Autorin, Filmemacherin und Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga, spricht beim Festakt zum 125 . Jubiläum des Deutschen CaritasverbandesDCV / Walter Wetzler
Ubuntu is Dead, Long live Ubuntu
Ich begrüße Sie alle sehr herzlich. Da ich vieles auf dem Herzen habe, möchte ich keine Zeit verlieren und direkt beginnen.
Es ist mir eine große Ehre, der Einladung von Frau Welskop-Deffaa im Namen der Caritas Deutschland zu folgen. Ich war überrascht, zu dieser so visionären Konferenz eingeladen zu werden, und bin dankbar für die Möglichkeit, mit Ihnen allen die Gedanken zu teilen, die mich nachts wachhalten. Ein großes Dankeschön an die Caritas Deutschland.
Die Einladung hat mich sehr berührt. Seit meiner Kindheit ist der christliche Glaube Teil meines Lebens. In jungen Jahren habe ich den Weg zum christlichen Glauben durch amerikanische Protestanten, genauer gesagt durch amerikanische Methodisten, gefunden. Die amerikanischen Methodisten hatten sich 1897 in Simbabwe, damals Rhodesien, niedergelassen. Erst sieben Jahre zuvor hatte Cecil Rhodes das Land im Namen der britischen Krone durch sein privates Unternehmen, der British South Africa Charter Company, annektiert. Dies erfolgte mit Hilfe seiner Privatarmee, die er als British South Africa Police bezeichnete.
Der Staat als Privateigentum der Eliten und die Tarnung einer Privatarmee als Polizei gehen auf die Anfänge des modernen Simbabwe im neunzehnten Jahrhundert zurück. Die amerikanischen Methodisten ließen sich 1897 im Land nieder - nur vier Jahre nach dem ersten Aufstand im Jahr 1893, als die örtliche Bevölkerung die Telegrafendrähte kappte. Nur ein Jahr zuvor, 1896, hatte der erste Befreiungskrieg des Volkes begonnen.
Während dieser Zeit, als das afrikanische Volk um die Befreiung von der brutalen Herrschaft durch die British South Africa Charter Company kämpfte, legten die einzelnen Gruppierungen amerikanischer Methodisten in den Vereinigten Staaten ihre Differenzen bei und gründeten die United Methodist Church (Evangelisch-methodistische Kirche).
Meine Eltern und meine Großeltern waren überzeugte Anhänger dieser Kirche. Schon mein Urgroßvater mütterlicherseits war ein Mitglied der United Methodist Church. Ich wurde inmitten einer Zeit geboren, in der Simbabwe sowohl von der Kolonialherrschaft als auch von der amerikanischen United Methodist Church geprägt war. Für das sensible Kind, das ich war, war das ein Albtraum.
In unserer Version des christlichen Glaubens war Sündern die ewige Verdammnis vorherbestimmt ("Feuer und Schwefel"-Predigtstil). König Leopold der Zweite von Belgien verfasste 1883 einen berüchtigten Brief an belgische christliche Missionare. In diesem Brief schrieb der belgische Monarch - ich zitiere:
"Hochwürden, Priester, liebe Landsleute: Die zu erfüllende Aufgabe ist äußerst heikel und erfordert ein großes Maß an Fingerspitzengefühl. Ihr werdet gewiss das Evangelium verkünden, doch muss eure Verkündigung an erster Stelle den Interessen Belgiens dienen. Das Hauptziel unserer Mission im Kongo besteht niemals darin, den [N-Wort] das Wort Gottes zu lehren, denn das kennen sie bereits. Sie sprechen zu und unterwerfen sich einem Mungu, einem Nzambi, einem Nzakomba und dergleichen. Sie wissen, dass man nicht tötet, mit der Frau eines anderen schläft, lügt oder verleumdet. Seid ehrlich zu euch selbst - ihr werdet ihnen nichts beibringen, was sie nicht bereits