„Wir wollen einen Gürtel holen“

Rechts, links, rechts, links. Die Schläge donnern wie kleine Explosionen. Gol Agha Haddi tänzelt im Ring, vor und zurück, eine Hand immer schützend vor seinem Gesicht. "Das geht noch besser!", stachelt ihn sein Trainer Detlef Krause an und streckt dem jungen Boxer die Tatzen entgegen, in die er seine Fäuste kraftvoll versenkt. Nach drei Minuten ist Pause, genauso lange dauert eine Runde beim Kampf. Doch heute, an diesem diesigen Novembertag, ist nur Training – und zwar im Boxkeller des Caritas-Stadtteiltreffs in Schwerin-Krebsförden.
Herzlichkeit und Autorität
Beistand beim gefährlichen Sport – viele Boxer beten vor dem Kampf.@ DCV/Andrea Hösch
Caritas und Boxen? "Das geht sehr gut zusammen", sagt Martin Gagzow, Caritas-Geschäftsbereichsleiter der Region Schwerin, gerade in einem Viertel, wo das Leben nicht immer einfach ist. Detlef Krause nickt und zeigt stolz auf das Kruzifix an der Wand: "Den Boxkeller hat sogar ein Bischof geweiht!" Beim Boxen gehe es nicht um Gewalt, erklärt der ehemalige Profiboxer und DDR-Meister im Halbmittelgewicht, sondern um Respekt, Fairness und Disziplin. Das alles will der 61-Jährige Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit diesem Sportangebot nahebringen und sie so zugleich von Drogen und Kriminalität abhalten. Tatsächlich kommen einige Jungs regelmäßig in den Boxkeller, um Dampf abzulassen. Der Mann mit den vielen Tattoos hat einen Draht zu ihnen: Er hört zu, wenn jemand reden will und organisiert Hilfe, um Probleme zu lösen – das Fachpersonal des Stadtteiltreffs ist ja nicht weit. Auch er selbst hat ein pädagogisches Kurzstudium absolviert, bevor er 2018 als Caritas-Sozialarbeiter anfing. "Wenn nötig, gibt es auch mal klare Ansagen unter vier Augen", sagt der Boxtrainer. Er weiß, dass ihn die Jungs wegen seiner Herzlichkeit, aber auch wegen seiner Autorität schätzen.
Gol Agha Haddi, genannt Golli (links) und sein Trainer Detlef Krause haben ein gemeinsames Ziel: Sie wollen einen Titel im Profiboxsport holen.@ DCV/Andrea Hösch
Großes Vorbild Muhammad Ali
Golli, wie alle Gol Agha Haddi nennen, zieht seine Boxhandschuhe aus und schnappt sich ein Springseil. Leicht wie eine Feder hebt er ab, um das Seil unter seinen Füßen durchzuschwingen. "Das kann er locker eine halbe Stunde lang machen", sagt Detlef, der sich neben dem Foto von Muhammad Ali, Gollis großes Vorbild, auf eine Bank gesetzt hat. Den 22-Jährigen hat Detlef ganz besonders ins Herz geschlossen: "Er ist ein toller Mensch und ein großes Talent." Er weiß, dass er sich hundertprozentig auf ihn verlassen kann und dass er ehrgeizig ist. Deshalb hat der Trainer mit ihm Großes vor: "Wir wollen einen Gürtel holen – Europa- oder sogar Weltmeister werden!" Noch arbeitet Golli als Hausmeister, aber schon jetzt nimmt er an Profi-Wettkämpfen im Super-Bantamgewicht (bis 53 Kilogramm) teil und verlässt den Ring meist als Sieger.

Bevor er sich im Caritas-Mehrgenerationenhaus in Krebsförden die Boxschuhe schnürte, sah sein Leben ganz anders aus: In Afghanistan musste Golli schon als kleines Kind arbeiten, er durfte keine Schule besuchen. Als er zwölf Jahre alt war, verließen seine Eltern mit ihren Kindern das Land, die Flucht dauerte Jahre. "Wir haben gehungert, mussten uns das wenige Wasser teilen", erzählt Golli. "Ich wusste gar nicht, was mit uns geschieht, ich hatte nur Angst. Und im Mittelmeer sah ich neben mir Menschen ertrinken." Die Gesten seiner Hände unterstreichen das Unfassbare, das ihn noch heute tief bewegt.
Junger Boxer verschafft sich Respekt
Auch in Schwerin hatte er anfangs zu kämpfen. Drei bange Jahre verbrachte die Familie in einer Flüchtlingsunterkunft, bis sie Bleiberecht bekam. In der Schule wurde er gemobbt oder musste sich Sprüche anhören wie: "Was willst du denn hier?" oder "Geh dahin, wo du herkommst!" Aus Wut boxte er gegen Wände und versuchte, diese Angriffe zu ignorieren. Inzwischen lassen die Nazis den jungen Boxer in Ruhe, er hat sich Respekt verschafft. Tatsächlich ist es Golli gelungen, all die schrecklichen Erfahrungen in mentale Stärke und Siegeswillen umzuwandeln. "Er kommt von ganz unten und hat das Zeug, es nach ganz oben zu schaffen", davon ist Detlef überzeugt. Das Boxen hat beide zusammengeschweißt. "Wir sind wie Vater und Sohn", sagt Golli, der sein Glück manchmal kaum fassem kann: "So einen Trainer kannst du mit keinem Geld der Welt kaufen."
Religiosität verbindet beide
Beistand beim gefährlichen Sport – viele Boxer beten vor dem Kampf.@ DCV/Andrea Hösch
Ein bisschen verlegen schiebt Detlef seine Kappe nach hinten, atmet tief durch und springt zurück zu den Anfängen der Erfolgsgeschichte. Erzählt, wie alle geholfen haben, die zugemüllten Kellerräume zu entrümpeln, die Tapeten von der Wand zu kratzen, Poster und Sandsäcke aufzuhängen. Und wie nach einigem Hin und Her endlich die Finanzierung für den Ring klar war. Mit Blick auf das Kruzifix ergänzt Detlef: "Wie so oft hab ich mich bei ihm bedankt." Ihre Religiosität verbindet beide Boxer, auch wenn sie verschiedener Natur ist.
Längst hat Golli den deutschen Pass. Seine angehende Ehefrau Maria ist seine Managerin. Und seit drei Monaten ist er Vater. "Ich merke, dass mich mein Sohn schon jetzt motiviert, mein Bestes zu geben", sagt der 22-Jährige. Er selbst will jungen Menschen ein Vorbild sein und zeigen, dass es sich lohnt, Sport zu machen und hart zu trainieren. Schon am nächsten Wochenende kann er sich bei einem Wettkampf in Flensburg beweisen. Sollte es mal nicht klappen, beißt Detlef einmal kräftig ins Handtuch, das er immer um den Hals hat. Aber schon im nächsten Moment umarmt er seinen Schützling und macht ihm Mut für den nächsten Fight
Das Caritas-Mehrgenerationenhaus – ein Treffpunkt für alle Menschen des Viertels Schwerin-Krebsförden.@ DCV/Andrea Hösch
Boxer mit göttlicher Farbe zieren den Treppenabgang zum Boxkeller.@ DCV/Andrea Hösch