Mit sauberer Spritze und unter Aufsicht konsumieren - das hilft suchtkranken Menschen beim Überleben. Am 21. Mai wird in der Lazarettstraße 8 interimsweise die neue Suchthilfeeinrichtung KOMBO eröffnet, die neben Beratung und Angeboten für Tagesstruktur auch einen Konsumraum beinhaltet. Im zweiten Stock des bisherigen Caritas-Kontaktcafés "High Noon" können Drogenkonsument_innen künftig ihre erworbenen und mitgebrachten Substanzen unter hygienischen und überwachten Bedingungen konsumieren. Dadurch wird eine große Lücke im Angebot der Suchthilfe in Stuttgart geschlossen. Der Konsumraum soll Menschen mit hochriskantem Drogenkonsum erreichen, diese an weiterführende Hilfen anbinden und gleichzeitig für mehr Sicherheit in der Stadt sorgen. KOMBO (kurz für "Konsumraum mit Beratung und Orientierung") wird voraussichtlich Anfang 2028 an seinen endgültigen Standort in der Ossietzkystraße 6 in der Nähe des Hauptbahnhofs umziehen. Das neue Angebot wird gemeinsam getragen vom Caritasverband für Stuttgart und Release.
Die Zahl der Todesfälle durch Drogenkonsum in Baden-Württemberg ist im vergangenen Jahr 2024 massiv angestiegen und liegt so hoch wie zuletzt vor 20 Jahren. Die Ursache ist vor allem der stark zunehmende und hoch riskante Mischkonsum. Ohne die 32 Drogenkonsumräume, die bereits bundesweit existieren, läge diese Zahl noch weit höher: In über 650 kritischen Situationen konnte 2023 durch die fachliche Präsenz ein tödlicher Ausgang verhindert werden. "Drogenkonsumräume retten Leben. Sie machen den Drogenkonsum sichererer und hygienischer - dadurch reduzieren sich beispielsweise HIV-Übertragungen und Todesfälle durch Überdosierungen", erklärt Stefan Michel, Bereichsleiter Sucht- und Sozialpsychiatrische Hilfen beim Caritasverband für Stuttgart. "Alle Beteiligten in Stuttgart warten schon lange auf die Schaffung dieses unverzichtbaren Hilfsangebots. Wir freuen uns deshalb, dass durch die Initiative des Stuttgarter Gemeinderates mit der Lazarettstraße 8 eine Interimslösung gefunden werden konnte." KOMBO ist dabei viel mehr als ein Drogenkonsumraum: Das integrierte Angebot beinhaltet zusätzlich einen Kontaktladen, Suchtberatung, Tagesstruktur und niedrigschwellige Arbeitsgelegenheiten. "So können wir künftig auch Drogenkonsument_innen erreichen, die bisher noch keinen Kontakt zum Hilfesystem hatten und sie an weiterführende Hilfen heranführen."
Die Forderung nach einem Drogenkonsumraum in Stuttgart ist schon sehr alt. Bereits 1986 wurde in Bern ein erster Konsumraum eingerichtet, seit 1994 gibt es diese Angebote auch in Deutschland. Bernd Klenk, geschäftsführender Vorstand der Drogenberatungsstelle Release Stuttgart e.V. erklärt: "Die langjährigen Erfahrungen haben gezeigt: Konsumräume sind ein Angebot der Überlebenshilfe für suchtkranke Menschen. Der Drogenkonsum bleibt riskant, aber er wird sicherer. Im Zusammenspiel mit Beratungsangeboten, Aufenthaltsmöglichkeiten und Angeboten zur Teilhabe verbessern sie die Lebenssituation von Betroffenen deutlich."
Landeshauptstadt und Land unterstützen das verbesserte Angebot für Suchtkranke
"In Stuttgart hat sich über Jahrzehnte ein umfassendes Netzwerk an Suchthilfeangeboten entwickelt. Rund 4.500 Menschen erreichen die Träger der ambulanten Suchthilfe jährlich mit ihren Angeboten. Dennoch bleibt eine beträchtliche Dunkelziffer von Menschen mit problematischem Drogenkonsum, die bisher nicht erreicht werden konnten. Mit dem Drogenkonsumraum schließt die Landeshauptstadt diese Versorgungslücke", sagt Dr. Alexandra Sußmann, Bürgermeisterin für Soziales, Gesundheit und Integration der Landeshauptstadt Stuttgart.