wissen. Eure Hauptaufgabe besteht darin, die Arbeit der Verwalter und Kaufleute zu erleichtern. Das bedeutet, ihr werdet das Evangelium so auslegen, wie es zur Wahrung eurer Interessen in diesem Teil der Welt am besten ist. Dafür müsst ihr die Aufmerksamkeit dieser Barbaren von dem Reichtum lenken, der reichlich [in ihrem Untergrund verborgen liegt, damit sie ja kein Interesse hegen, zu mörderischer] Konkurrenz zu werden und davon träumen, euch eines Tages zu stürzen. Eure Kenntnis des Evangeliums wird es euch ermöglichen, Texte zu finden, die eure Anhänger auffordern und ermutigen, ein Leben in Armut zu lieben, heißt es denn nicht: ‚Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich‘ und ‚Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen‘. Grenzt euch von ihnen ab und bringt sie dazu, all das zu missachten, das ihnen den Mut gibt, sich gegen uns aufzulehnen. Besonders empfänglich sind die Jüngeren, werden sie sich doch niemals auflehnen, wenn die Empfehlung des Priesters im Widerspruch zu den Lehren ihrer Eltern steht. Die Kinder müssen lernen, den Empfehlungen des Missionars zu gehorchen, denn er ist der Vater ihrer Seele. Das Ziel ist völlige Unterwerfung und Gehorsam. Die Entfaltung des Geistes in den Schulen ist mit allen Mitteln zu verhindern. Gelehrtes soll hingenommen werden, ohne es zu hinterfragen. Das, liebe Patrioten, sind Grundsätze, die ihr zu befolgen habt. (Zu diesem Thema gibt es viele weitere Bücher, die Ihnen am Ende der Konferenz mitgeteilt werden.) Evangelisieren Sie die [N-Wort], damit diese sich für immer den weißen Kolonialisten unterwerfen, damit sie sich nie gegen die Zwänge auflehnen, unter denen sie stehen. Rezitieren Sie jeden Tag - ‚Glücklich sind die, die weinen, denn für sie ist das Reich Gottes da".
Als Heranwachsende und Mitglied der United Methodist Church hatte ich den Eindruck, dass unsere Glaubensrichtung die Tradition fortführte, die der belgische Monarch so ausdrücklich erläutert hatte. Die Glaubenssätze hatten nichts Emanzipatorisches an sich. Stattdessen waren sie wie Fesseln: Tu dies nicht, tu das nicht. So gut wie alles, worauf ich Lust hatte - sei es ein Buch zu lesen, anstatt die Hausarbeiten zu erledigen, oder Bergsteigen gehen mit einer Gruppe, in der auch Jungen waren - war eine Sünde und machte einen zu einem schrecklichen, bösen, verachtenswerten Menschen. Nach dem Glaubenssatz des Methodismus, den ich verinnerlicht hatte, hieß das: einmal Sünderin, immer Sünderin. Das war es dann.
Heute kann ich zu meiner großen Freude sagen, dass die katholische Kirche mich gerettet hat. Von einer methodistischen Grundschule ging es für mich auf eine katholische weiterführende Schule. Erst dort hat man mir beigebracht, dass Sünden nicht unwiderruflich und endgültig sind, sondern dass auf eine Sünde auch Beichte, Reue, Buße und schließlich Erlösung folgen kann. Das war eine lebensverändernde Erkenntnis für mich.
Heute bin ich jedoch eine Lutheranerin. Zuhause in Simbabwe und in Cambridge, Massachusetts, wo ich derzeit für einige Monate ein Stipendium absolviere, besuche ich die lutherische Kirche. Einige Bräuche, die ich als junges Mädchen auf der weiterführenden Schule gelernt habe, sind mir bis heute erhalten geblieben: Ich bekreuzige mich, nehme gerne am Abendmahl teil, Ich bete - manchmal - den Rosenkranz, spreche zu den Heiligen und Engeln und natürlich zu Gott und Jesus Christus.
