C. Vorgehen nach Kenntnisnahme eines Hinweises
Der Schutz von betroffenen Minderjährigen oder schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen ist sicherzustellen. Das bedeutet beispielsweise, dass der Träger zur Abwendung einer Gefährdung bis zur Klärung des Verdachts und Aufklärung der Sachlage für die sofortige Unterbrechung des Kontakts zwischen der beschuldigten Person und der betroffenen Person sorgen muss.
Nach Kenntnisnahme eines Hinweises erfolgt gemäß dem institutionellen Schutzkonzept eine Bewertung der Plausibilität, von Anfang an zwingend unter Einbeziehung und Beratung durch eine externe Ansprechperson oder eine unabhängige Fachberatungsstelle. Dabei sowie im Rahmen des weiteren Vorgehens sind die Persönlichkeitsrechte aller Beteiligten, die besondere Schutzbedürftigkeit Minderjähriger und die Erfordernisse eines etwaigen Strafverfahrens zu berücksichtigen.
Bei der Beobachtung und Sondierung sind größtmögliche Sorgfalt, Umsicht und Vertraulichkeit geboten. In dieser ersten Plausibilitätsprüfung wird geprüft, ob es tatsächliche Anhaltspunkte gibt, die die behauptete Handlung möglich erscheinen lassen.[1] Personen, die Hinweise geben, müssen mit Respekt behandelt werden. Bei sich daraus ergebenden tatsächlichen Anhaltspunkten für den Verdacht auf sexualisierte Gewalt ist ein umsichtiges Krisenmanagement sicherzustellen.
Gespräch mit der/dem Betroffenen - Schutz und Unterstützung
Der Schutz aller Beteiligten vor öffentlicher Preisgabe von Informationen, die vertraulich gegeben werden, ist sicherzustellen. Dies betrifft insbesondere die/den Betroffene(n), die meldende Person und die beschuldigte Person.
Wenn die/der Betroffene beziehungsweise gesetzliche Vertreter(innen) über erfahrene sexualisierte Gewalt informieren möchten, bietet der Träger ein Gespräch mit der externen Ansprechperson an.
Bei Hinweisen auf sexualisierte Gewalt sind bei Kindern die Personensorgeberechtigten zu informieren und über das weitere Vorgehen aufzuklären. Bei Jugendlichen und schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen muss im Einzelfall unter Abwägung des Selbstbestimmungsrechts von Jugendlichen und dem Sorgerecht ihrer Eltern beziehungsweise ihres Vormunds geprüft werden, wer zu informieren ist, zum Beispiel Sorgeberechtigte, Angehörige oder gesetzliche Betreuer, die/der zuständige Mitarbeiter(in) des Jugendamtes.[2] Die Weitergabe von Informationen durch den Träger an das Jugendamt zur Abwendung von Gefährdungssituationen für das Wohl des Kindes beziehungsweise des/der Jugendlichen ist zulässig (§ 8 a Abs. 4 SGB VIII, § 4 Abs. 3 KKG).
Der/Die Betroffene ist zu Beginn des Gesprächs darüber zu informieren, dass tatsächliche Anhaltspunkte in aller Regel den Strafverfolgungs- und anderen zuständigen Behörden weiterzuleiten sind. Ebenso ist in geeigneter Weise auf das weitere Vorgehen hinzuweisen.
Der/Die Betroffene wird über das mögliche weitere Vorgehen, Hilfestellungen und Unterstützungsmöglichkeiten informiert. Hierzu gehört insbesondere die Möglichkeit der Kontaktaufnahme zu einer externen Fachberatungsstelle, die anonym und unabhängig beraten kann. Zu diesem Gespräch ist seitens der beauftragten Ansprechperson eine weitere Person hinzuzuziehen. Der/Die Betroffene beziehungsweise der/die gesetzliche Vertreter(in) kann zu dem Gespräch eine Person des Vertrauens hinzuziehen. Hierauf ist ausdrücklich hinzuweisen. Zum Schutz der betroffenen Person sind eine entwicklungsangemessene Gesprächssituation und eine traumasensible Durchführung des Gesprächs sicherzustellen. Das Gespräch darf eine spätere Ermittlung der Strafverfolgungsbehörden nicht beeinträchtigen.[3]
Der/Die Betroffene beziehungsweise der/die gesetzliche Vertreter(in) wird zu einer eigenen Anzeige bei den Strafverfolgungsbehörden ermutigt. Bei Bedarf wird die dazu notwendige Unterstützung in angemessener Form gewährleistet, zum Beispiel wird über die Möglichkeit psychosozialer Prozessbegleitung informiert.
