Pressemitteilung des Deutschen Caritasverbandes |
"Europäischer Hintergrund" 2/97 Caritas: EU wird nicht sozialer werden Erste sozialpolitische Analysen zum Amsterdamer Vertrag |
BRÜSSEL. Sechs Abschnitte des gut 100 Seiten umfassenden Amsterdamer Vertragswerks einschließlich eines informativen Index mit einleuchtenden Stichworten wie z.B. Sozialpolitik, Behinderung, Subsidiarität geben die politische Richtung der Europäischen Union (EU) an:
Hervorzuheben sind daraus wegen eventueller sozialpolitischer Auswirkungen die "Flexibilitäts"-Bestimmungen, wonach sich mehrere Mitgliedstaaten in Teilgebieten - also ähnlich wie bei der geplanten Euro-Währung - auf eine gemeinsame Politik einschließlich der Übernahme von EU-Regelungen einigen können. Die entsprechenden Erfahrungen mit der Anwendung des Sozialprotokolls (also ohne nur einen einzigen Mitgliedstaat) sind allerdings nicht sehr vielversprechend. Auf das nun allseits akzeptierte, aber auch recht schwierig zu lesende Subsidiaritäts-Protokoll mag insbesondere die Bundesrepublik Deutschland stolz verweisen verweisen wollen. Vielleicht freut sich so mancher europäischer Bürger darüber, daß ihm die EU stets in seiner Landesprache antworten muß, daß er zu allen öffentlichen EU-Stellen Zugang hat und ihm alle öffentlich zugänglichen Dokumente ausgehändigt werden müssen, insbesondere aber auch darüber, daß die Gesetzessprache der EU verständlicher als bisher ausfallen soll. Die Mitbestimmungsrechte des Europäischen Parlaments im sogenannten Mitentscheidungs-Bereich sind beträchtlich erweitert worden und ebenso sollen die nationalen Parlamente enger in die Europaarbeit verwoben werden.
Mehr Wettbewerbsfähigkeit -Hauptrezept für mehr Beschäftigung Auch mit dem Vertrag von Amsterdam - von Maastricht II wird also ab jetzt nicht mehr die Rede sein - ist die Europäischen Union (EU) noch keine Sozialunion geworden. Das noch mit Maastricht I verfolgte Ziel, die EU nicht nur als wirtschaftliche, sondern auch als politische, also auch als sozialere Union zu gestalten, ist vorerst zu den Akten gelegt worden. Allerdings war damit bereits im Vorfeld gerechnet worden, so daß die noch wettbewerbsorientiertere Formulierung der Gemeinschaftsziele im EU-Hauptvertrag, also in dem Vertrag über die Europäische Gemeinschaft (EG), nicht überraschen kann. Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft (EG) ist es weiterhin, Europa durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion zu einigen, und dies nicht nur durch einen hohen Grad an Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, sondern seit Amsterdam auch durch einen hohen Grad an Wettbewerbsfähigkeit (Art. 2 EU-Vertrag). Alle Vorschläge, diese Wirtschaftsgemeinschaft zumindest auf bestimmte sozialpolitische Belange auszurichten, haben sich damit erledigt. Daß man sich von mehr Wettbewerb den eigentlichen Durchbruch zu mehr Beschäftigung erhofft, zeigen die Formulierungen im Beschäftigungskapitel. Welche Möglichkeiten hier bestanden hätten, läßt sich an zwei Beispielen gut demonstrieren. Das bereits vertraglich akzeptierte Ziel der Gleichstellung von Mann und Frau ist zusätzlich in die Grundsatzvorschrift des Art. 2. EG-Vertrag aufgenommen worden. Ähnliches gilt in noch größerem Maße für den Umweltschutz, der gleich auf vier formalen Vertragsebenen neu berücksichtigt worden ist: in der Präambel, in der Grundsatzvorschrift der Gemeinschaft, in einem neuen zusätzlichen Vertragsartikel, im Rahmen der äußerst wichtigen Marktangleichungs-Vorschrift des Art. 100a , und noch zusätzlich in einer Protokollerklärung. Umweltschutz ist für alle Politikgebiete bestimmend geworden. Man kann von Glück reden, daß in dieser Vorschrift die Formulierung von dem "hohen Maß an sozialem Schutz" erhalten geblieben ist, auch wenn dies im Zuge der Neuformulierung der sozialpolitischen Grundsatzvorschrift des Art. 117 inhaltlich präzisiert wird, indem es auf einen "angemessenen" Sozialschutz reduziert wird. Was mit Wirkung auf die Sozialpolitik bleibt, ist der Wettbewerb – aber immerhin mit Ausnahmen, für deren Begründung man sich ausdrücklich auf die damit verbundenen Vorteile zugunsten der Union und ihrer Bürger beruft (Abschnitt II des neuen Vertrages).
