Digitalisierung muss den Menschen nutzen
Wir führen dieses Gespräch zu Beginn der Corona-Krise in einer Videokonferenz. Abstand halten ist angesagt. Distanz und Nähe spielen bei der Bewertung digitaler Kommunikation eine große Rolle. Wie nahe kann man einem Menschen sein, mit dem man "nur" chattet?
Breidenbach: Wenn wir die Kommunikation dem Medium anpassen, ist online ein enger Austausch möglich. Dann können wir sehr berührende und intime Begegnungen schaffen, weil wir sehr fokussiert sind auf die andere Person und nicht so viele Ablenkungen haben. Therapien laufen heute auch online und es gibt Situationen, in denen sich Ratsuchende in ihrem Umfeld sicherer fühlen und sich anders öffnen können als bei einem direkten Kontakt.
Welskop-Deffaa: Ich stelle fest, dass meine Kontakte innerhalb des Verbandes zu Menschen unmittelbarer sind, denen ich auf Twitter folge, und umgekehrt. Wir haben eine direkte Kommunikation und wissen voneinander. Das befördert auch die Arbeit in dem Team, das die Digitale Agenda der Caritas voranbringen soll. Wir spüren eine Aufbruchsstimmung, die darin sichtbar wird, dass es immer mehr Menschen im Verband als Gewinn ansehen, Projekte in wechselnden Formen der Zusammenarbeit zu bearbeiten und sich schneller über Hierarchie- und Verbandsebenen hinweg abzustimmen.
Breidenbach: Das Digitale ist eben nicht mehr aus dem Leben der Menschen wegzudenken. Das fordert den sozialen Sektor an vielen Punkten heraus. Wir müssen prüfen: Wo funktionieren digitale Angebote, die uns tolle Möglichkeiten entlang der sozialen Wertschöpfungskette bieten, und wo brauchen wir nach wie vor das Analoge?
Welskop-Deffaa: Ein gutes Beispiel hierfür ist unsere Online-Beratung, mit der wir Menschen ein hochwertiges Hilfeangebot machen können. Etwa denen, die auf dem Land mit ausgedünnter sozialer Infrastruktur zurechtkommen müssen. Das ist eine objektive Verbesserung der Situation.
Die Caritas hat im Jahr 2019 gefordert: "Sozial braucht digital". Welche Erfahrungen haben Sie gesammelt?
Welskop-Deffaa: Ich glaube, dass wir durch die Kampagne gelernt haben, die Chancen der Digitalisierung zu sehen, ohne dabei in eine Euphorie zu verfallen. Das gilt zum Beispiel für den Einsatz von Robotern in der Pflege. Die sollen nicht den menschlichen Kontakt verdrängen, sondern im Gegenteil: Wo Robotik die körperlich schwere und anstrengende Arbeit in der Altenpflege erleichtert, bleibt mehr Zeit für die menschliche Begegnung. Wenn Technik helfen kann, dass man alleine auf der Toilette zurechtkommt und keine fremde Person dabei braucht, respektiert das die Intimsphäre. Wichtig ist zugleich, diese Prozesse kritisch zu begleiten, denn der Einsatz von Robotik verleitet womöglich dazu, die Arbeit der Pflegerinnen und Pfleger noch weiter zu verdichten. Die Effizienzgewinne dürfen nicht zulasten der Beschäftigten gehen.
Breidenbach: Das halte ich auch für einen zentralen Aspekt. Wir müssen uns fragen: Was ist die Intention bei den Systemen, die wir bauen? Geht es da um Effizienz, Profit und Wirtschaftlichkeit an erster Stelle oder um Lebensqualität, Menschlichkeit und andere Werte?
Welskop-Deffaa: Hier sehe ich eine wichtige Rolle für uns als Caritas. Wir müssen uns aktiv in digitale Entwicklungsvorhaben einmischen und deutlich machen, dass damit verbundene ethische Fragestellungen nicht erst nachgelagert zu behandeln sind. Ethics by design!
Die Spielregeln der Digitalisierung werden allerdings von einigen großen Konzernen bestimmt. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Breidenbach: Mich beschäftigt die Abhängigkeit von den großen Kommunikationsplattformen, in die wir uns als Sozialsektor begeben. Wir machen das an vielen Stellen sehr naiv, wenn wir Daten an kommerziell getriebene Unternehmen geben. Deren erstes Ziel ist definitiv nicht, das Gemeinwohl zu stärken, sondern möglichst viele Werbeeinnahmen zu generieren. So wie Facebook, das Spendenaktionen anbietet, um die Bankdaten der User zu kriegen, denn die sind bei gemeinnützigen Themen eher bereit, solche sensiblen Daten einzugeben, als bei kommerziellen.