Das Gespräch, bei dem auch die Personalien aufzunehmen sind, wird protokolliert. Das Protokoll ist von dem/der Protokollführenden und dem/der Betroffenen beziehungsweise dem/der gesetzlichen Vertreter(in) zu unterzeichnen. Eine Ausfertigung des Protokolls wird der betroffenen Person ausgehändigt. Die vom Träger benannte Person wird über das Ergebnis des Gesprächs informiert.
Anhörung der beschuldigten Person
Sofern die Aufklärung des Sachverhalts nicht gefährdet und die Ermittlungsarbeit der Strafverfolgungsbehörden nicht behindert werden, hört eine vom Träger benannte Person oder eine externe Ansprechperson die beschuldigte Person unter Hinzuziehung einer weiteren Person, in der Regel einer Juristin/eines Juristen, zu den Vorwürfen einer Tat gemäß Ziffer I oder Ziffer II[4] der Leitlinien an.[5]
Die beschuldigte Person kann dazu eine Person des Vertrauens, auf Wunsch auch einen Rechtsanwalt/eine Rechtsanwältin, hinzuziehen. Hierauf ist er/sie vor der Anhörung hinzuweisen. Die Kosten hierfür sind im Falle der Unbegründetheit der Beschuldigung vom Träger als Dienstgeber im Rahmen seiner Fürsorgepflichten zu tragen. Die beschuldigte Person wird über das Recht der Aussageverweigerung informiert.
Auf die Verpflichtung, tatsächliche Anhaltspunkte den Strafverfolgungs- und anderen zuständigen Behörden weiterzuleiten, ist hinzuweisen. Die beschuldigte Person wird über die Möglichkeit zur Selbstanzeige bei den Strafverfolgungsbehörden informiert.
Die Anhörung zur Beschuldigung einer Tat gemäß Ziffer I oder Ziffer II[6] der Leitlinien in der jeweils geltenden Fassung ist zu protokollieren. Die beschuldigte Person hat das Recht, das Protokoll einzusehen und gegenzuzeichnen. Sie hat auch das Recht, eine Gegendarstellung abzugeben, die dem Protokoll beizufügen ist. Sie erhält eine Kopie des von dem/der Protokollführenden unterzeichneten Protokolls. Die vom Leitungsorgan des Trägers benannte Person wird über das Ergebnis des Gesprächs informiert, sofern sie nicht selbst beteiligt war. Jede Beschuldigung gegenüber Beschäftigten muss mit Blick auf die geltende Unschuldsvermutung sorgfältig geprüft werden. Dabei darf es weder Vorverurteilungen der beschuldigten Person noch eine Infragestellung der Äußerungen der betroffenen Person geben.
Zusammenarbeit mit den staatlichen Strafverfolgungs- und anderen zuständigen Behörden
Sobald tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht einer Handlung nach Ziffer I[7] dieser Leitlinien vorliegen, leitet der Träger die Informationen an die Strafverfolgungsbehörden und, soweit rechtlich geboten, an andere zuständige Behörden, zum Beispiel (Landes-)Jugendamt, Schulaufsicht, weiter.[8] Rechtliche Verpflichtungen anderer kirchlich-caritativer Stellen bleiben unberührt.
