Die Pandemie und die Straße
Mainz, im März 2020. Der Lockdown trifft die Menschen wie ein Schock. In der Mainzer Innenstadt ist es ungewöhnlich leer. Umso mehr fallen die Obdachlosen ins Auge: "Sie haben keine Wohnung, in die sie sich zurückziehen können", sagt der Sozialpädagoge Willi Schuth, der bei der Katholischen Cityseelsorge arbeitet. Corona hat das Leben der wohnsitzlosen Menschen verändert. Und die Arbeit derer, die sich für sie einsetzen.
Nicht erst seit Ausbruch der Pandemie ist Willi Schuth oft in der Stadt unterwegs. Ein Typ, dem es nicht schwer fällt, Kontakte herzustellen. "Man braucht nur aufmerksam durch die Straßen zu gehen und die Menschen anzuschauen, um zu sehen, ob jemand Hilfe braucht oder ihn ernste Fragen beschäftigen."
Mehr denn je nimmt Schuth während der Covid-19-Pandemie wohnungslose Menschen wahr, die auf ihre Weise Kontakte reduzieren, indem sie sich in Ecken und Nischen zurückziehen. Wie andere ihren Hausstand, haben sie meist ihr begrenztes Umfeld, sind höchstens zu zweit oder zu dritt zusammen.
Etwas Geld zu erbetteln, ist ihnen plötzlich kaum noch möglich. Passanten, die ihnen sonst schon mal einen Kaffee oder ein Essen spendieren, kommen nur selten bei ihnen vorbei. Lediglich im Sommer normalisiert sich die Lage ein wenig, wird im Herbst und Winter umso schwieriger.
Willi Schuth ist viel draußen. Er geht auf wohnsitzlose Menschen zu, bleibt oft nicht neben ihnen stehen, sondern setzt sich zu ihnen, begibt sich auf dieselbe Ebene. Meist kommt er leicht ins Gespräch, die Menschen erzählen ihm, wie sich ihr Leben gestaltet, was im Moment schwierig ist. Ab und zu fragen sie nach Kleinigkeiten: "Hast du vielleicht einen gebrauchten Kopfhörer? Meiner ist kaputt." Manchmal kann er helfen, besorgt Kaffee und Brötchen, verteilt Schlafsäcke und Isomatten.
Klar, es gibt organisierte Hilfen, es gibt Notübernachtungsplätze, den Kältebus, das Arztmobil des Vereins "Armut und Gesundheit". "Aber zurzeit kann man gar nicht genug tun", findet Schuth: "Es ist notwendig, dass wir rausgehen." Er weiß: "Zu uns reinzukommen, ist für viele ein schier unüberwindbares Hindernis." Ganz abgesehen davon, dass aufgrund der Corona-Vorschriften auch kirchliche Einrichtungen zeitweise schließen mussten.
Nicht so die Pfarrer-Landvogt-Hilfe (PLH) auf der Mainzer Zitadelle. "Binnen weniger Stunden hatten wir ein Hygienekonzept erarbeitet, um die Basisversorgung weiter sicherzustellen", erzählt der Vorsitzende Guido Meudt. 50 bis 70 Personen nutzen täglich das Angebot, das an 365 Tagen im Jahr zur Verfügung steht. Hier können sie duschen, ihre Wäsche waschen, frühstücken und - von montags bis freitags - abends eine warme Mahlzeit zu sich nehmen.
Vieles musste den Corona-Bedingungen angepasst werden. Die Zahl der gleichzeitig anwesenden Besucher musste begrenzt werden. Die Lösung ist ein "Schichtbetrieb", der mit Hilfe von Farbkärtchen funktioniert: Jede halbe Stunde ist eine andere Farbe dran. Die Besucher haben das System klaglos akzeptiert, sich auch damit arrangiert, dass sie sich nicht wie früher am Büfett bedienen dürfen.
Für die Ehrenamtlichen war die Umstellung ein Kraftakt, zumal die älteren unter ihnen wegen des Gesundheitsrisikos ausfallen. "Plötzlich mussten weniger Ehrenamtliche mehr leisten - wir brauchen etwa für die Teestube vier statt zwei Leute, weil einzeln serviert werden muss." Zum Glück sind viele neu eingestiegen - darunter Studierende oder Menschen, die im Lockdown ihren Beruf nicht ausüben konnten und in der freien Zeit ihren gesellschaftlichen Beitrag leisten wollten.
Seit Beginn der Coronakrise engagiert sich Claus Christian Speck, Lehrer an der Willigis-Realschule und begeisterter Hobbykoch, fast täglich in der Küche der PLH. Gemeinsam mit Freunden oder Schülern zaubert er die tollsten Menüs. "Da die Restaurants immer wieder schließen mussten und Veranstaltungen ausfallen, bekommen wir viele Spenden aus dem Großhandel, von örtlichen Geschäften und Foodsavern", erzählt Guido Meudt. Den Gästen beschert das ungewohnten Luxus wie Rehrücken, Lachs oder frische Erdbeeren. "Wir wissen, nach Corona wird das wieder anders. Aber jetzt hilft es sehr, diese schwere Zeit zu überstehen."
Mehr als 20000 warme Mahlzeiten hat die PLH inzwischen ausgegeben, außerdem Lunchpakete, die Dr. Gerhard Trabert vom Verein "Armut und Gesundheit" auf seinen Touren mit dem Arztmobil verteilt.
Rund 40 Ehrenamtliche sind zurzeit in der PLH aktiv, die Hälfte von ihnen mindestens jeden zweiten Tag. Guido Meudt bringt es zurzeit auf zehn bis 13 Stunden pro Tag. Er organisiert, kommuniziert, koordiniert. Er hat sich dafür eingesetzt, dass die Ehrenamtlichen in der Impfreihenfolge höhere Priorität bekommen, sucht jetzt nach Wegen zur Corona-Schutzimpfung für die Obdachlosen, die sich mangels Wohnsitz nicht registrieren können. Und nicht zuletzt hält er den Kontakt mit den Ehrenamtlern, die im Moment nicht kommen können, informiert sie und signalisiert ihnen, dass sie nicht vergessen sind.
Ein Jahr Corona. Kein Grund zum Feiern. Aber für die Pfarrer-Landvogt-Hilfe Anlass für ein positives Fazit: "Die Hilfs- und Spendenbereitschaft von Bürgern und Unternehmen ist groß, die Stadt Mainz hat schnell und unbürokratisch geholfen, die Zusammenarbeit mit anderen Hilfsorganisationen hat sich verstärkt", sagt Guido Meudt.
Auch der Charakter der Teestube hat sich verändert: Obwohl nur eine halbe Stunde Zeit bleibt, haben sich die Kontakte von Ehrenamtlichen und Gästen verstärkt, die Gespräche sind intensiver geworden, Vertrauen ist gewachsen. Eine positive Folge der negativen Begrenzung der Besucherzahlen ... Neue Nähe in einer Zeit von Kontaktbeschränkungen und Abstandsgeboten.
Text: Maria Weißenberger