Aichach, 14.03.2013 (pca). Sabine N. (42) ist aus ihrer Welt herausgefallen. Ihre Mutter hatte schon mehrere Tage nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie litt an Krebs im Endstadium. Und dann brachte ihr Vater seine Frau ins Krankenhaus, wo sie ein paar Tage später verstarb. „Mama war böse zu mir. Sie hat nicht mit mir gesprochen, obwohl wir das immer gemacht haben, wenn ich nach Hause kam. Und Papa ist gemein, weil er Mama ins Krankenhaus brachte, wo meine Mama dann sterben musste.“ Sabines Welt war nicht mehr wie zuvor. Sie fiel in eine tiefe Trauer. Und sie war zornig auf ihre Eltern.
Sabine N. heißt eigentlich anders. Der Name steht aber für ein Beispiel eines Menschen mit geistiger Behinderung, der mit dem Tod einer sehr nahe stehenden Person anders umgeht, als man es langläufig von einem Menschen ohne Behinderung erwartet. Das Problem ist der Caritas und den Einrichtungen der Behindertenhilfe in der Caritas nicht unbekannt. Die Ulrichswerkstätten der Caritas Augsburg Betriebsträger gGmbH in Aichach haben deshalb schon vor einiger Zeit einen Trauerkreis ins Leben gerufen. Pauline Widmann ist dort für die Seelsorgearbeit und damit für die Trauerbegleitung zuständig.
Die Aufgabe ist ihr zugewachsen. Es hatte damit angefangen, dass Peter Naßl, Gruppenleiter in der Leichtmontage, sich einmal mit einem Trauerfall überfordert fühlte. „Eine Betreute war in ihrer Trauer so gefangen, dass sie von nichts anderem mehr sprach und sich völlig aus der Gruppe zurückzog.“ Widmann nahm sich dann ihrer an. Das war vor drei Jahren. Naßl unterstützt auch heute noch Widmann in ihrer Arbeit. Aber auch die anderen Gruppenleiter in den Aichacher Ulrichswerkstätten wenden sich an sie, wenn ein Todesfall vorliegt und eine betroffene betreute Person sich schwer damit tut.
Trauern denn Menschen mit geistigen Behinderungen anders trauern als Menschen ohne Behinderungen? Nein und ja, sagen Widmann und Naßl zur Antwort. Nein, weil auch Menschen ohne Behinderungen völlig unterschiedlich trauern und je ihren eigenen Weg der Trauer gehen. Nach einem Wort des Wiener Psychologen und Traumatherapeuten Robert Kachler sei Trauer „ein anderes Wort für Liebe. „Und Menschen mit geistigen Behinderungen empfinden Liebe genauso wie wir“, so Widmann. Ja, weil Menschen mit Behinderungen oft weniger Kräfte hätten und deshalb mit ihrer Trauer schlechter zurecht kommen.
Jeder Mensch reagiert eigentlich auf vier unterschiedliche Art und Weisen auf einen Trauerfall. Mancher reagiert gefühlsbetont. Andere versuchen, die Situation vom Verstand her rational im Griff zu haben, wiederum andere reagieren „handlungsorientiert“ und stürzen sich z.B. in Arbeit. Und da gibt es auch solche, die die Trauer dadurch kontrollieren wollen und zum Teil auch können, indem sie das Thema grundsätzlich vermeiden.
Als eine Gruppenleiterin sie auf einen Betreuten hinwies, der nach einem Trauerfall in seiner Familie nur noch arbeiten wollte, reagierte Widmann eher gelassen. „Lass ihn, er braucht das jetzt.“ Jede Seele suche sich seinen Weg, wie sie mit der Trauer fertig werde. Andere zum Beispiel könnten gar nicht mehr arbeiten.
Das war auch bei Sabine N. so. Sie wollte nicht mehr arbeiten und reagierte gefühlsbetont zornig auf ihren Vater. Auch wenn sie vom Alter her schon lange erwachsen, so ist sie kognitiv wegen einer stark ausgeprägten geistigen Behinderung auf dem Stand eines vier- bis fünfjährigen Kindes. „Aber sie hat verstanden, dass ihre Mutter nicht mehr wieder kommt und tot ist. Was ihre Trauer betrifft, ist sie also viel weiter entwickelt als ein Kind“, erläutert Widmann.