Wettbewerb ja - aber mit Ausnahmen: Protokolle und zuhauf Erklärungen Dieses Vorgehen korrespondiert offensichtlich mit der Lust auf Erklärungen und Protokolle zur öffentlichen Bedeutung der verschiedenster Sektoren. Diese Lust scheint seit Maastricht enorm gewachsen zu sein - und wird auch befriedigt. Ein Beispiel bildet die neue Vorschrift über die besondere Bedeutung bestimmter Dienste der Daseinsvorsorge - in der dazugehörigen Erklärung in der Schlußakte als "öffentliche Dienste (public services)" bezeichnet. Unter ausdrücklichem Bezug auf die einschlägigen Wettbewerbsbestimmungen z.B. der Art. 90 und 92 wird besonderer Respekt vor diesem Bereich eingefordert, sogar mit einer Art Verbeugung vor dem Europäischen Gerichtshof (EUGH), dessen bisherige, dem Vertrag entsprechende wettbewerbsfreundliche Rechtsprechung damit nicht obsolet werden soll. Auf dieser Linie liegt z.B. auch ein eigenes Protokoll zur Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehmedien (system of public broadcasting), wobei dessen Bezug zu den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen jeder Gesellschaft und zur Notwendigkeit der Medien-Pluralität in den Mittelpunkt gerückt wird. Auch der Tierschutz erhält sein eigenes Protokoll. Und dem Sport wird im Rahmen einer Erklärung die besondere identitätsstiftende und bürgervereinende Bedeutung im Hinblick auf den Amateursport bescheinigt, wobei den Verbänden sogar ausdrücklich besondere Anhör-Rechte in Brüssel eingeräumt werden.
Freiwilligendienste werden gefördert - Beitrag zur gesellschaftlichen Solidarität anerkannt Neu ist eine Erklärung über Freiwilligendienste. Die Konferenz anerkennt den wichtigen Beitrag der Freiwilligendienste bei der Entwicklung gesellschaftlicher Solidarität. Die Gemeinschaft will die europäische Zusammenarbeit der Freiwilligen-Organisationen insbesondere beim Austausch von Informationen und Erfahrungen bezüglich der Beteiligung junger und älterer Menschen fördern. Diese Bekräftigung der sich über alle gesellschaftlichen Bereiche erstreckende wertvollen Mitarbeit freiwillig/ehrenamtlich tätiger Bürger stärkt auch die Wohlfahrtsverbände, deren besondere Bedeutung bereits im Maastricht I - Vertrag anerkannt worden ist.
Grund- und Bürgerrechte werden bestätigt - EUGH-Kontrolle Erklärung zum Nationalstatus der Kirchen An mehreren Stellen werden die bereits vorhandenen Vertragsaussagen zu den Grund- und Bürgerrechten bestätigt und bekräftigt. Neu in der Präambel des EU-Vertrages ist der Bezug auf die Sozialcharta des Europarats aus dem Jahre 1961 und die (seinerzeit nicht vom Vereinigten Königreich mitunterzeichnete) Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. Es wird ein besonderes Diskriminierungsverbot z.B. für den Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit, aber auch im Falle von Behinderung aufgestellt. Die Kontrollrechte des EUGH bezüglich der Einhaltung der Europäischen Menschenrechts-Konvention durch die EU-Institutionen werden ausdrücklich anerkannt. Insgesamt wird die Rolle des EUGH aufgewertet. Zu der von den beiden großen christlichen Kirchen erhofften Vertragsklausel ist es nicht gekommen. Aber es gibt eine Erklärung in der Schlußakte: Die Union respektiert den in den Einzelstaaten bestehenden gesetzlichen Status der Kirchen sowie der religiösen Verbände und Gemeinschaften.
