Der Bundestagswahlkampf steht
bevor. Die Parteien haben ihre Wahlprogramme formuliert. Sie bekunden darin
ihren Anspruch, für eine solidarische und gerechte Gesellschaft einzutreten.
Als Deutscher Caritasverband nehmen wir diesen Anspruch ernst und wollen aus
unserer Sicht Kriterien und Bedingungen als Maßstab einer solchen Politik
formulieren. Es geht uns dabei um die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger,
insbesondere aber von benachteiligten Menschen.
Eine Politik, die für Solidarität und Gerechtigkeit eintritt, muss sich
besonders den sozialen Sicherungssystemen widmen. Es steht außer Frage, dass
die sozialen Sicherungssysteme reformiert werden müssen. Nur so können sie
nachhaltig und langfristig leistungsfähig bleiben. Stabile soziale
Sicherungssysteme dienen dem Wohl der ganzen Gesellschaft sowie dem
wirtschaftlichen Wachstum. Wenn die Reformbemühungen nicht fortgesetzt würden,
entstünden angesichts der demographischen Entwicklung und anderer Faktoren
zusätzliche Gerechtigkeitsdefizite. Der Sinn notwendiger sozialpolitischer
Reformen muss den Bürgerinnen und Bürgern jedoch vermittelt und transparent
gemacht werden. Nur so kann die Reformfähigkeit unserer Gesellschaft und des
sozialen Systems langfristig erhalten werden.
Ziel der Reformanstrengungen muss sein, jeden einzelnen der Gesellschaft zu
einem eigenverantwortlichen und solidarischen Leben zu befähigen. Für Menschen,
die sich nicht selbst helfen können, muss ein unterstes soziales Netz erhalten
bleiben, das ein Leben in Würde ermöglicht. Die Solidarität muss wieder stärker
gefördert werden und Mittelpunkt gesellschaftlicher und politischer
Überlegungen sein.
Der Deutsche Caritasverband richtet sein besonderes Augenmerk auf das Drittel
der Bevölkerung, das mit einem niedrigen Einkommen zurechtkommen muss. Gerade
diese Gruppe hat in der politischen Debatte kaum eine Stimme und wenig Chancen
für eine
gesellschaftlichen
Teilhabe.
Unsere Kriterien für eine Politik, die das Ziel der Solidarität, Gerechtigkeit
und Befähigung aller verfolgt, können unter der Überschrift „Armut und
Ausgrenzung bekämpfen. Arbeit
schaffen“ zusammengefasst
werden.
Zum Thema „Arbeit schaffen“ wird Generalsekretär Prof. Dr. Georg
Cremer im Anschluss sprechen.
1.
Armut verringern
Immer mehr Menschen sind in Deutschland von Armut betroffen. Eine Ursache dafür
ist u. a. die Massenarbeitslosigkeit. Viele Menschen sind auf Sozialhilfe und
Arbeitslosengeld II angewiesen.
Die Höhe der Sozialhilfe und des Arbeitslosengeldes II wurden im Rahmen der
Sozialreformen zum 1. Januar 2005 neu festgelegt. Eine öffentliche Debatte zur
Höhe und Ausgestaltung wurde damals nicht geführt. Der Regelsatz wurde auf dem
Stand der früheren Sozialhilfe eingefroren und einmalige Leistungen werden nun
pauschaliert gewährt.
Die Sozialhilfe soll ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Dies ist aus
unserer Sicht bei einem Teil der Hilfeberechtigten gefährdet. Denn die
Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen bei Medikamenten und Praxisgebühren sind in
den Regelsätzen und Pauschalierungen nicht berücksichtigt. Dadurch können in
Einzelfällen Menschen weit unter die sehr knapp bemessenen Grenzen des
Existenzminimums fallen. Ebenso berücksichtigen die Pauschalen unzureichend
besondere Lebenssituationen. Wie restriktiv die neuen Regelungen sind, zeigt
dieses Beispiel: Was bekommt eine junge Mutter für ihr erstes Baby zusätzlich
zu ihrer Regelleistung? Weder ein Kinderbett, noch einen Kinderwagen! Lediglich
die Sonderbeihilfe für die erste Stramplergarnitur wird gewährt.
Die Regelsätze für das Existenzminimum müssen in Deutschland endlich in einem
transparenten Verfahren festgelegt werden und haben auch besondere
Lebenssituationen zu berücksichtigen.
Die begonnene Armuts- und Reichtumsberichterstattung muss weitergeführt werden.
Die Bischöfe haben zu Recht in ihrem Impulspapier „Das Soziale neu denken“
einen Sozialstaats-TÜV gefordert. Die Caritas und die anderen
Wohlfahrtsverbände haben dazu wichtige Vorarbeiten durch das gemeinsam mit der
Bundesregierung durchgeführte Sozialmonitoring geleistet. Die Caritas wird sich
weiter in dieser Frage einbringen. Im Zentrum der Politik muss die Befähigung
der Menschen stehen. Dies gilt insbesondere für benachteiligte Kinder, Familien
und Jugendliche. Nur so ist Armut wirksam zu bekämpfen.
