Die Pflege hat einen Wert
Landauf, landab werden die Klagen der kirchlichen Pflegedienste in den Medien veröffentlicht. In vielen Regionen gehen Mitarbeiter(innen) von Sozialstationen auf die Straße und machen ihrem Unmut Luft: so auch in Freiburg mit einem Autokorso mit gut 450 Fahrzeugen, an dem sich mehr als 1000 Bedienstete beteiligten. Die Forderung lautet: Von den Kranken- und Pflegekassen müssen schnellstens deutlich höhere Entgelte für die Leistungen bezahlt werden, sonst ist die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung akut gefährdet. Ein Betriebsvergleich der Sozialstationen des Erzbistums Freiburg für das Jahr 2012 weist aus, dass von 70 Pflegediensten 63 Einrichtungen mit den Kassenentgelten ihre Aufwendungen nicht decken konnten. Die Unterfinanzierung dieser Einrichtungen lag bei neun Millionen Euro.
Die im ländlichen Raum in neun Gemeinden tätige Sozialstation Hochschwarzwald in Titisee-Neustadt hatte im Jahr 2012 ein Defizit von 277.386 Euro im Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit eingefahren, bei 3.205.942 Euro Entgelteinnahmen. Da in den Jahren zuvor ähnlich schlechte Ergebnisse erzielt worden sind, gehen die Reserven aus … So kann es nicht mehr weitergehen.
Der Pflegedienst wurde im Jahr 1974 gegründet. Es dauerte 25 Jahre, bis 1999 die Statistik zum ersten Mal 100.000 Hausbesuche für ein Jahr auswies. Danach stieg die Nachfrage rasant: Im Jahr 2008 waren es im Einzugsgebiet bereits 180.000 Hausbesuche. Die demografische Entwicklung, nach der die deutsche Bevölkerung immer älter und damit pflegebedürftiger wird, zeigte Auswirkungen, und die Vorstandschaft sowie das Leitungsteam stellten sich der Herausforderung - erhöhten die Stellenpläne, schufen räumliche Voraussetzungen für eine Vergrößerung, erweiterten erheblich den Fuhrpark.
"Ambulant vor stationär" nicht als Billig-Alternative
In den folgenden Jahren wurde die Forderung der Kassen und der Politik "Betreuung ambulant vor stationär" weiter umgesetzt und das Leistungsspektrum von der Sozialstation Hochschwarzwald auch den Wünschen der Patient(inn)en und der pflegenden Angehörigen angepasst und erweitert. Neben der Körperpflege, der medizinischen Behandlungspflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung werden angeboten: Krankenhaus-Nachsorge, Palliativpflege, Verhinderungspflege, Betreuungsleistungen, häusliche Schulung, Hausnotruf und Beratung. Kooperationspartner stehen im Hochschwarzwald nicht zur Verfügung. Mittlerweile sind 150 Mitarbeiter(innen) beschäftigt, drei weitere Pflegedienste bieten in der Region Leistungen an. Trotzdem liegt der Marktanteil der Sozialstation Hochschwarzwald bei weit über 80 Prozent: Allein die Sozialstation Hochschwarzwald sichert der Bevölkerung somit eine flächendeckende Versorgung dieses ländlichen Bereichs mit weiten Anfahrtswegen (im Schnitt 3,4 Kilometer pro Hausbesuch). Die notwendigen Investitionen dafür wurden aufgebracht - aber der Rutsch in defizitäres Fahrwasser konnte unter den finanziellen Rahmenbedingungen nicht vermieden werden. Wenn höhere Kosten im stationären Bereich eingespart und den Patient(inn)en ein Wohnen daheim ermöglicht werden sollen, dann müssen die Kassen und die Politik auch bereit sein, den ambulanten Bereich mehr zu stärken und zu fördern, damit dieser den hohen und immer noch steigenden Anforderungen gerecht werden kann.
