So muss Armut in Deutschland bekämpft werden
Wie lässt sich der Teufelskreis der Armut brechen?
Eva Maria Welskop-Deffaa: Um die Teufelskreise aus Stigmatisierung, schlechter Gesundheit, geringer Teilhabe, schlechten Bildungschancen, Verschuldung zu durchbrechen, reichen Transferzahlungen nicht aus.
Armutsbekämpfung braucht die Sicherung und den Ausbau sozialer Infrastruktur – flächendeckend und nicht nach Kassenlage. Es braucht einfach zugängliche Begegnungs- und Beratungsangebote.
Es braucht leicht erreichbare Angebote der Gesundheitsversorgung und der Nachbarschaftshilfe. Es braucht eine bezahlbare Verkehrsinfrastruktur.
Was bedeutet das konkret?
Soziale Infrastruktur fängt mit Frühen Hilfen für junge Familien in prekären Lebenslagen an, denen das Elternsein über den Kopf wachsen kann. Sozialberatung, Schuldnerberatung – die Caritas fordert seit Langem ein Recht auf Schuldnerberatung für alle –, Migrationsberatung; Sprachkurse für Menschen, die eine andere Muttersprache als Deutsch haben; Weiterbildungsangebote für Menschen, die keine Qualifikation erwerben konnten – das alles ist dringend notwendig, um die Armutsteufelskreise zu durchbrechen.
Leider ist die Erreichbarkeit sozialer Infrastruktur regional sehr unterschiedlich gewährleistet. Die Armut verfestigt sich vor allem dort, wo nach der Schließung des Automobilzulieferwerks auch die Bankfiliale, der Jugendclub und die Sozialstation geschlossen haben. Zurück bleiben Wartehäuschen für den Bus, der nur einmal am Tag fährt.
«Ich vermisse bei den Entscheidungen der Bundesregierung Mechanismen des sozialen Ausgleichs.»
Wo sehen Sie die Politik in der Pflicht?
Armutssensible Sozialpolitik ist ein Marathonlauf. Sie bedarf politischer Entscheidungen auf allen Ebenen, die in die gleiche Richtung ziehen. Mit möglichst umfassender Partizipation derer, um die es geht.
Einiges hat sich bereits getan: Wohngeld- und Bürgergeldreform zeigen, dass die Bundesregierung ihre soziale Agenda ernst nimmt, auch wenn die dringend notwendige Anpassung der Berechnung des Existenzminimums aufgeschoben ist und wenn die Umsetzung der Wohngeldreform vor Ort voraussichtlich ruckelig sein wird.
Als nächstes stehen die Kindergrundsicherung und die Rentenreform an. Es ist gut, dass die Bundesregierung die Kindergrundsicherung bürokratiearm gestalten will. Schließlich tun sich viele Familien seit Jahren mit der Beantragung des Kinderzuschlags schwer. Die Leistungen, die armen Menschen zustehen und die sie brauchen, dürfen ihnen nicht faktisch vorenthalten bleiben.
Bei der Rentenreform wünsche ich der Regierung Mut. Die Errichtung einer neuen kapitalgedeckten Säule in der gesetzlichen Rente reicht nicht aus. Die Selbstständigen müssen in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden. Wir brauchen auch eine gesplittete dynamische Beitragsbemessungsgrenze und eine Erhöhung des faktischen Renteneintrittsalters.
«Armutspräventive Pflege- und Rentenpolitik braucht eine verbesserte Anerkennung familiärer Pflege in der Rente.»
Gerade leiden viele Menschen unter den gestiegenen Energiepreisen – wie kann ihnen geholfen werden, ohne das Klima zu belasten?
Eine sozial gerechte Energie- und Klimapolitik ist essenziell. Ich habe mich als Mitglied der „Kommission Gas und Wärme der Bundesregierung”, die im Herbst 2022 Vorschläge erarbeitet hat für den Umgang mit dem Anstieg der Energieprise, dafür eingesetzt, dass die Entlastungen für die Menschen schnell kommen.
Ich vermisse bei den Entscheidungen der Bundesregierung aber Mechanismen des sozialen Ausgleichs und einen Ausbau der Energiespar-Beratungsangebote. Für ärmere Haushalte sind die Einsparspielräume gering, sie können aber mit gezielter Unterstützung – wie durch unseren Stromspar-Check – entlastend genutzt werden.
Altersarmut ist auch ein großes Thema: Wo sehen Sie hier Lösungsansätze?
Altersarmut hat häufig genug ihre Ursache darin, dass in bestimmten Phasen keine Rentenbeiträge eingezahlt werden. Für Frauen öfter als Männer, denn geschlechterstereotype Rollenerwartungen sind weiter sehr vital: Wenn die Mutter zum Pflegefall wird, reduziert viel öfter die Tochter oder Schwiegertochter die Erwerbstätigkeit als der Sohn.
Für die nächsten Jahre schätzen Fachleute einen dramatischen Anstieg der älteren Menschen, die von ihren Familienangehörigen gepflegt werden. Die verbesserte Anerkennung familiärer Pflege in der Rente wird damit zu einem dringenden Thema armutspräventiver Pflege- und Rentenpolitik.
Was bedeutet es, in Deutschland arm zu sein?
Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa erläutert einem weiteren Interview, was Armut in Deutschland bedeutet und welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft hat. Eine bedrückende Entwicklung der letzten 50 Jahre: Wer heute in Deutschland arm ist, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit in fünf Jahren auch noch sein. Lesen Sie jetzt das Interview „Armut in Deutschland und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft”.