Vom Macho zum Mentor
Von links: Patrick Paetz, Tarik Masovic, Eugen Mosoreti, Yasin Akgül, Ibraheem Ahmed.@Sabine Janssen
Soll der Bruder die Schwester nun schlagen? Oder reicht es, wenn er sie aus dem Café zerrt? Das sind Fragen! "Ich denke, dass die meisten sich mit der niederschwelligen Sache, dem Hinauszerren, eher identifizieren. Da kann man dann diskutieren: Ist das schon Gewalt? Ist das keine?", sagt Eugen (20). Michel, Ali, Said und Patrick nicken.
Es ist Mittwochabend in der DRK-Geschäftsstelle in der City von Offenbach. Was die jungen Männer theoretisch diskutieren, ist Realität – nicht nur in Offenbach. Diese Realität wollen sie in einem Rollenspiel thematisieren und an Schulen aufführen.
So unterschiedlich die jungen Männer, ihre Einwanderungs- und Familiengeschichten, ihre kulturellen und sozialen Hintergründe sein mögen: Sie alle wissen um den Begriff der Ehre, um tradierte Rollenbilder von Männern, die harte Kerle sein müssen, und von Frauen, die nach gewissen Wertvorstellungen leben sollen.
Es gibt viele, viele Frauen und queere Menschen, die "im Namen der Ehre" Opfer wurden. Wie Fatima T. in Offenbach (2019) oder Hatun Sürücü 2005 in Berlin. Ihr Bruder tötete die Deutsch-Kurdin durch Kopfschüsse, weil sie sich gegen ihre Zwangsehe und für ein selbstbestimmtes Leben entschieden hatte. Zwei Jahre danach gründete der Berliner Verein Strohhalm in Neukölln das erste deutsche "Heroes"-Projekt nach schwedischem Vorbild. 2015 entstand das Projekt in Offenbach. Träger wurde das Deutsche Rote Kreuz (DRK).
Alle, die an diesem Mittwochabend im DRK-Tagungsraum sitzen, haben sich aufgemacht, ihr Menschenbild, ihr Selbstverständnis und ihren Ehrbegriff zu überprüfen. So wie Tarik Masovic (26), der von sich selbst sagt, dass er früher gewaltbereit und frauenfeindlich war. Seine Eltern kommen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Für sie war es undenkbar, dass ihr Sohn eine Freundin oder gar Ehefrau aus einem anderen Kulturkreis hat. Heute ist Tarik mit der kurdischen Merve verheiratet. Er ist Gruppenleiter bei den "Heroes", studiert Englisch und Erdkunde auf Lehramt.
Projektleiterin Donya Moussa und Gruppenleiter Ali Nehir besprechen den Abend.@Sabine Janssen
Nichts muss so bleiben, wie es ist
In noch einem Punkt sind sich die Männer einig: Nichts muss so bleiben, wie es ist. Jeder kann sich ändern, andere verändern. So tragen die "Heroes" ihre Sichtweisen von Gleichberechtigung und Toleranz zu Jugendlichen weiter. Sie halten Workshops in neunten und zehnten Klassen. Das Theaterstück, das die "Heroes" entwickeln, bildet Spiegel und Diskussionsgrundlage. Wie Theaterregisseure besprechen sie die Szene. Sie folgen nicht einfach Rollenbildern, sondern hinterfragen Urteile, auch die eigenen, übernehmen Verantwortung – wie Helden es tun. 2024 haben sie 43 Workshops organisiert, rund 1000 Schüler:innen erreicht.
Die Qualifizierung der Männer zwischen 15 und 21 Jahren mit und ohne Migrationshintergrund findet mittwochabends statt. Nachdem sie sich ein Jahr lang mit Themen wie Ehre, Sexismus, Menschenrechte, Rassismus und Gewalt beschäftigt haben, werden sie zertifiziert. Erst nach diesem Training vom Macho zum Mentor dürfen sie zu zweit oder zu dritt Workshops für Jugendliche leiten.
"Am Anfang sind die Schüler in den Workshops meist distanziert, oft auch gelangweilt oder abschätzig. Sie wissen nicht so recht, was wir von ihnen wollen", erzählt Gruppenleiter Ali Nehir (27). Doch die "Heroes" haben ihre Methoden: "Ich mag die Überraschung, wenn wir ,Ich habe schon mal ...‘ spielen, und ich gestehe, dass ich schon mal ,Hurensohn‘ gesagt habe. Dadurch entsteht eine besondere Beziehung zwischen uns und den Schülern", erzählt Tarik. "Peer-to-Peer" heißt das in der Pädagogik. Es geht um Gespräche auf Augenhöhe unter Gleichaltrigen. In der Peer Education geht man davon aus, dass Jugendliche am besten von Gleichaltrigen aus ähnlichen kulturellen und sozialen Umfeldern lernen. Theaterpädagogik und Rollenspielen sind dabei wichtige Instrumente.
