Fragen und Antworten
Wieso wurden Kinder verschickt?
Ziel der Kinderkuren war bei den meisten Maßnahmen die gesundheitliche Stärkung bei guter Ernährung und in frischer Luft. Verschickt wurden Kinder aus allen sozialen Schichten. Die Kuren wurden meist von Ärzt:innen verschrieben oder von der "Fürsorge", zum Beispiel von Jugend- und Gesundheitsämtern veranlasst. Die Kosten trugen meistens Rentenversicherungen und Krankenkassen.
Was ist geschehen?
Der Alltag und die pädagogische Praxis in den Kinderkureinrichtungen waren sehr unterschiedlich und vielschichtig. Es ist heute aus vielen Erlebnisberichten bekannt, dass ein Teil der verschickten Kinder in den Kinderkureinrichtungen Leid erleben musste. Betroffene berichten von Demütigungen, Gewalt und Misshandlungen. Die Forschungsergebnisse zeigen erschreckende Erlebnisse wie Essenszwang, Redeverbote, Prügel und Medikamenteneinsatz.
Welche Dimension hat das Thema?
Bundesweit gab es zwischen 1951 und 1990 mehr als 2.000 Heime in unterschiedlicher Trägerschaft. Nach den Forschungsergebnissen der Humboldt-Universität hatten in diesem Zeitraum zwischen 9,8 und 13,2 Millionen Kinder und Jugendliche Aufenthalte in Kinderkur- und -Erholungsheimen.
In den Medien wird das Thema fast ausschließlich als ein rein bundesdeutsches Thema behandelt, und die Betroffenen, die sich öffentlich äußern, sind vorwiegend aus der alten Bundesrepublik. Doch auch in der DDR gab es in großem Umfang Kinderkuren, und in den Betroffenenforen melden sich auch Menschen aus Ostdeutschland zu Wort. Dazu liegen allerdings bisher keine systematischen Erkenntnisse vor. Eine erste Untersuchung hat Julia Todtmann mit ihrer Masterarbeit (2022) vorgelegt. Weiterhin hat es Kinderverschickungen auch in anderen europäischen Ländern gegeben. Hierzu stehen nähere Forschungen noch aus.
Gab es katholische Kinderkurheime?
Die Kirchen waren durch ihre Wohlfahrtsverbände beteiligt. Ein Drittel aller Einrichtungen lag in privater Hand, gefolgt von der Caritas (20,4 Prozent), der Diakonie (11,3 Prozent) und den Kommunen (9 Prozent). Daneben waren Caritas und Diakonie teilweise auch als "Entsendestellen” bei der Organisation der Kinderkuren im Vorfeld aktiv.
Was ist der aktuelle Stand der Aufarbeitung?
Im Mittelpunkt aller Aktivitäten steht aktuell die Aufarbeitung - das ist auch das öffentlich geäußerte Hauptanliegen der bundesweiten "Initiative Verschickungskinder". Eine große bundesweite Studie, die seit Ende 2022 an der Humboldt-Universität Berlin erstellt wurde, legt im Mai 2025 ihre Ergebnisse vor. Auftraggeber sind die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV), die Diakonie Deutschland, der Deutsche Caritasverband und das Deutsche Rote Kreuz. Im wissenschaftlichen Beirat waren auch Betroffene vertreten. Daneben wurde im April 2023 eine weitere Studie im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit durch Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl (Universität Bielefeld) veröffentlicht, des Weiteren existieren etliche kleinere Studien zu einzelnen Einrichtungen.
Die Betroffenen-Initiative führt Lobbying-Gespräche mit Bund, Ländern und Verbänden. Regional gibt es Aktivitäten vor allem in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen; daran sind auch die regionalen Vertretungen von Wohlfahrtsverbänden und Rentenversicherung beteiligt. Im bundespolitischen Raum sind bislang keine größeren Initiativen erkennbar, allerdings wird die Problematik im Koalitionsvertrag der künftigen Bundesregierung genannt.
Wer macht die wissenschaftliche Aufarbeitung von DRV Bund, Diakonie, Caritas und Rotes Kreuz?
Die Diakonie Deutschland, der Deutsche Caritasverband und das Deutsche Rote Kreuz haben sich an einem Forschungsprojekt beteiligt, dass die Deutsche Rentenversicherung Bund angestoßen hat. Der Auftrag ist Ende 2022 an den Sozial- und Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Alexander Nützenadel von der Humboldt-Universität Berlin ergangen, der mit seinem Team Ergebnisse vorgelegt hat, die am 15.05.2025 veröffentlicht wurden.
