Letzter Halt Bahnhofsmission
Irgendwann stand da dieser Mann im Foyer. Etwa 50 Jahre alt, obdachlos, vom langen Leben auf der Straße tief gezeichnet. Er konnte nicht lesen und nicht schreiben. "Das einzige, was er uns über sich sagen konnte, war, dass er in Berlin geboren wurde und später mal bei seiner Mutter in Osnabrück lebte", sagt Sebastian Kreisel. "Ansonsten wussten wir von diesem Mann gar nichts. Er war praktisch nicht existent, nirgends gemeldet."
Kreisel, gelernter Schreiner und Koch, ist hauptamtlicher Mitarbeiter der Bahnhofsmission am Berliner Ostbahnhof, der ersten in Deutschland überhaupt. Gegründet wurde sie 1904, sie wird in diesem Jahr 125 Jahre alt. Heute kommen bis zu 180 Gäste am Tag, fünf hauptamtliche und 20 ehrenamtliche Mitarbeiter nehmen sie in Empfang, geben Essen und Trinken aus, reden, beruhigen, beraten.
Auch um jenen Mann kümmerten sich die Mitarbeiter. Es dauerte drei Jahre, bis seine Identität geklärt war und er eine Unterkunft hatte, die erste seit 40 Jahren. Der Mann war 54 Jahre alt.
"Wir sind ein Seismograf für soziale Fehlentwicklungen"
Kreisel sagt, solche Fälle seien nicht alltäglich, aber sie kämen vor. Sein Team muss praktisch auf alles vorbereitet sein: Wenn die Zahl der Arbeitsmigranten aus Polen und Rumänien steigt, dann kommen garantiert auch viele in der Bahnhofsmission an. Wenn die Zahl der Wohnungslosen zunimmt, dann spüren dass auch die Mitarbeiter am Ostbahnhof. "Wir sind ein Seismograf für soziale Fehlentwicklungen", sagt Gisela Sauter-Ackermann, Bundesreferentin Bahnhofsmission beim katholischen Verband INVIA und begründet: "Wenn die Menschen unsere Hilfe benötigen, dann zeigt das auch ungelöste Probleme des Sozialsystems an."
Zurzeit gilt das vor allem für die Menschen aus Osteuropa. "Sie kommen zu uns auf der Suche nach Arbeit, finden dann keine und oft auch keine Wohnung." Es gebe kein Hilfesystem, so Sauter-Ackermann, das diese Menschen auffängt. Auch keine Stadt traut sich an dieses Thema – aus Sorge, die Zahl der Arbeitsmigranten steigt. Wer aus Polen oder Bulgarien nach Deutschland komme, "traut sich oft nicht zurück in seine Heimat, aus Scham".
"Stammgäste" machen 70 Prozent aus
Sylvia M. kommt zurzeit fast täglich in die Bahnhofsmission. Überhaupt ist die Zahl der "Stammgäste" hoch, liegt einer bundesweiten, repräsentativen Auswertung zufolge – dazu gehörte auch eine Befragung von 2000 Nutzern der Bahnhofsmissionen – bei 70 Prozent. Sylvia M. ist im Januar aus Nürnberg mit ihren Habseligkeiten, die in einen großen Koffer passen, mit dem Zug nach Berlin gefahren. In Bayern war für sie in einer Unterkunft der Heilsarmee kein Platz mehr, also suchte sie ihr Glück in Berlin. Die gelernte Kfz-Mechanikerin findet keine Wohnung, schläft in einer Notunterkunft – und kommt zum Frühstück in die Bahnhofsmission.
Bis zu 20.000 Obdachlose gibt es in Berlin, aber nur 800 Schlafplätze. Trotzdem gelte die Versorgung in Berlin im Bundesvergleich als gut, sagt Kreisel, denn nicht alle Obdachlosen wollten auch in die Notunterkünfte. Viele suchen sich ihre Nachtplätze selbst, etwa in Bahnhöfen oder Hauseingängen, und die Ordnungskräfte seien da oft tolerant.
Es steht oft kein adäquates Hilfesystem zur Verfügung
In den vergangenen Jahren sind die Gäste in den Bahnhofsmissionen immer jünger geworden – zwischen 18 und 27 Jahren, manche wohnungslos, viele mit psychischen Problemen. Den Mitarbeitern bereitet das Kopfzerbrechen, denn auch für diese Klientel steht oft kein adäquates Hilfesystem bereit. Ohne die Stationen an den Bahnhöfen haben diese Menschen oft keine Chance auf Hilfe. Die Akzeptanz für die multiplen Problemlagen sei jedoch sowohl in Kirche, als auch Politik nicht immer vorhanden. Das schlägt sich dann in fehlender Re-Finanzierung der Arbeit nieder.
"Wir wünschen uns, dass mehr Entscheider zu uns kommen und sich ein Bild machen von unserer Arbeit. Vor allem aber von den Menschen, die unsere Hilfe benötigen", sagt Sauter-Ackermann.
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