Rollenspiele als Türöffner
Yasin und Michel diskutieren über das Rollenspiel.@Sabine Janssen
An diesem Mittwoch ist Ali Nehir der "Boss". Seit sechs Jahren dabei und zum Gruppenleiter aufgestiegen. Im Tagungsraum werden sie heute über den Methodenkoffer für die Schulworkshops sprechen. Doch das Treffen beginnt, wie es sich für echte Kerle gehört, in der Küche. Dort klönen Tarik, Ali, Yasin Akgül (18), seit eineinhalb Jahren ein Held, und Donya Moussa (27), Leiterin des Projekts.Tarik schneidet Knoblauchwurst, Yasin toastet Brot, Ali belegt die Scheiben mit Käse. Weitere "Heroes" trudeln ein. Das hat was von Familientreffen. Sie begrüßen sich mit Handschlag oder Umarmung. "Hier darf man so sein, wie man ist. Egal, was man sagt, man wird nicht schief angeschaut", sagt Ali.
Sicherer Raum für harte Kerle
Ausgerechnet in Offenbach liegt dieser sichere Raum für harte Kerle. Oder gerade dort? Gut 66,5 Prozent der Einwohner hier haben einen Migrationshintergrund. In der Stadt sieht es nicht aus wie im benachbarten Frankfurter Bankenviertel, eher wie in einigen abgerockten Ecken des Ruhrgebiets. "Aber man ist hier gut miteinander. Die Menschen gehen nett miteinander um", erzählt Projektleiterin Donya.
Bausünden und Billigläden – Offenbach gewinnt keinen Schönheitspreis, seine "Heroes" aber den Sozialpreis. Im Oktober 2024 hat sie das Land Hessen ausgezeichnet. Für den ersten Platz gab es 8000 Euro. Viel mehr zählt die Anerkennung. "Die Jungs sind sehr stolz darauf", sagt Donya.
Warum sich die jungen Männer freiwillig an einem Mittwochabend in einen Tagungsraum setzen? "Alle, die hierherkommen, sind wissbegierig. Sie wollen darüber reden, wie sie und wie andere die Welt sehen", sagt die Projektleiterin. Derweil hat Ali eine Fragerunde angestoßen. Jeder sagt, welchen Moment in den Schulworkshops er gut findet. "Ich verwirre gern Kinder. Ich mag es, wenn sie merken, dass sie ihre Meinung nicht halten können", sagt Michel (21). "Ich liebe den Ausdruck in ihren Gesichtern, wenn ich ihnen sage, dass ich erst 15 bin", erzählt Ibraheem.
Alte Rollenbilder knacken
Schritt für Schritt knacken sie in den Workshops die starren, meist unbewusst übernommenen Rollenbilder der 13- bis 15-Jährigen. Das können sie, weil sie den Prozess des Hinterfragens der eigenen Werte selbst erlebt haben. Beleidigendes Verhalten gegenüber Frauen war Eugen (20) nicht fremd. Im Alter von zwölf Jahren ist er aus Moldawien nach Deutschland gekommen. "Ich hatte ziemlich sexistische Vorstellungen davon, wie Frauen und Männer sein sollten. Früher habe ich auch gesagt, dass ich homosexuelle Menschen hasse. Ich konnte gar nicht sagen, warum."
Die Ehre spielt in ihrer aller Wertvorstellungen eine Rolle. Egal, wie jeder Einzelne den Begriff füllt: Es geht um sozialen Status für sich und die eigene Gemeinschaft. "Wie aktuell der Begriff ist, sieht man auch daran, dass ,Ehrenmann‘ 2018 zum Jugendwort des Jahres gewählt wurde", sagt Ali. Gleichzeitig zeigen die jungen Männer, wie man diese toxischen Muster überwinden kann. Denn nichts muss so bleiben, wie es ist.
Über das Projekt
Ursprünglich stammt die Initiative der "Heroes" aus Schweden. Königin Silvia ist ihre prominenteste Förderin. In deutschsprachigen Raum gibt es sie inzwischen unter anderem in Berlin, Duisburg, Leipzig, München, Offenbach und Salzburg.
www.heroes-net.de