Wo Krise der Normalzustand ist
Einrichtungsleiter Dieter Eissing sitzt an seinem Schreibtisch und telefoniert
Der Bedarf an Plätzen für psychisch kranke Menschen im Kreis Steinfurt ist groß. Dieter Eissing ist Einrichtungsleiter in der Einrichtung "Wohnen am Wiemelfeld" in Borghorst und erhält zwei bis drei Anfragen pro Woche. Von Angehörigen, Sozialarbeitenden in Kliniken oder von gesetzlichen Betreuern. "Seit einigen Jahren nehmen die Anfragen, die wir absagen müssen, stetig zu und wir können nicht mal an andere Einrichtungen weitervermitteln, da es überall gleich aussieht", erklärt Eissing.
Im Jahr 2000 wurde das sogenannte Dezentrale Stationäre Wohnen in Steinfurt-Borghorst gegründet - ursprünglich am Westfälischen Hof Garbrock beheimatet. Die ersten neun Bewohner zogen dort am 1. März 2000 in die obere Etage ein. "Die zunächst 15 bewilligten Plätze waren schnell erreicht, weitere Wohnungen an der Lechtestraße 3 und Am Markt 1 wurden angemietet, aber es wurde zu eng und Mieterhöhungen zwangen uns über ein eigenes Objekt nachzudenken", schildert Eissing rückblickend.
2014 wurde vom Caritasverband Steinfurt an der Wiemelfeldstraße neu gebaut - das Wohnen am Wiemelfeld war geboren. Einrichtungsleiter Dieter Eissing ist selbst seit 2001 dabei und feierte kürzlich mit seinem Team, den Bewohnerinnen und Bewohnern und weiteren Gästen ein Sommerfest zum 25-jährigen Bestehen. Das Besondere am Wohnen am Wiemelfeld? "Wir sind ein offenes Haus und eine gute Gemeinschaft. Wir bieten unter einem Dach stationäre und ambulante Betreuung ebenso wie die Tagesstruktur - alles für Menschen mit psychischen Erkrankungen." Insgesamt 24 Menschen mit psychischen Erkrankungen werden im Wohnen am Wiemelfeld betreut - davon fünf in eigenen Apartments
"2007 galt es noch als tollkühne Idee, dass wir es als sinnvoll erachtet haben, psychisch erkrankte Menschen nach einem Klinikaufenthalt weiter ambulant zu betreuen. Wir sind damals belächelt worden, weil die Kombination von stationär und ambulant fachlich nicht vorgesehen war. 2011 war der Markt für die ambulante Versorgung psychisch Erkrankter mit der Überleitung an den LWL als Kostenträger dann offen", erinnert sich Eissing schmunzelnd zurück. 25 Jahre später werden aktuell 170 Menschen von seinem Team ambulant betreut.
Das Angebot der Tagestruktur ist für psychisch erkrankte Menschen, die im eigenen Antrieb gestört sind und Anforderungen für eine anderweitige Beschäftigung nicht erfüllen können. 30 Menschen werden im Wohnen am Wiemelfeld betreut. In Laer gibt es eine weitere Anlaufstelle von Wohnen am Wiemelfeld; dort sind es 17 Menschen.
Zudem gibt es zwei Krisenzimmer: "Unsere beiden Krisenzimmer sind fast immer belegt. Eigentlich für Ausnahmesituationen geplant, haben wir seit 2014 schon 40 Menschen hier betreut", erklärt Eissing. Für die Betroffenen seien die Krisenzimmer ein Glücksfall. Ebenso für die Familien, die dahinter stünden.
Dieter Eissing blickt zufrieden auf das zurück, was im und durch das Wohnen am Wiemelfeld gewachsen ist und sagt: "Wachstum ist das eine. Doch uns ist es gelungen, dass wir bei den Menschen sind. Wir holen sie mit den Sorgen und Nöten und ihren Bedürfnissen ab und versuchen, unseren Teil dazu beitragen, dass es ihnen gut geht."