Sabine N. konnte schließlich den Weg ihrer Trauer gehen. Widmann lehnt es ab von „Trauerarbeit“ zu sprechen. „Ich bin nur Wegbegleiter.“ Bei ihren ‚Begleitungen’ kristallisierte sich für sie immer mehr der eigentliche Unterschied zwischen Menschen ohne geistige und Menschen mit geistiger Behinderung heraus. Nach dem deutschen Psychologen und geistigen Vater der Integrativen Therapie, Hilarion Gottfried Petzold, stütze sich das Leben des Menschen auf den fünf Säulen der Werte, der materiellen Sicherheit, des sozialen Netzwerkes, der Arbeit und Leistung wie auch der Körperlichkeit. Tritt eine Krise ein, wackle nicht nur eine Säule, sondern diese stoße die anderen Säulen an. Bei Menschen mit Behinderungen, so Widmann, seien oft weniger Ressourcen in den einzelnen Säulen vorhanden. So können die Säulen auch leichter ins Wanken geraten. „Das ist der eigentliche Unterschied.“
Die Trauerbegleitung in den Aichacher Ulrichswerkstätten will deshalb diese Ressourcen stärken. Als erstes müsse man aber der Trauer und den Ausdrucksformen der Menschen mit Behinderungen ihren Raum geben. „Das geschieht bei uns. Dafür sind wir sehr dankbar“, lobt Widmann ihren Arbeitgeber. Trauerfeiern werden gehalten für verstorbene Betreute und Kollegen. Besondere Trauerrituale werden in den einzelnen Gruppen gepflegt. Man stellt dort Fotos der Verstorbenen für eine bestimmte Zeit auf. Und dann hängt noch die große Gedenktafel im Gemeinschaftsraum.
Alle zwei Wochen treffen sich jeden Mittwoch durchschnittlich fünf bis sieben Betreute für 45 bis 60 Minuten in der Trauergruppe. Jedes Mal brennt dort eine Kerze als Zeichen für das Licht, „das in uns für den verstorbenen Menschen brennt“, erzählt Widmann. Dann folgen Atemübungen. Die dritte Einheit bildet dann das offene Gespräch. „Jeder kann erzählen, wie es ihm ergangen ist, was ihn belastet, aber auch was schön war.“ Doch das ist nicht immer so einfach. Also setzt Widmann Impulse. Sie lässt malen, Fotos aussuchen, stellt Orff-Instrumente bereit. Das erleichtert den betroffenen Personen, sich in „ihrer“ Form auszudrücken.
Stets wird dabei geschaut, wie bei den Einzelnen die Ressourcen in den fünf Säulen wieder gestärkt werden können. Mit Hilfe eines großen Blattes mit Piktogrammen, die Menschen zeigen, erarbeitet Widmann gemeinsam mit der trauernden Person das gesamte Beziehungsfeld. „Und zumeist stellt sich dabei heraus, dass eine ganze Reihe von netten Menschen zu dem sozialen Netzwerk gehören.“ Durch die Trauerfeier will sie den Glauben und die ‚Werte’ stützen. Mit den Atemübungen soll die Körperlichkeit gestärkt werden.
Doch es gibt Grenzen. Wenn zu viele Risikofaktoren wie z.B. eine besonders tragische Todesart wie Mord, Unfall oder Suizid bzw. eine schwierige Beziehung zwischen der verstorbenen und der trauernden Person auftreten, gibt Widmann den Fall an Stellen mit entsprechender Ausbildung weiter. Ebenso ist sie dazu verpflichtet, wenn eine Suizidgefährdung sich abzeichnet, den „Fall“ an einen Psychiater weiterzureichen.
Naßl und Widmann wissen, dass sie der Trauerbegleitung nicht aus dem Weg gehen können. Die insgesamt 221 Betreuten werden älter und mit ihnen deren Eltern. „Wir werden künftig stärker mit dem Tod der Eltern, aber auch der Betreuten konfrontiert sein.“ Dieses Thema an den Rand zu drücken, sei ohnehin unmöglich. Und das ist ebenfalls ein großer Unterschied zu den Menschen ohne Behinderung. Menschen mit Behinderungen seien ehrlich mit ihrer Trauer. „Und sie gehen Trauernden nicht aus dem Weg“, sagt Naßl, „wie wir es vielleicht tun, weil wir Angst haben, nicht zu wissen, was man sagen soll.“