Den Nahraum des Lernens und Lebens gestalten
Der Deutsche Caritasverband hat in seinem bildungspolitischen Diskussionspapier zur Befähigungsinitiative auf die schlechten Bildungschancen benachteiligter Kinder und Jugendlicher hingewiesen und bildungspolitische Konsequenzen skizziert (s. neue caritas Heft 9/2007, S. 35 ff.): Um sich auf veränderte Lebenslagen von Schüler(inne)n einzustellen, kann sich das Bildungssystem nicht auf die schulische Bildung beschränken. Die Bildungsleistungen und -ressourcen in anderen Bereichen wie der Kinder- und Jugendhilfe müssen mit einbezogen werden. Vor allem junge Menschen, denen der Zugang zu Bildung durch ungünstige soziale und familiäre Lebensverhältnisse erschwert ist, brauchen Unterstützung. Oberstes Ziel aller Bildungsprozesse muss sein, Benachteiligungen abzubauen und ein gelingendes Aufwachsen aller Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen.
Abstimmung aller Akteure tut not
Drei Systeme tragen Verantwortung für das Aufwachsen und die Bildung von Kindern und Jugendlichen: Familie, Schule sowie Kinder- und Jugendhilfe. Die beiden letztgenannten Bereiche sind unterschiedlich organisiert und unterliegen unterschiedlichen rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen. Obwohl sie beide im Interesse des jungen Menschen handeln, wissen sie zu oft nicht von den Zielen und Maßnahmen des jeweils anderen Systems. Für misslungene Bildungskarrieren machen sie sich gegenseitig verantwortlich.
Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen darf aber nicht länger zwischen den Systemen von Schule, Jugendhilfe und Herkunftsfamilie hin und her geschoben werden. Gemeinsam müssen die Systeme Schule und Jugendhilfe unter Einbeziehung der Eltern aus dem je individuellen Bedarf der jungen Menschen Förderziele entwickeln und umsetzen. Hierzu bedarf es einer strukturierten, verbindlichen und abgestimmten Zusammenarbeit auf allen Ebenen.
Zumindest auf kommunaler Ebene gibt es hier in jüngerer Zeit Bewegung: Die Systeme Jugendhilfe und Schule kooperieren mehr und mehr, nicht zuletzt durch die Einführung von Ganztagsschulen (vgl. Beitrag S. 12 ff. neue caritas Heft 12/2009).
Bildungslandschaften - ein ganzheitliches Konzept
Darüber hinaus entstehen in vielen Kommunen kommunale Bildungslandschaften1 mit dem Ziel, alle auf kommunaler Ebene vertretenen Institutionen und Organisationen der Erziehung, Bildung und Betreuung besser zu vernetzen. Auf diese Weise sollen alle beteiligten Bereiche ihre Kompetenzen darauf ausrichten, einen strukturierten und kontinuierlichen Bildungs- und Förderverlauf für junge Menschen sicherzustellen.2
Dem Konzept der Bildungslandschaft liegt ein ganzheitliches Verständnis von Bildung zugrunde. Drei Merkmale sind hier besonders hervorzuheben:
- Eine optimale Entwicklungsförderung junger Menschen kann nur gelingen, wenn soziales, schulisches und emotionales Lernen miteinander verbunden werden.
- Dies lässt sich nur dann erfolgreich ausgestalten, wenn alle für Bildung und Erziehung verantwortlichen Träger und Institutionen in verbindliche Kooperationsstrukturen eingebunden sind und Familien aktiv einbeziehen.
- Die Kommune ist die zentrale Plattform für die Bildung junger Menschen. Sie ist der Ort, an dem schulisches, soziales und emotionales Lernen und Bilden stattfinden.
Deshalb muss die Steuerungsverantwortung für die Verzahnung der Träger, Einrichtungen und Angebote durch die Kommune wahrgenommen werden, weil nur sie den erforderlichen Rahmen zur optimalen Nutzung der örtlichen Ressourcen sicherstellen und verbindliche Kooperationsstrukturen herstellen kann.3
Kommunaler Nahraum als Bildungsraum
Wird in der Öffentlichkeit von Bildungspolitik gesprochen, stehen die Bundesländer im Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Dabei haben Städte und Kreise zentrale Kompetenzen in Bildungsbereichen. Als örtliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe sind sie für die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen zuständig. Das SGB VIII sieht dabei in § 22 ausdrücklich einen eigenen Bildungsauftrag vor. Über das Jugendamt werden vor allem für benachteiligte junge Menschen Bildungsmaßnahmen organisiert und gefördert.
Die Kommunen sind Träger der allgemeinen und beruflichen Schulen. Die Volkshochschulen gehören im Bereich der Weiterbildung zum Regelangebot der Kommunen. Mit Bibliotheken, Musikschulen, schulpsychologischen Diensten etc. gehören weitere Bildungseinrichtungen zur kommunalen Infrastruktur. Wenngleich der kommunale Gestaltungsspielraum in der Jugendhilfe größer ist als im Schulbereich, ist auch die Schulentwicklung zunehmend Gegenstand des kommunalen Engagements in der Bildung.4
Entscheidender Ansatzpunkt für Bildungsprozesse ist aus diesem Grund der kommunale Nahraum. Dort ist die Lebenswelt junger Menschen, dort gehen sie zur Schule und wachsen in sozialen Zusammenhängen auf, dort erfahren sie Familie, haben sie Freundinnen und Freunde. Der kommunale Raum bietet die Chance, ein Gesamtsystem von Bildung, Erziehung und Betreuung zu entwickeln und als tragende Struktur zu verankern.