Dabei gebe es berufsbedingt täglich neue Krisen, das sei der Normalzustand. "Unsere Bewohner bringen einen hohen Aufwand in der Betreuung mit. Doch umso mehr Idealismus gibt es hier im Team von allen Kolleginnen und Kollegen, die zum Teil schon seit mehr als 20 Jahren hier arbeiten." Auch viele der Bewohnerinnen und Bewohner, deren Erkrankungen chronifiziert sind, wohnen langfristig im Wohnen am Wiemelfeld.
Was ihm das Leben mit Blick in die Zukunft schwer macht? "Da geht es mir wie allen: die Bürokratie. Zugegeben, früher war vieles sehr lax und ein Hängeregister hat ausgereicht, aber heute gibt es viel Verwaltungsarbeit; für alles gibt es eine Vorschrift, die ja für sich genommen auch sinnvoll ist, aber in der Menge sehr viel Zeit und Arbeit bindet", moniert Eissing. Das beschäftigt ihn auch mit Blick auf die vielen Menschen, die er immer wieder am Telefon hat. "Viele finden gar nicht durchs System", weiß er und versteht sein Team und sich selbst auch als Wegweiser. "Wir sind in gewisser Weise ein Lotse durch das System und pflegen einen guten Austausch zur LWL-Klinik in Lengerich, zu niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und haben ein sehr gutes Netzwerk, um an die richtigen Stellen zu verweisen." Eissing selbst ist im Sprecherrat des Gemeindepsychiatrischen Verbundes des Kreis Steinfurt aktiv. Über diese Tätigkeit sind z. B. die Krisenzimmer entstanden. Aktuell befasst sich der Verbund mit der Idee, einen Krisendienst für Menschen in psychiatrischen Krisen im Kreis Steinfurt zu etablieren.
Ob es etwas gibt, das die Steinfurter Bevölkerung über das Wohnen am Wiemelfeld unbedingt wissen sollte? "Ja, wir können Hilfe anbieten", bringt Eissing es auf den Punkt. Viele Menschen hätten eine falsche Vorstellung vom stationären Wohnen, die alles andere als Zwang und Begrenzung für jemanden darstellen. "Wir sind eine offene Einrichtung, jeder hier ist freiwillig hier", betont er. "Und es stimmt: Früher wurde viel ruhiggestellt. Da hat sich inzwischen sehr viel getan bei den Medikamenten. Außerdem arbeiten wir weniger mit Regeln, sondern sprechen auf Augenhöhe miteinander mit allen Beteiligten."
Wie häufig in den Medien dargestellt, haben die psychischen Erkrankungen zugenommen, aber die Krankheitsbilder haben sich auch verschoben. Bei den Klientinnen und Klienten hätten vor allem Persönlichkeitsstörungen zugenommen. Traumatisierungen seien ebenfalls ein Thema mit zunehmender Präsenz in der Gesellschaft. Als Supervisor weiß Dieter Eissing, dass Menschen Angst vor dem eigenen Kontrollverlust haben und unkonventionelle Verhaltensweisen als befremdlich wahrnehmen. Leider gebe es immer noch die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. "Menschen mit psychischen Erkrankungen sind nicht für ihr Umfeld, sondern in erster Linie für sich selbst gefährlich", möchte Eissing mit dem Vorurteil aufräumen.
Und worauf freut sich der Einrichtungsleiter mit Blick auf die Zukunft? Das Intensiv ambulant betreute Wohnen soll weiter ausgebaut werden, also die Stufe zwischen ambulanter und stationärer Versorgung mit mehr Präsenz für die Klienten. Auch das Angebot der Soziotherapie, das seit wenigen Jahren als Krankenkassenleistung anerkannt ist, darf im Wohnen am Wiemelfeld weiterwachsen.
Ob er die 30 Jahre noch vollmachen will? "Könnte knapp werden", lacht der 61-Jährige. "Wiemelfeld" bedeutet ursprünglich Windmühlenfeld", gibt Eissing noch mit auf den Weg - bleibt zu hoffen, dass er und sein Team für die Betreuung ihrer Klienten künftig nicht gegen Windmühlen kämpfen müssen, sondern es Rückenwind für diese besonderen Angebote gibt.