Welskop-Deffaa: In einer von Plattformen geprägten Welt gilt die Formel: The winner takes it all. Wir erleben Zentralisierungstendenzen und müssen darauf Antworten finden. Die Frage, ob und wo wir im Caritasverband Aufgaben, die bislang lokal oder regional erledigt wurden, stärker bündeln sollten, damit wir im Wettbewerb mit den großen Plattformen bestehen können, ist sorgsam zu prüfen. Wir merken auch, dass sich die öffentliche Hand in der Plattformwelt neu aufstellt, die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern über das Onlinezugangsgesetz neu strukturiert wird. Da müssen wir aufpassen, dass wir mit unserem Selbstverständnis der subsidiären Leistungserbringung nicht versinken.
Breidenbach: Eine Antwort des sozialen Sektors darauf könnte ja in der Kollaboration liegen. Warum bündeln wir nicht unsere Kräfte, bieten gemeinsam Technologien an, die auf unserem Wertefundament basieren? Dafür müssten soziale Organisationen allerdings bereit sein, Teile ihres Budgets für eine gemeinsame Entwicklung bereitzustellen - und da tun sich meiner Erfahrung nach immer noch viele schwer.
Bei der Weiterentwicklung der Online-Beratung beschreitet die Caritas neue Wege, die in diese Richtung weisen. Welche Erfahrungen machen Sie dabei?
Welskop-Deffaa: Wir haben 2019 mit den Gliederungen und Mitgliedern verabredet, die inhaltliche Verantwortung zu teilen und die finanzielle Absicherung der Online-Beratung kooperativ zu gestalten. Darüber hinaus wollen wir dafür sorgen, dass der technische Kern der Entwicklung eine Zweit- und Drittnutzung erfährt (Anm. der Red.: Inzwischen ist die Online-Beratungsplattform Open Source). Das entspricht dem Ansatz "Public money - public code", denn das Bundesfamilienministerium fördert unser Projekt. Die damit verbundenen Fragen zur Pflege einer Open-Source-Community oder zur Verwaltung der Open-Source-Lizenzen sind fundamental neu für uns. Eine Erfahrung ist dabei unübersehbar: Wir müssen bereit und in der Lage sein, für solche Vorhaben eine kontinuierliche und ausreichende Finanzierung zu gewährleisten.
Breidenbach: Ich verfolge seit Jahren das Thema Impact Investing, also ethische und wirkungsorientierte Geldanlagen. Gibt es Gelder von Menschen, die sagen: "Wir wollen gesellschaftlichen und ökologischen Wandel" und die bereit sind, auf Rendite zu verzichten? Meine Erfahrungen sind größtenteils negativ. Die meisten bevorzugen Projekte, die sie noch wesentlich reicher machen, aber kaum positive Auswirkungen auf die Welt und die Umwelt haben. Gleichzeitig sehe ich auch den institutionellen Selbsterhalt kritisch. Klar kenne ich das von betterplace, wo wir auch schauen müssen, dass wir uns refinanziert bekommen. Aber wenn ich gute Ideen für ein digital-soziales Ökosystem habe, bin ich persönlich bereit, diese mit vermeintlichen Konkurrenten zu teilen. Das funktioniert, wenn es um die große, gemeinsame Idee geht.
Welskop-Deffaa: Ich möchte die Caritas, wie wir sie "geerbt" haben, ins digitale Zeitalter führen. Die Idee des Wohlfahrtsverbands ist faszinierend: Es geht darum, Menschen in Not konkret zu helfen, Raum fürs ehrenamtliche Engagement zu bieten und anwaltschaftlich für Benachteiligte in Gesellschaft und Politik einzutreten. Letzteres versuchen wir jetzt auch in Bezug auf die digitale Teilhabe. Dazu müssen wir durchschauen, welche Mechanismen der Digitalisierung zur Exklusion von Menschen führen und welche die Teilhabechancen verbessern können. Es ist höchst problematisch, wenn Algorithmen der Schufa dazu führen, dass Menschen lebenslang diskriminiert werden, weil sie sich in persönlichen Notlagen überschuldet haben und der spätere Neustart dadurch verhindert wird. Dieses netzpolitische Know-how müssen wir uns aneignen.
Breidenbach: Ich teile Ihre Einschätzung. Die Caritas hat eine riesige Aufgabe, hier diskursfähig zu sein. Ich sehe oft Leute, die nur maulen. Das bringt nichts. Wir müssen Gespräche führen, in denen sich auch die digitale Avantgarde gesehen fühlt, das als interessanten Austausch empfindet und uns nicht als Bittsteller wahrnimmt, als "die Sozialen", die nur über Datenschutz reden wollen. Gleichzeitig sollten wir im sozialen Sektor auch erkennen, dass es nicht nur um Technologien und Wissen geht, sondern vieles eine kulturelle Dimension hat. Wenn die Organisationskultur nicht darauf angelegt ist, Wissen zu teilen, wenn Leute einen Vorteil darin sehen, das Know-how bei sich zu halten, können wir noch so tolle Tools und Wissensplattformen bauen, das nützt dann nichts. Der digitale Wandel beginnt in den Köpfen der Menschen und in der gelebten Kultur von Organisationen.