Und obwohl ich Protestantin bin, hat es mir die katholische Kirche ermöglicht, meine Herzensangelegenheit weiterzuführen - den Stimmen der Frauen durch deren Kunst in Simbabwe Ausdruck zu verleihen. Dafür habe ich 2009 eine NRO, das Institute of Creative Arts for Progress in Africa (ICAPA) Trust, gegründet. Mit ICAPA Trust möchten wir Kunstwerke - insbesondere im audiovisuellen Bereich - fördern, die von Zuversicht und Mut zeugen. Außerdem klären wir die Leute darüber auf, wie diese Zuversicht in die demokratische Entwicklung Afrikas eingebracht werden kann. ICAPA schafft neue Denkansätze, die einen sozialen Wandel durch die Kreativwirtschaft bewirken. Wir träumen von einer florierenden, furchtlosen Kreativwirtschaft in Simbabwe und ganz Afrika, angetrieben von Künstler_innen, die nachhaltig wettbewerbsfähige, kritische, mitreißende und überzeugende Kunst schaffen. In diesem Sinne trägt ICAPA zu einer mutigen, energiegeladenen Kreativwirtschaft bei, die afrikanische Kunstschaffende, das Publikum und die Nationen durch innovative, unterhaltsame, mitreißende und nachhaltige Kunstproduktion positiv beeinflusst. Gleichzeitig liegt uns die Gleichberechtigung sehr am Herzen. Wir fördern die Beteiligung und das Angebot für Frauen in Simbabwe und Afrika in Kunst und Kultur - insbesondere der Filmbranche - indem wir die Geschichten der Frauen erzählen. ICAPA Trust ist eine von Frauen geführte Organisation.
Kunstschaffende und Kulturorganisationen haben es nie leicht. Kunstschaffende, die unter einem repressiven Regime leben, wie das meiner Meinung nach in Simbabwe der Fall ist, haben es jedoch besonders schwer. Viele Kulturorganisationen, insbesondere solche, die nicht mit der Regierung zusammenarbeiten, wurden geschlossen. Und der größte Teil der geschlossenen Organisationen waren von Frauen geführte Organisation. Frauen werden im Vergleich zu Männern schon immer stärker zum Schweigen gebracht - vor allem in Krisenzeiten.
Umso mehr freue ich mich, Ihnen verkünden zu können, dass ICAPA weiterbestehen kann. Zu verdanken haben wir das der britischen Catholic Agency for Overseas Development (CAFOD), die uns seit mehreren Jahren im Rahmen eines Mikroförderprogramms unterstützt. Dank CAFOD konnten wir die schwierigen Zeiten, die Simbabwe derzeit durchlebt, durchstehen und einen Teil unserer Arbeit fortsetzen. Ich erzähle Ihnen dies, um zu verdeutlichen, dass ich, obwohl ich getauft und konfirmiert bin und in die evangelische Kirche gehe, gemeinsam mit der katholischen Kirche an einem Strang ziehe.
Die Frage, wie wir friedlich miteinander leben können, möchte ich heute gemeinsam mit Ihnen überdenken.
Die Zeitschrift Economist bezeichnet die Herausforderungen, denen sich die Welt derzeit gegenübersieht, als "die neue Weltunordnung". Im World Report 2023, dem Jahresbericht zur Menschenrechtslage rund um die Welt, schreibt Human Rights Watch:
"Die Schlussfolgerung aus der Litanei der Menschenrechtskrisen im Jahr 2022 - von den vorsätzlichen Angriffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf die Zivilbevölkerung in der Ukraine über Xi Jinpings Freiluftgefängnis für die Uiguren in China bis hin zu den Taliban, die Millionen von Menschen in Afghanistan verhungern lassen - ist offensichtlich: unkontrollierte autoritäre Macht führt zu immensem menschlichen Leid. Wir mussten miterleben, wie Staats- und Regierungsoberhäupter auf zynische Weise Menschenrechtsverpflichtungen und die Rechenschaftspflicht für die Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen gegen kurzfristige politische Erfolge eingetauscht haben. Die Regierung Biden hat trotz ihrer Zusicherungen, Demokratie und Menschenrechten in Asien Vorrang einzuräumen, die Kritik an Missständen und zunehmendem Autoritarismus in Indien, Thailand, den Philippinen und anderswo in der Region aus wirtschaftlichen und Sicherheitsgründen abgemildert, anstatt dem Zusammenhang zwischen all diesen Aspekten Rechnung zu tragen."