Die Höhe der Entgelte passt nicht mehr
Das Statistische Bundesamt hat einen Bürokratieaufwand in der Pflege mit jährlichen Kosten von 2,7 Milliarden Euro errechnet. Die Mitarbeiter(innen) spüren tagtäglich die zeitintensive Belastung, die eine aufgeblähte Dokumentation oder ein umständliches Bewilligungsverfahren bei der medizinischen Behandlungspflege mit sich bringt. Der Katalog der Anforderungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) für eine qualitative Patientenversorgung verlängert sich ständig, unabhängig davon, in welchem Maße der/die Patient(in) Leistungen der Pflegeversicherung beim Pflegedienst "einkauft". Hier muss es dringend eine Lösung geben: Es kann nicht sein, dass bei einem Patienten, der zum Beispiel einmal in der Woche eine große Toilette in Auftrag gibt und dafür 24,18 Euro bezahlt, die gleichen 15 Qualitätsmerkmale einzuhalten sind, die der MDK prüft, wie bei einem Patienten, der Leistungen im Wert von 170 Euro und mehr "einkauft". Darüber hinaus seien die Vorschriften des gesetzlichen Arbeitsschutzes hier nur am Rande erwähnt. All diese Anforderungen werden nicht annähernd von den Entgelten der Kranken- und Pflegekassen gedeckt, das Pauschalsystem gleicht solche Unterschiede schon lange nicht mehr aus.
Bei den kirchlichen Sozialstationen erhöhten sich in den vergangenen neun Jahren die Personalkosten um 17 Prozent, die Pflegevergütungen stiegen lediglich um acht Prozent. Gleichzeitig nahmen die Sachkosten zu (unter anderem Benzin, Mieten, Organisationskosten oder Beiträge an die Berufsgenossenschaft).
Aber auch die Strukturen der Abrechnungssysteme entsprechen nicht mehr den heutigen Anforderungen. Im Bereich der Behandlungspflege zum Beispiel sind vorgegebene strukturelle Veränderungen nicht honoriert worden, wie die vorgeschriebenen Fortbildungstage für examinierte Pflegefachkräfte (deren Einhaltung wird vom MDK strikt überwacht). Auch die Krankenhaus-Nachsorge, welche die Pflegedienste vor einigen Jahren übernommen haben, erfordert zum einen eine zeitlich intensive Übergabe, und zum anderen dauern hier die medizinischen Leistungen teilweise erheblich länger. Einen Ausgleich hat es bis dato dafür nicht bei den Verhandlungen der Leistungsentgelte gegeben - die Kassen verstecken sich hinter der Lohnsummensteigerung.
In Baden-Württemberg sind bei der Pflegeversicherung die im Jahre 1995 eingeführten 20 Module und Wegkosten bis heute unverändert gültig. Hier sind unter anderem die zusätzlichen Module "Dokumentationszeit", "Erstbesuche" und "Folgebesuche" unverzüglich mit aufzunehmen - auf ein Modul "Beheizen" kann dagegen gerne verzichtet werden.
Mit Niedriglöhnen sind keine Arbeitskräfte zu gewinnen
Bei der Forderung nach deutlich höheren Entgelten machte ein Kassenvertreter in Stuttgart die Aussage: Wenn Pflegedienste solche hohen Tarifsteigerungen vereinbarten, könne man nicht erwarten, dass die Versicherten der Kassen die Zeche bezahlten. Diese Aussage kann nicht hingenommen werden: Mitarbeiter(innen) in der Pflege haben das Recht, an der allgemeinen Lohnsteigerung teilzunehmen, sie haben das Recht, für ihre qualifizierte Arbeit, für das geforderte menschliche Engagement einen angemessenen Lohn zu erhalten. Aber was der Kassenvertreter überhaupt nicht bedacht hat, ist die Zukunft: Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt stehen schon jetzt immer weniger Arbeitskräfte zur Verfügung. Wohin orientieren sich diese beruflich? Ganz sicher nicht dorthin, wo es schlecht bezahlte Jobs gibt. Da gerade die Pflege in Zukunft deutlich mehr Personal benötigt, müssen die Arbeitsplätze doch attraktiv gestaltet und sehr gut bezahlt sein. Nur dann wird es gelingen, die steigende Anzahl an Patient(inn)en mit mehr Personal gut zu betreuen und zu versorgen.