Die Pflicht zur Weiterleitung der Informationen an die Strafverfolgungsbehörden gilt, unter Wahrung der gesetzlichen Bestimmungen, auch für Berufsgeheimnisträger(innen), die im Rahmen ihrer seelsorgerischen, beratenden oder therapeutischen Arbeit Hinweise auf sexualisierte Gewalt erlangen, bei der Gefahr für Leib und Leben besteht, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen die Pflicht zur Verhinderung einer Straftat die Schweigepflicht wesentlich überwiegt.[9] In jedem Fall sind die Strafverfolgungsbehörden einzuschalten, wenn weitere Gefährdungen zu befürchten sind oder weitere mutmaßlich Betroffene ein Interesse an der strafrechtlichen Verfolgung der Taten haben könnten.
Die Pflicht zur Weiterleitung der Informationen an die Strafverfolgungsbehörden entfällt nur ausnahmsweise, wenn zum Beispiel das Leben oder die Gesundheit der betroffenen Person zu schützen ist oder wenn sie oder ihr/ihre gesetzliche(r) Vertreter(in) eine Strafverfolgung ausdrücklich ablehnt.[10] Eine externe Fachberatungsstelle ist hinzuzuziehen. Der betroffenen Person müssen die verschiedenen Möglichkeiten und Konsequenzen dargelegt werden. Sie muss Gelegenheit erhalten, die Entscheidung gut abzuwägen. Die Gründe für das Absehen von einer Weiterleitung müssen auch vom Träger gut abgewogen werden. Das Gespräch mit der betroffenen Person, die Entscheidungsgründe und das Ergebnis der externen Beratung sind unter Angabe der Namen aller Beteiligten zu dokumentieren. Die Dokumentation ist von der betroffenen Person oder dem/der gesetzlichen Vertreter(in)und der externen Fachberatungsstelle zu unterzeichnen.
Kirchenrechtliche Voruntersuchung gemäß can. 1717 § 1 CIC
Richtet sich der Vorwurf gegen einen anderen Gläubigen, der in der Kirche eine Würde bekleidet oder ein Amt oder eine Funktion ausübt, ist zusätzlich zu den in erster Linie zu ergreifenden "Maßnahmen bis zur Aufklärung des Falls" sowie den im Kapitel E
"Konsequenzen für beschuldigte -Personen und für Täter(innen)" beschriebenen Maßnahmen eine kirchenrechtliche Voruntersuchung gemäß can. 1717 § 1 CIC durchzuführen. Die Leitung des Trägers informiert daher den Ordinarius des Ortes der behaupteten Tat über den Vorwurf.
Maßnahmen bis zur Aufklärung des Falls
Liegen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht auf sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen vor, entscheidet der Dienstgeber über das weitere Vorgehen unter Berücksichtigung der kirchen-, arbeits-, dienst- und auftragsrechtlichen Bestimmungen. Er ist berechtigt, Beschäftigte vorübergehend unter Fortzahlung der Vergütung vom Dienst freizustellen, bis der Sachverhalt aufgeklärt ist. Die Mitarbeitervertretung wird unverzüglich über die Freistellung informiert und auf Wunsch angehört. Der Dienstgeber hat durch geeignete und angemessene Maßnahmen sicherzustellen, dass sich die mutmaßliche Handlung nicht wiederholen kann.[11] Die Verpflichtung zur Weiterleitung der Informationen an die Strafverfolgungsbehörden bleibt hiervon unberührt.
