Spiritualität am Arbeitsplatz braucht besonderen Schutz
Führung und Spiritualität schließen einander nicht aus. Im Gegenteil, sie können sich ergänzen und bereichern. Das ist die Botschaft einer Handreichung des Deutschen Caritasverbandes (DCV) aus dem Jahr 2015, die Führungskräfte ermutigt, spirituelle Methoden als Inspiration in ihrem alltäglichen Handeln zu nutzen.1 Die Autor(inn)en empfehlen insbesondere die "geistliche Unterscheidung" nach Ignatius von Loyola. Sie leitet dazu an, den eigenen positiven und negativen inneren Impulsen nachzuspüren, das heißt, Gedanken, Gefühle und körperliche Empfindungen zu erforschen und zu klären.
Gottes guter Geist zeigt sich, wenn sich nach einer getroffenen Entscheidung Ruhe, Klarheit und Zuversicht einstellen und den eingeschlagenen Weg bestätigen. Dieses "Hören auf den Geist" kann bei ganz existenziellen Entscheidungen, aber auch im Alltag hilfreich sein.
Einen prominenten Fürsprecher hat die Methode in Papst Franziskus. Durch seine Ansprachen und Schriften hat die "geistliche Unterscheidung" in den letzten Jahren in der Kirche eine gewisse Popularität gefunden.
Als Jesuit ist Franziskus mit dieser Methode vertraut und legt sie daher sowohl den einzelnen Gläubigen als auch den kirchlichen Gemeinschaften zur Vertiefung ihrer Gottesbeziehung ans Herz. In seinem neuen Buch "Wage zu träumen" geht er dabei noch einen Schritt weiter.2 Den bekannten Dreischritt Sehen - Urteilen - Handeln interpretiert der Papst hier neu im Sinne der geistlichen Unterscheidung. Die geistliche Unterscheidung begründet eine Wahl, die konkretes Handeln nach sich zieht. Sein neuer Dreischritt lautet daher Sehen - Wählen - Handeln. Aus der ursprünglich sozialethischen wird bei Papst Franziskus eine spirituelle Methode. Für seinen Dreischritt genügt es nicht, dass jemand das Evangelium kennt und respektiert. Es reicht auch nicht, dass er oder sie sich darüber Gedanken macht, was die Botschaft Jesu in einer konkreten Notlage oder Problemsituation bedeuten könnte. Es geht um seine/ihre ganz persönliche Glaubensbiografie, um die innersten Überzeugungen und Haltungen. Sie werden angesprochen und - bei der geistlichen Unterscheidung in Gemeinschaft - auch miteinander ausgetauscht und vertieft.3
Was bedeutet dieser Impuls für die Caritas, die den klassischen Dreischritt, der um 1920 von Joseph Cardijn speziell für Gruppenarbeit in der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ) entwickelt wurde, inzwischen in nahezu allen Feldern der sozialen Arbeit einsetzt? Für Fach- und Führungskräfte ist er zu einem unverzichtbaren Instrument zur professionellen und ethischen Urteilsbildung und Entscheidungsfindung geworden. Ist Sehen - Urteilen - Handeln jetzt überholt? Ist die geistliche Unterscheidung die Methode der Zukunft? Wie lassen sich die Impulse aus "Wage zu träumen" auf die Realität in sozialen Einrichtungen und Diensten übertragen? Geht das überhaupt?
Spiritualität hat eine persönliche Dimension
Um es kurz zu machen, es geht nur bedingt. Eine spirituelle Methode wie die geistliche Unterscheidung kann ein sozialethisches Werkzeug wie den Dreischritt weder ganz noch teilweise ersetzen. Die Caritas wäre schlecht beraten, wenn sie mit einem Austausch der Methoden die Grenzen zwischen Spiritualität und Ethik verwischen würde. Ebenso darf die Dimension der persönlichen Glaubenshaltung nicht einfach mit der fachlichen Professionalität vermischt werden. Mit Sehen - Wählen - Handeln lässt sich kein soziales Projekt strukturieren und mit der geistlichen Unterscheidung keine Teambesprechung moderieren. Das, was im privaten Rahmen spirituell gewinnbringend sein kann, lässt sich nicht unmittelbar auf die alltägliche Realität in sozialen Organisationen beziehen.