Die Landesregierung hatte 2019 mit der Drogenkonsumraumverordnung die Rechtsgrundlagen geschaffen. Sozialminister Manne Lucha MdL sagt: "Dass nun in der Landeshauptstadt der dritte Drogenkonsumraum in Baden-Württemberg eröffnet wird, ist eine gute Nachricht. Drogenkonsumräume gehören zu einer verantwortungsvollen und menschlichen Drogenpolitik. Sie sind ein wichtiger Baustein zur Gesundheits-, Überlebens- und Ausstiegshilfe und ergänzen das niedrigschwellige Hilfesystem. Ich danke allen Akteuren, die die Einrichtung des Drogenkonsumraums hier in Stuttgart ermöglicht haben."
Eine sichere und hygienische Umgebung für den Drogenkonsum
Der Drogenkonsumraum im Interimsquartier Lazarettstraße verfügt über vier Konsumplätze für intravenösen, oralen, nasalen und inhalativen Konsum. Die Konsumplätze sind von den anderen Beratungseinrichtungen räumlich getrennt, ausreichend beleuchtet und stets vollständig einsehbar. Der inhalative Konsum findet in der räumlich abgetrennten Konsumbox, der sogenannten "Smokebox", statt. "Hygiene ist in einem Konsumraum natürlich das A und O. Deshalb sind die Wände, Böden und Einrichtungsgegenstände abwasch- und desinfizierbar", erklärt Einrichtungsleiterin Elena Feller. "Die Konsumentinnen und Konsumenten bekommen von uns hygienisch einwandfreie Konsumutensilien zur Verfügung gestellt. Dazu gehören unter anderem Einmalspritzen, Kanülen, Tupfer, Ascorbinsäure und Injektionszubehör." Wenn es tatsächlich zu einer Überdosierung kommen sollte, sind die geschulten Mitarbeitenden sofort zur Stelle und können umgehend reagieren und lebensrettende Maßnahmen einleiten. Der Drogenkonsumraum wird an sieben Tagen die Woche tagsüber geöffnet sein und streng nach den gesetzlichen Vorgaben betrieben, um die Nutzer_innen zu schützen. Während der Öffnungszeiten wird qualifiziertes Fachpersonal für die Betreuung der Konsument_innen und die Sicherheit im Drogenkonsumraum sorgen.
Drogenkonsumräume entlasten den öffentlichen Raum
Die enge Kooperation mit der Polizei ist wichtiger Bestandteil des Konzepts. Alexander Stalder, Leiter der Kriminalpolizei Stuttgart, begrüßt die neue Suchthilfeeinrichtung: "Wir unterstützen den Ansatz der Stadt Stuttgart vollumfänglich, den Aufenthaltsort von Suchtkranken mit einem Angebot eines Drogenkonsumraumes gezielt zu steuern. Dadurch können wir unkontrollierbares Geschehen an öffentlichen Orten verhindern und so dazu beitragen, das subjektive Sicherheitsgefühl zu stärken, wenn der Konsum nicht mehr auf offener Straße stattfindet." Der Drogenkonsumraum und dessen Umfeld seien aber kein rechtsfreier Raum: "Suchtkranke Menschen stehen nicht im Zentrum der polizeilichen Bekämpfungsmaßnahmen", so Stalder, "allerdings tolerieren wir keinen Drogenhandel, auch nicht im Umfeld der Einrichtung." Der leitende Kriminaldirektor betont: "Wir möchten bei unserer Arbeit unbedingt gewährleisten, dass die Akzeptanz des Drogenkonsumraums bei den Suchtkranken nicht gefährdet wird."