Die Studie stützt sich im Wesentlichen auf Archivgut und zeitgenössische Fachliteratur sowie auf Interviews mit Zeitzeugen. Zu den maßgeblich zu untersuchenden Akteur:innen zählen neben den ehemaligen Kur-Kindern und Jugendlichen das Heimpersonal, Aufsichtsbehörden und Krankenkassen sowie die Träger der Einrichtungen und die Rentenversicherung, die die Erholungskuren durch die Gewährung von Zuschüssen ermöglichte. Begleitet wird das Forschungsvorhaben durch einen Projektbeirat. Ihm gehören neben Wissenschaftler:innen auch Vertreter:innen von Betroffeneninitiativen an.
Die historische Materiallage ist inzwischen lückenhaft, da viele Akten der Behörden und Kostenträger nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen nicht mehr vorliegen. Außerdem sind viele der Häuser inzwischen geschlossen, haben den Besitzer gewechselt oder Trägerorganisationen sind aufgelöst worden oder in anderen Einheiten aufgegangen. Dennoch gab es hinreichendes Material für die wissenschaftliche Bearbeitung.
Welche Methoden wurden in der wissenschaftlichen Forschungsarbeit der Humboldt Universität angewendet?
Um der Komplexität des Themas gerecht zu werden, sichtete das Forschungsteam Bestände aus rund 60 Archiven (der Länder und des Bundes, der Kommunen, der Versicherungsanstalten, der Kirchen und der Wohlfahrtsverbände). Das schriftliche Archivmaterial wurde durch 35 ausführliche Oral-History-Interviews ergänzt, um die Erfahrungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und ihre Erinnerungen an die Kurpraxis und den Heimalltag berücksichtigen zu können. Die Fragestellungen der Studie erfolgten aus sozialhistorischer, rechtswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Perspektive.
Sind weitere Studien zur Aufarbeitung des Kinderkurwesens zwischen 1945-1989 geplant?
Die geschichtswissenschaftliche Studie ist ein wichtiger Schritt zur systematischen Aufarbeitung des damaligen Kinderkurwesens in der alten Bundesrepublik. Sie schafft eine fundierte Grundlage, auf der weitere wissenschaftliche Arbeiten aufbauen können, etwa zur Erforschung von Langzeitfolgen.
Ein zentrales Ergebnis des Projektes ist auch das entstandene Heimverzeichnis, das über 2000 Einrichtungen dokumentiert, in denen damalige Kinderkuren stattgefunden haben. Es dient nicht nur als Recherchegrundlage für die Wissenschaft, sondern kann Betroffenen auch helfen, ihre eigenen Erfahrungen zeitlich und örtlich einzuordnen.
Ob und in welchem Rahmen Anschlussforschung erfolgt, liegt nun auch in der Verantwortung anderer Akteure, etwa von Bund, Ländern, Universitäten oder Stiftungen.
Hier finden Sie das Heimverzeichnis Kinderkurheime.
Wie wurden die Betroffenen in die Forschungsarbeit der Humboldt Universität einbezogen?
Zu den Zeitzeugen, die von den Historikern befragt wurden, gehören selbstverständlich auch Betroffene. Darüber hinaus wurden Vertreter:innen ihrer Initiative im wissenschaftlichen Beirat mit einbezogen, der das Projekt begleitete. Zudem haben die drei beteiligten Wohlfahrtsverbände sowie die Deutsche Rentenversicherung Bund intensiv dafür Sorge getragen, dass die Perspektive der Betroffenen hinreichend in der Studie berücksichtigt wurde. So erfolgte der Aufruf nach Erinnerungsberichten unter anderem über die Webseite und den Newsletter der Initiative der Verschickungskinder e. V. Vertreterinnen und Vertreter des Forschungsteams sowie der Auftraggebenden nahmen zudem 2023 und 2024 am Bundeskongress „Aufarbeitung Kinderverschickungen” teil, um mit Betroffenen in den Austausch zu treten.
Die Betroffenen organisieren sich auf Bundes- und Landesebene und teilweise regional auf einzelne ehemalige Standorte bezogen.
Wie reagieren Bund und Länder?
Die Bundespolitik reagierte von Anfang an zurückhaltend. Das BMBF hat einen eigenen Forschungsantrag der Initiative abgelehnt, und auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat sich bisher nicht klar zu einer Unterstützung bekannt, nachdem Ministerin Franziska Giffey (SPD) m Frühjahr 2020 erklärt hatte, einen Vorstoß der Länder zu prüfen. Im Landtag von Nordrhein-Westfalen wurde das Thema durch einen Antrag der SPD-Fraktion aufgegriffen; daraufhin wurde in NRW ein Runder Tisch Kinderverschickungen eingerichtet.