Über Simbabwe - mein Land - heißt es in dem Bericht: "Das Menschenrechtsklima in Simbabwe hat sich im Jahr 2022 verschlechtert, wobei die Regierung keine nennenswerten Schritte unternommen hat, um Rechte zu wahren und Gerechtigkeit für schwerwiegende Menschenrechtsverstöße zu üben, die in der Vergangenheit hauptsächlich von den staatlichen Sicherheitskräften begangen wurden. Bei den Ermittlungen zu Entführungen, Folter, willkürlichen Verhaftungen und anderen Übergriffen gegen Oppositionspolitiker_innen und -aktivist_innen sind kaum Fortschritte zu verzeichnen."
Ganz aktuell sind viele freiheits- und demokratiebegeisterte Simbabwer_innen entsetzt angesichts der zwei jüngsten Gräueltaten.
In dem ersten Video, das die Online-Nachrichtenagentur Zimlive am 7. Januar veröffentlicht hat und das auch in den sozialen Medien kursierte, ist zu sehen, wie eine Gruppe älterer Menschen von jugendlichen Anhängern der Partei Zanu-PF (Zimbabwe African National Union - Patriotic Front) ausgepeitscht wird. Immer wieder verletzen die Täter auch die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, wollen wissen, welcher politischen Partei sie angehören, wie sie heißen und wie alt sie sind. In einem späteren Video berichtet eine der Überlebenden, dass ihnen ihre Mobiltelefone abgenommen wurden. Einige Telefone wurden zertrümmert, andere wurden in die Tasche gesteckt und mitgenommen. Die Überlebenden sagten auch, sie hätten an keiner politischen Versammlung teilgenommen, sie seien lediglich auf dem Weg zu einem erkrankten Kollegen gewesen.
Der andere Zwischenfall: Ein paar Tage später wurden 25 Oppositionsmitglieder aus Budiriro von der Polizei verhaftet, weil sie eine oppositionelle Versammlung abgehalten hatten. Zu dieser Gruppe gehörten Frauen, die nach eigener Aussage sexuell missbraucht wurden. Die 25 Oppositionsmitglieder wurden in Untersuchungshaft genommen, ohne die Möglichkeit einer Freilassung gegen Kaution.
Gleichzeitig befindet sich der Oppositionsabgeordnete Job Sikhala seit dem 14. Juni 2022 im Hochsicherheitsgefängnis Chikurubi in Simbabwe in Untersuchungshaft. Es gibt weder ein Gerichtsverfahren, noch die Möglichkeit einer Freilassung gegen Kaution. Sikhala wurde Mitte letzten Jahres verhaftet, nachdem er den Fall der Moreblessing Ali, einer CCC-Aktivistin, verfolgt hatte, die von Anhängern der Zanu-PF entführt und ermordet worden war; ihre zerstückelte Leiche wurde Wochen nach ihrem Verschwinden in einem Brunnen gefunden.
Das sind nur einige Beispiele für die politisch motivierte Gewalt, die derzeit in Simbabwe herrscht. Leider gibt es noch viele weitere Formen von Gewalt, z. B. Gewalt gegen Frauen und von Kindesmissbrauch und -vernachlässigung, sowohl in Haushalten als auch auf nationaler Ebene. Mir ist klar, dass alle Länder bis zu einem gewissen Grad mit derartigen Problemen kämpfen, aber in vielen Ländern gibt es für die Überlebenden von Gewalt Hilfsangebote. Der Mangel an solchen Angeboten in Simbabwe vergrößert die Gewalt und ihre Auswirkungen. Wir - ICAPA Trust und eine Einrichtung der katholischen Kirche - leben in Simbabwe friedlich. Das kann ich von uns Simbabwer_innen untereinander nicht behaupten.
Die afrikanischen Länder südlich der Sahara wurden schon von mindestens einem Präsidenten einer mächtigen Nation beschimpft, und die Menschen dort werden im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsgruppen als minderwertig angesehen. Im Laufe der Geschichte wurden Schwarze als Vieh betrachtet, als ungebildet und nicht dazu in der Lage, ein anständiges Leben zu führen. Als die Sklaven- und Kolonialherren auf den Kontinent kamen, fanden sie jedoch gut funktionierende, nachhaltige Gesellschaften vor. Sei es das westafrikanische Königreich Dahomey aus dem 18. und 19. Jahrhundert, das heute größtenteils zu Benin gehört; das Königreich Kongo mit seiner Blütezeit zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert oder das Monomotapa-Reich des 15. bis 17. Jahrhunderts im heutigen Simbabwe.