Wichtige Überlebenshilfe für Betroffene
Viele Drogenabhängige sind obdach- oder wohnungslos und konsumieren Suchtmittel unter sehr schlechten hygienischen Umständen auf der Straße, auf Plätzen oder in Hauseingängen. Für Giaco I. ist der neue Drogenkonsumraum deshalb eine wichtige Überlebenshilfe: "Der Konsumraum kann die Leute dazu bringen, weniger zu konsumieren. Denn du redest dort mit Leuten, die dich verstehen", sagt der 34-Jährige. "Auf der Straße hast du immer Stress, in einem Konsumraum hast du Ruhe."
Auch Roland Baur vom Verein JES (Junkies, Ehemalige, Substituierte) begrüßt die Eröffnung von KOMBO: "Seit über 20 Jahren hat JES Stuttgart die Einrichtung eines Drogenkonsumraum als wichtigste Überlebenshilfe für illegalisierte Drogen konsumierende Menschen gefordert und mit einem eigenen Forschungsprojekt 2018 den Nachweis für den Bedarf in Stuttgart geliefert. Dass nun endlich KOMBO als Interims-Drogenkonsumraum in Betrieb geht, versöhnt uns ein wenig. Besonders erfreulich ist die Inhalations-Box für den weniger riskanten Konsum."
INFOBLOCK
Drogenkonsumräume in Deutschland und Baden-Württemberg
Die ersten Drogenkonsumräume in Deutschland wurden 1994 in Frankfurt a.M. und in Hamburg eröffnet. Aktuell sind in Deutschland 32 Drogenkonsumräume in 18 Städten in acht Bundesländern in Betrieb. Der Stuttgarter Konsumraum ist der dritte in Baden-Württemberg - in Karlsruhe existiert das Angebot seit 2019 und in Freiburg seit 2024. Grundlage dafür ist die 2019 vom Land Baden-Württemberg erlassene Verordnung zum Betrieb von Drogenkonsumräumen. Bundesweit wurden im Jahr 2023 in Drogenkonsumräumen mehr als 650.000 Konsumvorgänge, darunter 230.000 Injektionen dokumentiert.
Beschluss und Finanzierung
Der Gemeinderat der Stadt Stuttgart hat 2021 die Einrichtung eines Drogenkonsumraums in der Landeshauptstadt beschlossen. Zur Sanierung des künftigen Standorts in der Ossietzkystraße 6 wurden im Doppelhaushalt 2022/2023 Mittel in Höhe von 3,2 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Aufgrund dieser umfassenden Sanierung der städtischen Immobilie in der Nähe des Hauptbahnhofs ist ein Bezug frühestens Anfang 2028 möglich. Um diesen Zeitraum zu überbrücken, unterstützt der Gemeinderat im Doppelhaushalt 2024/2025 die Einrichtung der Interimslösung im bisherigen "High Noon" und stellt dafür insgesamt 935.000 Euro zur Verfügung. Für Personal, Sachkosten und Miete kommen jährlich rund 500.000 Euro hinzu.
Zahl der Drogentoten nimmt zuletzt stark zu
Lange Zeit ist die Zahl der Drogentoten in Baden-Württemberg gesunken, nun zeigt sich aber ein heftiger Umschwung: Die Zahl der Todesfälle durch Rauschgift ist in Baden-Württemberg im vergangenen Jahr 2024 um mehr als 38 Prozent (auf 195) gestiegen - das ist der höchste Stand seit mehr als 20 Jahren. Ein Grund ist laut Sicherheitsbericht des Landes der zunehmende Mischkonsum verschiedener Substanzen. Die Erfahrung zeigt: Durch die fachliche Präsenz in Drogenkonsumräumen kann die Zahl der Todesfälle stark gesenkt werden.
Träger von KOMBO
Der Caritasverband für Stuttgart e.V. und Release Stuttgart e.V. tragen das integrierte Angebot gemeinsam. Beide Träger sind unter anderem über den Suchthilfeverbund und das Kommunale Suchthilfenetzwerk eng in das Stuttgarter Suchthilfesystem eingebunden und verfügen über langjährige Erfahrungen in der niedrigschwelligen Arbeit mit Drogenkonsument_innen mit hochriskanten Konsummustern illegaler Substanzen.