Das ist jetzt alles Kaffeesatzleserei."
Denn schon kommt eine neue Sorge hinzu. Die Altenpflegeeinrichtungen und -dienste müssen jetzt laut dem bayerischen Innenministerium ihre Lagerbestände melden. "Wir haben jetzt für drei Tage das Material für die Vollschutzbekleidung. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, wie morgen oder übermorgen die Situation aussieht, weil ich nicht weiß, ob das Innenministerium auf meine Schutzbekleidung zurückgreift, um sie an andere Stellen weiterzuleiten."
All diese Fragen und Unsicherheiten, unklare Vorgaben bereiten den Verantwortlichen für Altenpflege in Augsburg Sorgen genug. Eine steht zurzeit noch ganz im Hintergrund. Die stationären Einrichtungen dürfen niemanden mehr aufnehmen, den ambulanten Diensten kündigen Kunden. "Einnahmen brechen weg", so Pfarrer Graßmann. Das Personal wird aber weiter gebraucht. Krisenbedingte Zusatzausgaben steigen. Pfarrer Graßmann treibt deshalb die Sorge um, "dass uns die Luft ausgeht." Schon vor der Krise wären Einrichtungen und Dienste "auf der Kante gestanden". "Diese sind jetzt schon darüber."
Doch trotz dieser finanziellen Not werden alle ihren Dienst und ihre Pflicht erfüllen. "Für uns alle gilt, Augen zu und durch", betont Deschler von den privaten ambulanten Diensten. "Die Frage nach der Liquidität wird sich uns erst am Ende stellen", so Kobriger vom SkF.
Dreger von den Eigenbetrieben der Stadt Augsburg unterstreicht vor diesem Hintergrund die Systemrelevanz der Altenpflege und mahnt gleichzeitig in Richtung der Politik, nicht nur vorrangig die Pflege in den Krankenhäusern zu sehen. "Je besser wir aufgestellt sind, je besser wir ausgestattet sind und je besser wir tatsächlich unterstützt werden, umso mehr können wir die Akkutkliniken entlasten."
Die Pressekonferenz, die in dieser außergewöhnlichen Situation in Augsburg mit der vorgeschriebenen Distanz von Person zu Person stattfand, machte aber deutlich, dass Dregers Aussage noch ein nicht erfüllter Wunsch ist. Die Geschäftsführerin der CAB, zu der der 15 Caritas-Seniorenzentren gehören, ergänzt deshalb zum Schluss dieses öffentlichen Notschreis der Altenpflege: "Wir vermissen, dass man die Altenpflege wirklich ernst nimmt."