Auf Initiative von Landesregierungen (Baden-Württemberg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein) hatte sich die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) am 27. Mai 2020 mit dem Thema befasst. In einem Beschluss erkennt die Konferenz das Leid an. Es zeige sich, dass es sich um ein bundesweites Phänomen gehandelt habe, an welchem verschiedenste Institutionen beteiligt waren. Die Minister erzielten Einigkeit, "dass die Geschehnisse in den Heimen, die Anzahl der Betroffenen und die institutionellen, strukturellen, individuellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen umfassend aufgeklärt werden müssen". Der Sozialminister Baden-Württembergs, Manfred Lucha (B90/Grüne) äußerte sich gegenüber der ARD, dass die Selbstorganisation und die Aufarbeitung aus öffentlichen Mitteln gefördert werden sollen. Bislang ist eine solche institutionelle Förderung nur aus Baden-Württemberg und NRW bekannt.
Die Forderung nach Aufarbeitung der Kinderverschickungen ist mittlerweile Teil des aktuellen Regierungsprogramms geworden. In Zeile 3212/3 des Koalitionsvertrags zwischen CDU, CSU und SPD heißt es: "Wir unterstützen die Aufarbeitung der Misshandlungen von Kindern bei Kuraufenthalten zwischen 1950 und 1990 durch die ‚Initiative Verschickungskinder‘."
Wie können Betroffene ihren eigenen Kur-Aufenthalt nachrecherchieren?
Seit einigen Jahren melden sich ehemalige Verschickungskinder mit der Frage, ob sie ihre Akten einsehen können bei den Trägern der ehemaligen Kinderkurheime oder deren Nachfolgeeinrichtungen.
Da häufig, entsprechend den Vorgaben des Datenschutzes insbesondere Kinderakten, die für viele Verschickungskinder einen Einblick über die Einweisungsgründe und die Hintergründe des Aufenthaltes geben könnten, vernichtet oder nicht ausreichend archiviert wurden, kann die die Recherche sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Nur sehr selten finden sich noch Unterlagen direkt bei den Trägern oder den Nachfolgeorganisationen.
Recherchemöglichkeiten sind:
- Erzbischöfliches Archiv in Freiburg kommt für Anfragen von Betroffenen in Frage.
- Alle katholischen Archive (Bistumsarchive, Vereinsarchive, Verbandsarchive etc.) haben Quellen in Bezug auf ihre jeweilige Diözese.
- Oder unter: www.katholische-archive.de (hier findet man alle Adressen, resp. Verlinkungen), alle Archive geben den Betroffenen Auskunft.
- Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen e.V.: www.verschickungsheime.de
- Das Archiv des Deutschen Caritasverbandes hat keine Akten der betreuten Kinder, aber eine Einrichtungskartei, die zu den Caritas-Heimen formale Auskünfte geben kann. (Kartei der (ehemaligen) Träger, auch zu Ordensgemeinschaften).
- Aus dem Forschungsprojekt "Die Geschichte der Kinderkuren und Kindererholungsmaßnahmen in der Bundesrepublik 1945 -1989" hervorgegangenes Heimverzeichnis auf den Seiten des Deutschen Caritasverbandes, der Diakonie Deutschland, des Deutschen Roten Kreuzes und der Deutschen Rentenversicherung Bund.
Wie positionieren sich Diakonie, Caritas, DRK und DRV zu den Ergebnissen des Forschungsprojekts „Die Geschichte der Kinderkuren und Kindererholungsmaßnahmen in der Bundesrepublik 1945 –1989“?
Alle vier Auftraggeber der Forschungsarbeit der Humboldt-Universität haben öffentlich anerkannt, dass auch in ihren Einrichtungen junge Menschen im Rahmen von Kinderkuren Leid erfahren haben. Die Beauftragung der unabhängigen Studie ist ein Ausdruck der Verantwortung, die sie für die Aufarbeitung des Geschehenen übernehmen. In den einzelnen Organisationen gibt es darüber hinaus Strukturen für die Aufarbeitung und die Kommunikation mit Betroffenen.
Hier finden Sie den Abschlussbericht zum Forschungsprojekt "Die Geschichte der Kinderkuren und Kindererholungsmaßnahmen in der Bundesrepublik 1945 -1989"
Hier gelangen Sie zur Pressemitteilung.
Was tragen die Wohlfahrtsverbände zur Erinnerungskultur bei?
In den Verbänden finden sich unterschiedliche Formen der Erinnerungskultur. So haben beispielsweise ehemalige Träger von Kinderkurheimen eigene Studien in Auftrag gegeben und mit ehemaligen Verschickungskindern einen Platz der Erinnerung gestaltet.
Darüber hinaus lassen sich zahlreiche andere Formen der Erinnerungskultur wahrnehmen wie die kritische Betrachtung der Kinderkuren in Chroniken, Ausstellungen, Zeitzeugengespräche etc.