"Wir können nicht auf das Wort der Kirchen verzichten"
Professor Kruse, welche Bedeutung hat ein Wohlfahrtsverband wie die Caritas für eine immer älter werdende Gesellschaft?
Ein Wohlfahrtsverband ist aufgrund seiner Nähe zu alten Menschen besonders befähigt, einen personalisierenden, individualisierenden Ansatz in deren Begleitung, Betreuung und Bildung zu verwirklichen. Zentrale Aufgaben der Daseinsvorsorge sind von den Wohlfahrtsverbänden zu leisten. In dem Maße, in dem sich diese auf individuelle Lebenslagen alter Menschen aus unterschiedlichsten Schichten und Milieus, mit unterschiedlichsten Biografien einstellen, können sie diese Nähe zu einer besonderen Stärke machen. Zudem sind sie wichtige Mittler zwischen Klienten und Kommunen, aber auch zwischen Klienten und Kommunen, Staat andererseits. Sie erkennen, wie sich der demografische Wandel 'vor Ort' vollzieht und gestaltet, mit welchen Anforderungen, Herausforderungen und Chancen dieser verbunden ist - für das einzelne Individuum, dessen soziales Netzwerk, für die einzelne Kommune, die einzelne Region. Diese Erfahrungen und Erkenntnisse an die Politik weiterzugeben und politische Institutionen wie auch politische Entscheidungsträger für innovative Strategien zu sensibilisieren: dies ist eine wichtige Aufgabe. - Wenn auf die Caritas direkt angesprochen wird: wir dürfen die Bedeutung einer christlichen Anthropologie und Ethik für die spezifische Art der Begleitung, Betreuung und Bildung keinesfalls unterschätzen. Denn diese Anthropologie und Ethik versuchen ausdrücklich, die Verletzlichkeit des Menschen wie auch die Entwicklungspotenziale des Menschen in der Verletzlichkeit zu thematisieren und deutlich zu machen, wie wichtig Sorgestrukturen gerade für Menschen sind, die in gesundheitlichen oder anderen Grenzsituationen stehen. Eine umfassende Deutung von Verletzlichkeit und Potenial (nämlich zur Reife) ist ein zentrales Element christlicher Anthropologie und Ethik. Wenn dieses überzeugend die Arbeit eines Wohlfahrtsverbandes leitet: dann kann dieser auch daraus noch einmal besondere Stärken ableiten.
Wie ist es hierzulande derzeit um die Sorgekultur zwischen den Generationen bestellt?
Wir beobachten ein vergleichsweise hohes Ausmaß an Solidarität zwischen den Generationen. Dies zeigen uns Mehr-Generationen-Projekte in der Arbeitswelt (hier sei auf die hohe Produktivität und Kreativität von Generationentandems hingewiesen) wie auch in der Zivilgesellschaft. Wenn wir ältere und jüngere Menschen zusammenbringen, dann erkennen wir (auch außerhalb der Familie), wie viel sich diese zu sagen haben, wie sehr diese voneinander lernen können, wenn sie sich denn mit Respekt und Offenheit begegnen. Es ist interssant, dass auch alte Menschen, die im 9. oder 10. Lebensjahrzehnt stehen, häufig das Motiv erkennen lassen, nicht nur Sorgeempfangende (Umsorgte) zu sein, sondern auch Sorgende, die sich um andere Menschen sorgen, für diese Sorgen. Mir erscheint es als sehr bedeutsam, auch im Hinblick auf Altersbilder, das Motiv alter Menschen zu begreifen und anzusprechen, den öffentlichen Raum aktiv mitgestalten zu wollen - darauf müssen sich Wohlfahrtsverbände in ihrer Arbeit für und mit alten Menschen ausdrücklich einstellen.
Was sind die wesentlichen Aufgaben, die unsere Gesellschaft in den kommenden Jahren meistern muss, welche Rolle könnten hierbei kirchliche Institutionen einnehmen?
Wir werden uns in Zukunft in ganz anderer Weise mit den Kräften und Stärken des Alters beschäftigen (müssen, dürfen), dabei auch mit der Frage, wie wir diese gesellschaftlich (Beruf, Zivilgesellschaft) besser nutzen können als bisher. Wir werden in zunehmendem Maße mit Fragen der Ungleichheit konfrontiert sein, die in der alten Generation erkennbar zunimmt: wie können wir eine größere Verteilungsgerechtigkeit herstellen? Sodann werden wir vermehrt mit Fragen der Verletzlichkeit (körperlich, kognitiv) konfrontiert sein: wie können wir diese medizinisch, pflegerisch, psychologisch, sozial, aber eben auch spirituell überzeugend adressieren und lösen? Die Kirchen werden sich mit der Frage zu beschäftigen haben: wie sensibilisieren Gesellschaft, Staat, aber eben auch - und vor allem - christliche Gemeinden für Verletzlichkeit im Alter, zugleich für die Entwicklungspotentiale im Alter? Inwiefern gelingt es, den christlichen Gemeindegedanken stark zu machen, als eine Antwort auf die großen Herausforderungen und Chancen des demografischen Wandels zu begreifen? Wie machen wir das Thema Menschenwürde (allgemeine, spezifische) stark - vor allem, wenn es um das Leben am Ende des Lebens geht? Hier können wir auf das Wort der Kirchen nicht verzichten! Sie müssen und sehend machen für das Geheimnis, das hinter dem Naheliegenden liegt. Und das heißt: Jeder Mensch, auch in seinen Grenzsituationen, ist als ein Geheimnis zu begreifen, jedem Menschen - auch und gerade dem schwerkranken und sterbenden - muss man sich in dieser Haltung nähern.
Zur Person:
Andreas Kruse, geboren 1955, studierte Psychologie, Philosophie und Musik an den Universitäten Aachen und Bonn sowie der Musikhochschule Köln. Seit 1997 ist Andreas Kruse Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg. Neben seinen fachlichen Interessen hat er große Freude an Musik, Literatur und Theologie. Andreas Kruse ist verheiratet, hat zwei Kinder und zwei Enkelkinder.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
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