Wie der Soziologe und Theologe Michael N. Ebertz und die Pädagogin und Sozialarbeiterin Lucia Segler in ihrer Studie zum Diözesan-Caritasverband (DiCV) Würzburg gezeigt haben, ist die Zeit der Volkskirche, in der kollektive Frömmigkeit und moralische Haltung noch unzertrennlich waren, auch für die Caritas endgültig vorbei.4 Es gibt über die Grenzen von Religionen und Konfessionen hinweg eine Vielzahl von religiösen Motivationen, Gewissheiten und Praktiken, die von Mitarbeitenden in Einrichtungen und Diensten der Caritas gelebt werden. Diese verlangen zuerst und vorrangig den Respekt und das Vertrauen des Dienstgebers. Man kann diese Vielfalt nicht ohne weiteres mit einem neuen spirituellen Setting unterlaufen. Ein solches Verfahren würde den Mitarbeitenden nicht gerecht und schadete auch der geistlichen Unterscheidung, die sich seit Jahrhunderten als spiritueller Suchprozess für Glaubende bewährt hat.
"Wage zu träumen" als Impulsgeber für freie Glaubensentfaltung
Das Buch "Wage zu träumen" kann daher wertvolle Impulse für einen spirituellen Weg geben, den ein Mensch allein oder mit spiritueller Begleitung gehen möchte. Das Buch kann auch einem Kreis von Gleichgesinnten Anregungen geben und Orientierungshilfe sein. An dieser Stelle hat das Buch als Impulsgeber zweifellos seine größten Stärken. Mit der geistlichen Unterscheidung lädt Franziskus ein, in Jesus den Freund zu entdecken und aus dieser Vertrautheit mit ihm seine Botschaft zu hören, sein Verhalten gegen[1]über den Armen, Kranken und Außenseitern der Gesellschaft wahrzunehmen, seine Zuwendung zu ihnen auch emotional zu erspüren und in das eigene Leben hineinzunehmen. Und vor diesem Hintergrund können dieser und weitere Texte von Papst Franziskus durchaus als begleitende Lektüre zu der eingangs genannten Handreichung des DCV verwendet werden. Entscheidend ist dabei, dass die Beteiligten wirklich frei sind, sich je nach persönlicher Neigung und Interessenlage seine Gedanken anzueignen oder auch nicht.
Diese Freiheit, die sich unmittelbar aus der Glaubens- und Gewissensfreiheit ergibt, braucht aber im dienstlichen, das heißt von arbeitsrechtlichen Vorgaben strukturierten Kontext, einen besonderen Schutz. Wenn die geistliche Unterscheidung für Mitarbeiter(innen) in Diensten und Einrichtungen der Caritas ein attraktives Angebot sein soll, dann sind, so wie in der Fort- und Weiterbildung, geschützte Räume notwendig. Der "geschützte Lernraum" ist in der Erwachsenenbildung inzwischen ein professioneller Standard.5 Das gilt ebenso für die Beratung, die Supervision und das Coaching. Er muss auch ein Standard für den Umgang mit spirituellen Angeboten in caritativen und kirchlichen Organisationen werden. Erst dann sind sie ein echter Gewinn für die Institution.
Kriterien für spirituelle Angebote
Die geistliche Unterscheidung hat somit exemplarische Bedeutung. Anders gesagt: Spiritualität am Arbeitsplatz braucht besondere Rahmenbedingungen. Man kann diese Faktoren als Qualitätskriterien beschreiben, die grundsätzlich für alle spirituellen Angebote in sozialen Organisationen gelten:
◆ Sie sind kein Privileg der oberen Führungsebene, sondern müssen jeder Mitarbeiterin und jedem Mitarbeiter offenstehen.
