Essen (cde)
„Siiiilke!“, so rufen sie die Kinder,
wenn sie mal wieder etwas brauchen, ein Spiel, ein Einrad, den Kickerball. „Die
Chefin“, so nennt Manfred sie. Manfred Schäfer ist der Hausmeister der evangelisch-freikirchlichen
Gemeinde in Essen-Kray, und er ist so etwas wie die „Gute Seele“ des Hauses.
Offiziell ist er arbeitslos und wohnt in einem Haus der kleinen Gemeinde, die
sich über die Mieteinnahmen und über Beträge von Gläubigen finanziert. Silke
Michl, die „Chefin“, wirkt so gar nicht wie eine Vorgesetzte. Die zierliche
Sozialwissenschaftlerin ist die Leiterin des Projektes „FLIZmobil im Quartier“,
eine Initiative des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) Essen-Mitte. Der
Fachverband der Caritas im Ruhrbistum ist für seine innovativen Projekte auch
über die Grenzen Essens bekannt.
Im kleinen Pfarrsaal der Gemeinde sind
die Tische liebevoll gedeckt. Etwa 20 Menschen verschiedener Hautfarbe, jung
und alt, sitzen, reden, essen und genießen die entspannte Atmosphäre. In der
Küche wieseln vier Frauen, die sich um das Mittagessen kümmern. Praktikantin
Ella Mönig erklärt, wie das funktioniert: Die Lebensmittel sind Spenden der
Essener Tafel. Heute besteht die Spende aus Reis, Hühner- und Schweinefleisch,
Paprika und Obst. Einer aus dem Küchenteam macht sich Gedanken, was daraus
gemacht werden kann, es folgt eine kurze Beratung und los geht´s: Das
eingespielte Team fängt an zu kochen: Curryreisfleisch mit Salat.
Anne Schulz, eine Ehrenamtliche, die über die Ehrenamtsagentur an diesen Job
gekommen ist, ist jeden Donnerstag vor Ort. Die ehemalige Sekretärin einer
Krankenversicherung, heute hauptberuflich „Oma“, erklärt: „Das weiß auch meine
Familie: Donnerstag ist mein Ehrenamtstag.“ Und sie kommt gerne, weil sie sich
hier viele Küchenkenntnisse aneignet. „Vor allen Dingen lerne ich auch, zu
improvisieren“, sagt sie, „das braucht man immer“. Claudia Wyrwas und Fahmeah
Ensafi helfen ebenfalls mit. Die beiden Frauen kommen aus einem Arbeitsprojekt
des SkF Essen-Mitte und freuen sich, donnerstags hier in Kray aktiv zu sein.
Kray, ein – wie es im Behördendeutsch heißt – „Stadtteil mit besonderem
Erneuerungsbedarf“: Gekennzeichnet von Arbeitslosigkeit, vielen Menschen mit
Migrationshintergrund, Mietskasernen, wenig Grün, nicht gerade die bevorzugte
Essener Gegend. „Puppa“ lebt trotzdem gerne hier. Eigentlich heißt
sie Christa und lebt, seit sie denken
kann, in Kray. Die Mittsechzigerin leidet an Parkinson; sie ist im Viertel
bekannt und wohnt in einem Haus zusammen mit ihrem Sohn, dessen zweiter Frau
und den vier Enkelkindern. Heute hat sie ihre Enkelin Michele (10 Jahre)
mitgebracht. Das kostenlose Mittagessen isst Michele mit Appetit und freut sich
schon darauf, gleich im Garten zu spielen. Auch wenn dieser nicht gerade groß
ist, so zählt er doch zu einer der wenigen Grünflächen in Kray. „Davon gibt´s
echt zu wenige hier“, erklärt Silke Michl.
Das sehen auch Floh (11), Mille (10), Eileen (12) und Vievi (9) so: Das
Vierergespann kommt fast immer zusammen, meistens gegen 14:00 Uhr nach der
Schule. Dann spielen sie Einradfahren, Kickern und Fussball. Die vier Kids
haben die ganz normalen Schülerprobleme: „Die Joachim-Schule ist doof, zu viele
Hausaufgaben, das Beste sind sowieso die Pausen“, sagt Viviane und beschwert
sich über die türkischen Jungs in ihrer Klasse. „Das sind Stress-Maker, die
ärgern und mobben uns und glauben, sie wären was Besseres.“ Wenn sie was zu
sagen hätte, würde sie einen Abenteuerspielplatz und ein Schwimmbad bauen in
Kray.