Pflegedienste werden in ihrer Bedeutung unterschätzt
Im Hochschwarzwald wird es bis in fünf Jahren nur noch 50 Prozent der derzeitigen Hausärztinnen und -ärzte geben - dies ist eine Aussage aus der Ärzteschaft. Die Sozialstation Hochschwarzwald ist ein wichtiger Partner der Ärzte. Es werden monatlich etwa 330 Patient(inn)en im ärztlichen Auftrag medizinisch versorgt. Dazu werden von den 80 examinierten Pflegefachkräften rund 10.000 Hausbesuche (auch an Wochenenden) gemacht. So wird die medizinische Versorgung vor allem älterer Patient(inn)en gesichert, sie brauchen die Arztpraxen nicht aufzusuchen und Ärzt(inn)e(n) werden in ihrer Arbeit entlastet. Kann es eine sinnvollere Vernetzung geben? Deshalb dürfen die Pflegedienste nicht geschwächt werden (derzeit kann zum Beispiel für einen Hausbesuch einschließlich Weggebühren für eine Injektionsverabreichung ein Entgelt von 9,04 Euro abgerechnet werden), sondern sie müssen im Gegenteil, genau wie die Landärzte, gestärkt werden. Das Gleiche gilt für die Palliativpflege: Die Statistiken zeigen auf, dass immer mehr Menschen daheim sterben. Allein die dafür von den Kassen geschaffenen Strukturen (ein Palliativnetz für über 250.000 Einwohner(inne)n) sind für den ländlichen Bereich nicht alltagstauglich. Um die Situation zu verbessern, benötigen wir kurz- und mittelfristige Veränderungen:
- Gesetze müssen rascher in den Pflegealltag umsetzbar sein (das Pflegeneuausrichtungsgesetz, PNG, ist es nach neun Monaten immer noch nicht);
- mit dem Bürokratieabbau endlich beginnen und ihn nicht nur ankündigen;
- Kranken- und Pflegekassen müssen deutlich höhere Entgelte zahlen - Tariflöhne und steigende Sachkosten müssen damit finanzierbar sein;
- die Weggebühren von 3,47 Euro im Bereich SGB XI decken ganz sicher nicht die Sach- und Personalkosten bei durchschnittlich anfallenden 3,4 Kilometer pro Hausbesuch;
- Abrechnungssysteme müssen ständig an geänderte Leistungsstrukturen angepasst werden;
- der ambulanten häuslichen Krankenpflege muss ein besserer Stellenwert im Gesundheitssystem eingeräumt werden (von den Kassen, von der Politik);
- Die Rahmenbedingungen für die Personalgewinnung (einschließlich der Ausbildung) müssen dem veränderten Arbeitsmarkt angeglichen werden.
Die kirchlichen Trägergemeinden sowie die Verantwortlichen in der Sozialstation Hochschwarzwald sind gewillt, auch in Zukunft für die Bevölkerung ein flächendeckendes Angebot vorzuhalten. Ohne schnelle und sinnvolle Änderung der Rahmenbedingungen wird es aber nicht gelingen, den derzeitigen und zukünftigen Anforderungen der häuslichen Pflege und Betreuung gerecht zu werden. Um diese Änderungen rasch zu erreichen, hat sich auch die Sozialstation Hochschwarzwald am Autokorso in Freiburg beteiligt und wird weiterhin das Anliegen in die Öffentlichkeit tragen. Die Kassen und die Politik sind aufgerufen, jetzt zu handeln. Denn: Die Pflege hat Wert.1
Anmerkung
1. "Die häusliche Pflege hat Wert" ist das Motto einer Kampagne von Caritas und Diakonie in Baden-Württemberg.