◆ Sie brauchen eine verbindliche, transparente und dauerhafte Implementierung in der Organisation und dürfen umgekehrt nicht dem Zufall oder dem "guten Willen" Einzelner überlassen bleiben.
◆ Es ist die Aufgabe der Führungskräfte, die notwendigen Ressourcen bereitzustellen und verschiedene Angebote zu ermöglichen.
◆ Ausgeschlossen ist, dass Vorgesetzte spirituelle Angebote anleiten, leiten oder moderieren. Die dienstrechtliche Weisungsbefugnis definiert Nähe und Distanz zu den Mitarbeitenden und markiert zugleich ein Machtgefälle, das mit geistlicher Begleitung grundsätzlich nicht vereinbar ist. Vorgesetzte, die dies ignorieren, setzen sich und die Organisation dem Vorwurf des spirituellen Missbrauchs aus.
◆ Alle Angebote brauchen eine klare Struktur. Gleichzeitig muss die Teilnahme strikt freiwillig geregelt sein. Sie wird nicht überprüft oder bewertet. Spirituelle Angebote sind kein Instrument der Personalführung und dienen weder als Anreiz noch zur Disziplinierung.
◆ Pastorale Mitarbeiter(innen) können spirituelle Angebote nur dann anleiten, wenn sie keine Trägerverantwortung haben und auch nicht als Vorgesetzte tätig sind. Als geistliche Begleitung von Mitarbeitenden sind zum Schutz der Beteiligten bevorzugt pastoral und spirituell kompetente Personen von außen einzusetzen.
◆ Spirituelle Methoden muss man lernen und einüben. Das verbindet sie mit Angeboten der betrieblichen Fortbildung. Gleichzeitig ist sorgfältig darauf zu achten, dass beides nicht vermischt wird. Fortbildung trägt dazu bei, Glaubensfragen einzeln und in Gruppen zu reflektieren. Spirituelle Angebote hingegen sind intime Orte der persönlichen Begegnung mit Gott.
Die aktuelle Diskussion um die Neugestaltung des Arbeitsrechts hat gezeigt, dass das persönliche religiöse Profil der Mitarbeitenden nicht mit dem kirchlichen Profil der Einrichtung verwechselt werden darf.6 Die Prägung der Normen und Werte einer Organisation, das heißt die Gestaltung einer Unternehmenskultur, kann von spirituellen Angeboten flankiert und ergänzt, aber nicht durch sie ersetzt werden.
Anmerkungen
1. Deutscher Caritasverband (Hrsg.): Entscheidungsfindung und Spiritualität. Handreichung für Führungskräfte. Freiburg, 2015.
2. Papst Franziskus: Wage zu träumen. Mit Zuversicht aus der Krise. München: Kösel, 2020.
3. Vgl. dazu Kiechle, S.: In Gremien geistlich entscheiden. In: Stimmen der Zeit 145, 7/2020, S. 483-491.
4. Ebertz, M. N.; Segler, S.: Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Die Würzburg-Studie. Würzburg: Echter, 2016.
5. Vgl. dazu die Homepage der Fortbildungs-Akademie des DCV: "Verschiedene Veranstaltungsformate und ein geschützter Lernraum sind wichtige Voraussetzungen, dass Mitarbeiter(innen) und Führungskräfte ihre fachlichen, methodischen und psychosozialen Kompetenzen weiterentwickeln können." Abrufbar unter Kurzlink: https://bit.ly/3FiO2uh
6. Vgl. den Vortrag von Generalvikar Pfeffer, K.: Das notwendige Ende einer "Kultur der Angst" im kirchlichen Arbeitsrecht. Vortrag am 2. März 2020 in Eichstätt; abrufbar auf der Homepage des Bistums Essen unter Kurzlink: https://bit.ly/3D9FDrd
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