2.
Ausgrenzung bekämpfen –
Benachteiligte Kinder und Familien befähigen
Familien und Kinder sind das Fundament unserer Gesellschaft. Familienpolitische
Reformen, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern, setzen
bevölkerungspolitische Impulse. Jedoch darf die prekäre materielle Situation
vieler Familien nicht bagatellisiert werden. Der in diesem Jahr eingeführte
Kinderzuschlag für Haushalte mit Niedrigeinkommen greift zu kurz. Nur eine verstärkte
Absicherung des Kinderexistenzminimums für Bezieher von Niedrigeinkommen als
Form der Kindergrundsicherung kann wirkungsvoll verhindern, dass Kinder für
ihre Eltern zum Armutsrisiko werden.
Die Caritas setzt sich in ihren vielfältigen Diensten, insbesondere in den
10.000 katholischen Kindertagesstätten, für Kinder ein, die in der Gesellschaft
ausgegrenzt sind oder verminderte Chancen haben. Sprach- und Bildungsförderung
für Kinder mit Migrationshintergrund werden in vielfältigen Initiativen und
Programmen erprobt. Familien mit niedrigem Einkommen und deren Kinder sind zu
befähigen, damit sie ihre Chancen im Leben verwirklichen können. Damit dies
gelingen kann, ist ein Rechtsanspruch auf eine verlässliche Tagesbetreuung für
Kinder unter drei Jahren dringend notwendig.
Bei allen Reformschritten müssen familienpolitische Komponenten beachtet
werden, um auch zu-künftig die Freude an und die Lust auf Kinder in der
Gesellschaft zu erhalten.
Es kann auch nicht hingenommen werden, dass 15 Prozent eines Jahrgangs junger
Erwachsener keinen Berufsabschluss erlangen. In Kindergarten und Schule sowie
in allen gesellschaftlichen Bezügen, in denen Kinder und Jugendliche
aufwachsen, muss die Priorität der „Befähigung“ gelten. Deshalb wirbt der
Deutsche Caritasverband für eine Befähigungsinitiative, damit junge Menschen
ihre Lebenschancen verwirklichen können. Insbesondere benachteiligte Kinder und
Jugendliche brauchen eine stärkere Unterstützung. Dies betrifft auch ihre
Zugangschancen auf den Arbeitsmarkt. Hier brauchen wir vielfältige Konzepte wie
Jugendlichen der Weg in den ersten Arbeitsmarkt eröffnet werden kann.
3.
Solidarität und
Eigenverantwortung
In den sozialpolitischen Reformen muss es grundsätzlich darum gehen, jeden
einzelnen zu mehr Solidarität und Eigenverantwortung zu befähigen. Die Reform
der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung muss sich an der Solidarität
zwischen Kranken und Gesunden orientieren sowie zwischen Einkommensstarken und
-schwachen. Jedem muss der Zugang zu ausreichenden und notwendigen
Gesundheitsleistungen sichergestellt werden. Wir werden bei der Einführung
neuer Finanzierungssysteme für das Gesundheitswesen, aber auch anderer sozialer
Sicherungssysteme darauf achten, dass keine Umverteilung zu Lasten von
Geringverdienern, insbesondere von Familien mit mehreren Kindern und
Alleinerziehenden, stattfindet. Nur so kann langfristig der soziale Frieden
erhalten bleiben.
Auch das Ehrenamt und freiwilliges Engagement stärken den gesellschaftlichen
Zusammenhalt. Sie erschließen für sich und in ergänzender Zusammenarbeit mit
beruflichen Kräften neue Ressourcen für das Gemeinwesen. Dazu brauchen sie
unterstützende und befähigende Rahmenbedingungen. Qualifizierung und Begleitung
gehören dazu ebenso wie durchschaubare Rechtsformen ohne einengende Bürokratie.
Die Politik ist gefordert, die Rahmenbedingungen als Zukunftsinvestition in ein
gelingendes Gemeinwesen weiterzuentwickeln.
Als Deutscher Caritasverband begleiten wir die Politik als
konstruktiv-kritischer Partner und bringen die Anliegen von benachteiligten
Menschen ein. Durch Lösungsvorschläge für verschiedene sozialpolitische Fragen
tragen wir dazu bei, dass das Ziel einer sozialen und gerechten Gesellschaft
realisiert wird.
Stellungnahme
Statement Dr. Peter Neher im Rahmen der Pressekonferenz am 13. Juli 2005 in Berlin
Erschienen am:
13.07.2005
Beschreibung