Der Aufbau kommunaler Bildungslandschaften ist ein Weg, die Lern- und die Lebenswelt junger Menschen miteinander zu verbinden. Er kann wesentlich dafür sein, eine systematische Verbindung der einzelnen Angebote, Orte und Modalitäten der Bildung, Erziehung und Betreuung sowie die Zusammenarbeit aller Bildungsakteure verbindlich sicherzustellen.5
Entwicklung einer Bildungslandschaft
Im Kern gehören zur Struktur kommunaler Bildungslandschaften die Familien, die Angebote der Kindertagesbetreuung, die Schulen und die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe. Die Einbeziehung dieser grundlegenden Angebote in kommunale Bildungslandschaften ist zwingend erforderlich. Darüber hinaus sind insbesondere die Sportvereine, die Angebote der beruflichen Bildung, die Wirtschaft, die Träger und Einrichtungen kultureller Angebote, die Volkshochschulen, die Einrichtungen der Weiterbildung und die Hoch- und Fachhochschulen in kommunale Bildungslandschaften einzubinden.6
Idealerweise steht zu Beginn die Entwicklung bildungspolitischer Leitlinien auf kommunaler Ebene. In diesem Prozess werden Ziele und konkrete Handlungsschritte formuliert. In einigen Städten gibt es mittlerweile regelmäßige Bildungsberichte, aus deren Ergebnissen Handlungskonsequenzen abgeleitet werden.
Ebenso zentral ist das Initiieren einer öffentlichen Diskussion über Bildungsinfrastruktur und -schwerpunkte mit Vertreter(inne)n aus Kommunalpolitik und Verwaltung sowie mit bildungspolitisch relevanten Akteuren.
Die konkrete Zusammenarbeit der Akteure vor Ort ist entscheidend bei der Realisierung einer Bildungslandschaft. In vielen Kommunen wird beispielsweise die stärkere Zusammenarbeit von Kindergärten und Grundschulen angestrebt. Weitere Schwerpunkte sind die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule bei der Begleitung und Unterstützung sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher durch eine bessere Verzahnung der Systeme und der Hilfemaßnahmen.7 In einigen Kommunen liegt der Schwerpunkt beim Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung, dort wird eine bessere Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe, Schule und Ausbildungsbetrieben angestrebt.
Kinder- und Jugendhilfe ist noch zu zögerlich
Realität in vielen Kommunen ist, dass die verschiedenen Bildungsbereiche immer noch weitgehend getrennt sind, vor allem was die Schulentwicklungs- und Jugendhilfeplanung angeht. In einer kommunalen Bildungslandschaft müssen beide Planungsbereiche systematisch zusammengeführt und mit weiteren Planungen (Soziales, Kultur, Weiterbildung) sowie der Stadtentwicklungsplanung abgestimmt werden. Ziel muss eine Struktur sein, die die Abstimmung aller Bereiche von Erziehung, Bildung und Betreuung ermöglicht.
Einige Städte haben bereits vorgemacht, wie dies gehen kann. Es sind Lenkungsgremien zur bildungspolitischen Steuerung und Bildungsbüros zur Organisation, Beratung und Koordination der Zusammenarbeit geschaffen worden. In einigen Städten sind die Schul- und Jugendverwaltung organisatorisch zusammengeführt worden; mancherorts zeigt sich das darin, dass es einen gemeinsamen kommunalen Fachausschuss gibt.
Wenn man den Berichten aus unterschiedlichen Städten folgt, scheint also Bewegung in die Bildungslandschaft zu kommen. Der Weg scheint weg von einem Diskurs über Zuständigkeiten hin zu einer gemeinsamen Verantwortung verschiedener Akteure zu gehen.
Es fällt aber auch auf, dass sich die Träger der Kinder- und Jugendhilfe eher zurückhalten, wenn es um die Entstehung von Bildungslandschaften geht. Zwar sehen sie die Notwendigkeit einer geregelten Kooperation zwischen den verschiedenen Systemen. Aber aus Sorge vor Vereinnahmung gehen sie diese strukturellen Fragen nicht offensiv an. Im Interesse der jungen Menschen muss sich die Kinder- und Jugendhilfe in die bildungspolitische Leitbildentwicklung und deren Umsetzung einbringen. Sie muss ihren eigenen Beitrag zum Bildungsprozess von Kindern und Jugendlichen beschreiben und mit den koordinierenden Instanzen aushandeln, welche Angebote in der Bildungslandschaft sie aufgrund ihrer Fachlichkeit übernimmt. Es geht darum, Kindern und Jugendlichen bessere Bedingungen und vielfältige Gelegenheiten für ihre Bildung zu bieten und insbesondere benachteiligte Kinder und Jugendliche wirksamer zu fördern.
Anmerkungen
1. Unterschiedliche Organisationen sprechen von lokalen, kommunalen beziehungsweise regionalen Bildungslandschaften; die inhaltliche Ausgestaltung ähnelt sich jedoch. In Anlehnung an den Deutschen Verein wird hier nur der Begriff kommunale Bildungslandschaft verwendet.
2. Vgl. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.): Diskussionspapier des Deutschen Vereins zum Aufbau kommunaler Bildungslandschaften (DV 43/2007 AF II). Berlin, 13. Juni 2007, S. 8.
3. Vgl. ebd., S. 2.
4. Vgl. Hebborn, Klaus: Städtische Bildungspolitik. In: Coelen Thomas; Otto, Hans-Uwe: Grundbegriffe Ganztagsbildung. Wiesbaden, 2008, S. 662.
5. Vgl. ebd., S. 7.
6. Vgl. Deutscher Verein, a.a.O., S. 9.
7. Vgl. Hebborn, Klaus, a.a.O., S. 964 f.