Vorgehen bei nach staatlichem Recht nicht aufgeklärten Fällen
Wenn der Verdacht auf sexualisierte Gewalt nach staatlichem Recht nicht aufgeklärt wird, zum Beispiel weil Verjährung eingetreten ist, jedoch tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, die die Annahme sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen rechtfertigen, haben sich die zuständigen kirchlich-caritativen Stellen selbst um Aufklärung zu bemühen und angemessene Regelungen zu finden. Ist die beschuldigte Person verstorben, besteht für die zuständigen kirchlich-caritativen Stellen weiterhin die Pflicht zur Aufarbeitung.[1]
[1] Hier ist zu unterscheiden zwischen den für das Dienstverhältnis relevanten Pflichtverletzungen und strafrechtlicher Relevanz des Verhaltens. Der Träger hat zu prüfen, ob das Verhalten Anlass gibt für arbeitsrechtliche Sanktionen. Plausibilitätsprüfung bedeutet hingegen nicht, dass die Verantwortlichen eigene Ermittlungen durchführen. Es ist allein Sache der Staatsanwaltschaft, zu beurteilen, ob die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens erforderlich ist. Der Träger sollte schon deshalb nicht selbst ermitteln, um beschuldigte Personen nicht vorzuwarnen und dadurch den Erfolg der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung zu gefährden. Beschuldigte Personen könnten zum Beispiel Beweismaterial vernichten oder versuchen, die/den Betroffenen und andere einzuschüchtern. Eigene Beweiserhebungen durch den Träger können zudem dazu führen, dass der Beweiswert von Zeugenaussagen gemindert wird oder dass Beweise überhaupt nicht mehr in einem Strafprozess verwertet werden können. Vgl. Broschüre des BMJV: "Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch in einer Einrichtung - Was ist zu tun?", Download unter: Link
[2] Ist der/die Betroffene minderjährig, muss im Einzelfall zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Kindes und dem Sorgerecht seiner Eltern abgewogen werden. Aus dem Recht zur elterlichen Sorge (Art. 6 GG) als Ausprägung ihrer Pflicht zu Pflege und Erziehung leitet sich ab, dass Eltern zu beteiligen sind. Dies gründet auf der Annahme, dass Kinder besonders schutz- und hilfebedürftig sind. Ihre Persönlichkeit ist als noch nicht voll selbstbestimmungsfähig und eigenverantwortlich zu sehen.
Mit zunehmendem Alter wandeln sich aber die Anforderungen an eine pflichtgemäße Ausübung der elterlichen Sorge. Das Erziehungsrecht der Eltern endet also da, wo das Kind als selbstbestimmungsfähig einzuschätzen ist. In jedem Einzelfall sollte die jeweilige individuelle Reife des betroffenen Kindes oder Jugendlichen in Bezug auf die jeweilige Tragweite möglicher Entscheidung beurteilt werden.
[3] Hierbei ist gut abzuwägen, welche Informationen für den direkten Kinderschutz (auch anderer) vor Ort benötigt werden und ob es zu einer Anzeige kommen soll. Grundsätzlich sollte die das Gespräch führende Person dahingehend in Gesprächsführung geschult sein, dass die Interessen der betroffenen Person und des akuten Kinderschutzes vor Ort gewährleistet werden können und gleichzeitig ein mögliches Ermittlungsverfahren nicht beeinträchtigt wird.
[4] Siehe S. II.
[5] Im Zweifelsfall sollte von einer Anhörung (zunächst) abgesehen werden (Verdunkelungsgefahr). Siehe: BMJV-Broschüre, a.a.O., Download unter: Link )
[6] Siehe S. II.
[7] Ebd.
[8] Sinnvoll ist, den Behörden mitzuteilen, ob und welche kurzfristigen Schutz-/Hilfemaßnahmen für notwendig erachtet werden.
[9] § 34 StGB
[10] Die Erfüllung dieser Voraussetzungen kann nicht allein vom Träger festgestellt werden. Sie ist im Hinblick auf die Gefährdungslage und die Einschätzung der tatsächlichen Schwere des Tatverdachts durch unabhängige, fachlich qualifizierte externe Fachberatungsstellen zu bestätigen.
Vgl.: BMJV-Broschüre "Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch in einer Einrichtung - Was ist zu tun?", a.a.O.
[11] Mögliche Maßnahmen wären zum Beispiel das Aussprechen eines Hausverbots, Kontakt- und Umgangsverbot (auch digital) gemäß §§ 935 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) und andere Schutzmaßnahmen.
[12] Vgl. Kapitel I "Aufarbeitung länger zurückliegender Fälle".