Als die Europäer ihre Expeditionen nach Afrika südlich des Mittelmeers begannen, stellten sie fest, dass es in den dortigen Kulturen in der Regel keine Gefängnisse gab. Trotzdem funktionierte das Justiz- und Gemeinwesen so gut, dass ihre Städte zu wichtigen Handelspartnern für die frühen europäischen Reisenden wurden. Tatsächlich war der von den Europäern eingeführte und betriebene Sklavenhandel schuld daran, dass dieser politische Ansatz untergruben wurde. Der Sklavenhandel legte den Grundstein für den Warlordismus und die Gesetzlosigkeit, die noch immer auf unserem Kontinent herrschen.
Auf den Sklavenhandel folgte die Kolonisation von mutwillig geschwächten und ausgebeuteten Völkern. Der schottische Missionar und Reisende David Livingstone konnte während seiner gesamten Missionsreise nur eine einzige Person bekehren. Seinem Scheitern auf den Grund gehend, kam Livingstone zu dem Schluss, dass die Menschen mit ihrem Sozial- und Regierungssystem und ihrem Lebensstil - kurzum mit ihrem Leben - glücklich und zufrieden waren. Livingstone stellte fest, dass zur Verwirklichung der Vision der britischen Krone (Christentum, Handel und Zivilisation) die Lebensweise der Menschen vollständig zerstört werden müsste. Und genau das haben sie getan.
Die Lebensweise, die von Livingstone, anderen Missionaren und verschiedenen europäischen Staaten zerstört wurde, war von der Lebensphilosophie Ubuntu geprägt. Durch Ubuntu konnten die Menschen in meiner Heimat lange vor den Europäern gut zusammenleben. Nicht alles war perfekt, aber gut genug für nachhaltig funktionierende Gesellschaften.
Was meine ich mit "Ubuntu"?
Übersetzt heißt das Wort "Mensch" in Zulu "u-muntu". "Ubuntu" ist ein daraus abgeleitetes Wort und bedeutet so viel wie "Menschlichkeit" oder auch "Gemeinsinn". Ein Mensch besteht also praktisch aus seiner körperlichen Hülle und dem innewohnenden Ubuntu. Ubuntu lehrt uns das Verständnis, dass wir alle menschliche Wesen und Teil eines Ganzen sind.
Bevor die afrikanischen Kulturen durch Sklaverei und Kolonialisierung zerstört wurden, wurde das Leben und der Umgang miteinander durch Verwandtschaft geregelt - vom engsten Familienkreis bis zu entfernten Verwandten und darüber hinaus. Es gab keine schriftlich festgehaltenen Regeln oder Verhaltensvorschriften. Ubuntu war Teil der täglichen Lebenspraxis. Im Kreise der Familie und der Gemeinschaft wurde man in die Lebensphilosophie von Ubuntu eingeführt und lernte, wie man das volle Potenzial seiner Menschlichkeit entfalten konnte. So wurden die Grundsätze von Ubuntu innerhalb der Familie und der Gemeinschaft weitergegeben.
Die Essenz von Ubuntu lässt sich gut daran erkennen, wie wir uns in meiner Heimat in Simbabwe begrüßen. Wie auch überall sonst auf der Welt beginnt unsere Begrüßung mit der Würdigung des Gegenübers. Das drückt sich z. B. in "Hallo" aus. Dann erkundigt man sich nach dem Wohlbefinden der anderen Person. In meiner Heimat antwortet man auf die Frage "Wie geht es dir" nicht einfach nur mit "Mir geht es gut. Wie geht es dir?". Die Essenz von Ubuntu ist die Art und Weise, wie diese beiden unterschiedlichen Sätze miteinander verbunden sind.
In meiner Heimat lautet die Antwort auf die Frage "Wie geht es dir?": "Mir geht es gut, wenn es dir auch gut geht".