Sozialpolitischer Mittelpunkt: Das neue Beschäftigungskapitel EU-Beschäftigungsprogramme akzeptiert Das neue, in den letzten Wochen vor der Amsterdamer Abschlußkonferenz heftig umstrittene, insbesondere von der Bundesrepublik Deutschland politisch bekämpfte Beschäftigungskapitel war der eigentliche sozialpolitische Verhandlungsgegenstand. Umstritten war dabei weniger das Thema des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit als vielmehr die Frage, ob dafür EU-Programme finanziert werden sollen. Es wird solche Programme geben, jedoch in welchem finanziellen Umfang, wird sich erst noch zeigen (von 50 Mio ECU ist derzeit die Rede). Wie sehr man damit zu rechnen haben wird, daß sich insbesondere die zu erwartenden EU-Beschäftigungsrichtlinien in Richtung einer Entwicklung von mehr Wettbewerbsfähigkeit bewegen werden, läßt sich an Art. 1 des neuen Kapitels ablesen: Alle Beschäftigungsstrategien der EU und ihrer Mitgliedstaaten haben sich an eben jener Grundsatzvorschrift von Art. 2 des EG-Vertrages auszurichten, in der die besondere Zielsetzung eines "hohen Grades an Wettbewerbsfähigkeit" das eigentlich Neue ist. Was Wettbewerbsfähigkeit auch immer heißen mag, einen gerade auch sozialpolitisch bedeutsamen Vorgeschmack dazu hat bereits das seit langem vorliegende Weißbuch der Kommission "Wachstum, Wettbewerb und Beschäftigung" gegeben, das damit aktueller denn je geworden ist. Nicht zuletzt läßt sich diese Richtung der zukünftigen EU-Beschäftigungspolitik daran erkennen, daß das neue Kapitel an vorderer Stelle des Vertrages eingeordnet wird, und zwar nach den Titeln zu den Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes, noch vor den Bestimmungen zur Währungs- und Wirtschaftspolitik sowie zur Gemeinsamen Handelspolitik, also säuberlich getrennt etwa von den weniger wirtschaftlich bestimmten Titeln der Sozialpolitik und den folgenden, vor allem arbeitsmarktpolitisch ausgerichteten Vorschriften..
Maastricht I - Sozialprotokoll in den Vertrag integriert EU-Programme gegen soziale Ausgrenzung und zugunsten älterer bzw. behinderter Menschen Wie schon lange erwartet, den Wahlsieg Tony Blairs in Großbritannien natürlich vorausgesetzt, wird das seinerzeit vom Vereinigten Königreich nicht akzeptierte Maastricht I - Sozialprotokoll nun an der Stelle des bisherigen Kapitels "Sozialpolitik" in den EG-Vertrag integriert, allerdings ohne jede Verbesserung, wenn man von dem oben bereits erwähnten Bezug auf die beiden Sozial-Charten und dem neu bekräftigten Ziel einer besseren Gleichstellung von Mann und Frau einmal absieht. Eine nicht unwichtige Ausnahme gibt es. Die bisher praktisch durch die Bundesrepublik Deutschland verzögerten Programme "Armut" und "Ältere Menschen" bzw. das bisher "noch in den Sternen" stehende Behinderten-Nachfolgeprogramm HELIOS sollen nun doch durchgeführt werden. Damit wird ein Anliegen der deutschen und europäischen Wohlfahrtsverbände erfüllt, auch wenn die Begrenzung auf die drei genannten sozialpolitischen Themen sachlich nicht einleuchtet. Die beiden deutschen Kirchen und die kirchlichen Wohlfahrtsverbände hatten sich ausdrücklich für solche Maßnahmen ausgesprochen, mit denen die Mitgliedstaaten zugunsten einer europäisch konvergenten Entwicklung ihrer einzelstaatlichen Sozialpolitik unterstützt werden sollen. Die Erwartungen der deutschen ebenso wie der europäischen Wohlfahrtsverbände, die Notwendigkeit der Zusammenarbeit auch in Form eines eigenen Vertragsartikels bestätigt zu sehen, und zwar über die Maastricht I - Erklärung Nr. 23 hinaus, haben sich nicht erfüllt. Andererseits wird durch Vielzahl neuer Erklärungen zugunsten anderer gesellschaftlicher Bereiche der politische Wert der bereits existierenden Erklärung gesteigert. Auch die positiven Auswirkungen der Erklärung über die Freiwilligendienste auf die Arbeit der Wohlfahrtsverbände können dabei mit ins Kalkül gezogen werden. |
Pressemitteilung
Erste sozialpolitische Analysen zum Amsterdamer Vertrag.
Erschienen am:
23.06.1997
Beschreibung