Die kenianische Akademikerin Micere Mugo, emeritierte Professorin und ehemalige Vorsitzende des Lehrstuhls für afroamerikanische Studien an der Syracuse University (USA), die sich mit Ubuntu beschäftigt, ist der Ansicht, dass die logische Folge von Unwohlsein der Tod ist. Wenn wir dieses Prinzip auf unsere Begrüßung ausweiten, würde das heißen: "Ich bin tot, wenn auch du tot bist"; oder "Ich lebe, wenn auch du lebst". Mugo fasst den Grundgedanken von Ubuntu sinngemäß so zusammen: "Ich bin, weil du bist und weil du bist, bin ich."
Meiner Meinung nach ist das eine ganz wunderbare Art zu leben, in der wir gemeinsam Verantwortung für unser Wohlergehen und unsere Verbundenheit übernehmen. Ubuntu steht für die Praxis des friedlichen Zusammenlebens, weil man davon ausgeht, dass ein Mensch nur dann ein gutes Leben führen kann, wenn es auch seinen Mitmenschen gut geht. Erst dann führen alle zusammen ein glückliches Leben.
Die schlechte Nachricht ist, dass ich Ihnen ein sehr positives Bild vermittelt habe. Die bereits erwähnten familiären Bindungen - die Grundpfeiler unserer Gesellschaft - vom engsten Familienkreis, über entfernte Verwandte bis hin zur Gemeinschaft, den umliegenden Clans und letztlich dem gesamten Gemeinwesen mit dem Souverän an der Spitze, wurden mit dem Einzug europäischer Gepflogenheiten in unseren Gesellschaften zerstört.
Ich vergleiche das Zerstören dieser Bindungen gerne mit dem, was passiert, wenn ein Molekül in seine Bestandteile zerlegt wird. Wenn ein Molekül in seine Bestandteile zerlegt wird, fliegen die einzelnen Atome auseinander. Sie sind nicht mehr miteinander verbunden. Die Kräfte, die die Atome zusammengehalten haben, lösen sich in der Ladung der einzelnen Atome auf. Die stabile Struktur existiert nicht mehr, und dieser Vorgang kann auch nicht rückgängig gemacht werden, da die Atome nun verstreut sind und sich möglicherweise mit anderen Atomen zu neuen Einheiten verbinden.
Der erste Teil des Titels meiner Rede lautet deshalb, dass Ubuntu tot ist. Die praktische Bedeutung von Ubuntu wird nie wieder so sein, wie sie in den ursprünglichen Gesellschaften gelebt wurde. Heute wird in Südafrika darüber diskutiert, ob die Ubuntu-Philosophie, also die gemeinsame Verantwortung für das Wohlergehen aller, in einem kapitalistischen Umfeld überhaupt möglich ist. In Südafrika wird die Verpflichtung, sich um das Wohlergehen der Bedürftigen in der engeren und weiteren Verwandtschaft zu kümmern heute als "schwarze Steuer" bezeichnet. Das ist auch ein Grund, warum die Politik in vielen afrikanischen Ländern versagt. Der örtliche Abgeordnete oder Gemeinderat wird als lokaler Souverän angesehen, nicht als Vertreter der Stimme des Volkes gegenüber der Zentralregierung. Bei dem Kapitalismus, der heute die Welt regiert, kann Ubuntu nicht nachhaltig praktiziert werden.
Und wenn Ubuntu nicht mehr praktiziert werden kann, was bleibt uns dann noch? Uns bleibt das Wissen von Ubuntu. Uns bleibt die Philosophie von Ubuntu, wie sie unsere Vorfahren gelebt haben. Diese Philosophie kann uns neue Wege aufzeigen. Für ein besseres Miteinander. Es macht für mich deshalb wenig Sinn, zu sagen: "Der König ist tot, es lebe der König". Lieber sage ich: "Ubuntu in seiner ursprünglichen, praktischen Form ist tot, aber lang lebe Ubuntu in seiner neuen, symbolischen, philosophischen Form."
Deshalb freue ich mich außerordentlich, heute als Protestantin vor Ihnen zu stehen und in einem katholischen Umfeld in den Austausch zu gehen, wie wir als physische und geistige Wesen gut zusammenleben können. Das ist für mich die Essenz von Ubuntu.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Tsitsi Dangarembga
- Es gilt das gesprochene Wort -