„Was wir hier machen, ist eine Mischung aus Nachbarschafts-, Lebens- und
Erziehungshilfe“, erklärt Silke Michl. Oft sind es bis zu 35 Menschen, die
donnerstags hierher kommen - auch mit ihren Problemen und Sorgen. „Schön ist“,
so Michl, „wie hier Probleme angesprochen und gelöst werden können. Beim Umzug
einer alten Dame beispielsweise haben wir letztens ganz schnell freiwillige
Helfer gefunden. Auch Anziehsachen bringen die Besucher - unsere Gäste - schon
mal mit, für die wir immer Abnehmer haben. So ist ein kleines, nachbarschaftliches
Netzwerk entstanden. Wenn mein Kollege Stefan von der flexiblen erzieherischen
Hilfe hier ist, wird er auch häufig von besorgten Eltern angesprochen. Er hat
so manchen guten
Ratschlag für sie parat und
vermittelt, wenn nötig zu den Fachkollegen der Caritas. Viele Fragen drehen
sich um das Thema Hartz IV. Mit unserem Familientisch, kommen wir an die
Menschen heran. Sie kommen, weil das Essen lecker ist, Spielmöglichkeiten
vorhanden sind, weil hier Gemeinschaft passiert und weil es nett und stilvoll
ist. Das wissen auch die Eltern zu schätzen.“ Michl ist froh, dass die
Finanzierung für das „FLIZmobil im Quartier“ noch bis 2013 über eine Spende der
Deichmann-Stiftung gesichert ist. „Das Projekt ist gewachsen, wir haben einfach
mal irgendwo angefangen mit gesunder Ernährung und Bewegungsförderung, aber
nicht therapeutisch, sondern praxis- und erlebnisorientiert.“ Und genauso kommt
die Sache auch rüber: Nicht belehrend, sondern leicht und mit viel Spaß.
Inzwischen ist es 17:30 Uhr, die Spielgeräte werden von den Helfern ins
„FLIZmobil“ eingeräumt, einem alten VW-Bulli. Da tauchen buchstäblich auf den
letzten Drücker noch drei Mädchen auf: Michele (13), Lucy (5) und Celine (7).
„Mal sehen, ob wir noch was für Euch haben.“, sagt Silke Michl. Schnell wird
das Reisgericht warm gemacht, außerdem gibt es belegte Brote, Salat und Suppe.
Die Drei essen mit großem Appetit. Michele wirkt ein wenig traurig, nicht so
albern und ausgelassen, wie die meisten Kinder, die hierher kommen. „Es ist
auch nicht leicht, immer aufzupassen auf die beiden Halbschwestern.“, erklärt
Silke Michs einfühlend. Ansonsten sprechen die Drei nicht allzu viel, wirken
eher schüchtern. Aus der Statistik ist bekannt, dass etwa jedes vierte Kind in
NRW arm ist, aber nehmen wir das auch wahr? Kann es sein, dass die drei Mädchen
aus Scham erst so spät gekommen sind, weil sie Angst haben, vor den anderen
Kindern bloßgestellt zu werden? Silke Michl erwähnt, wie sehr sich die Kinder
darüber freuen, wenn sie hier gelegentlich auch ein paar Anziehsachen bekommen.
Realität, die die Mitarbeiterinnen vom „FLIZmobil“ häufiger wahrnehmen und die
Erkenntnis, dass für viele Familien, vor allem für die Kinder, der
FLIZmobil-Donnerstag eine echte Rettungsinsel ist.
Christoph Grätz
Infoblock:
Mit dem „FLIZmobil“ hat der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF)
Essen-Mitte bereits in den letzen Jahren einen erfolgreichen Akzent im Bereich
der Prävention und Gesundheitsförderung für Grundschulkinder in der Stadt Essen
setzen können.
Das sozialräumlich orientierte „FLIZmobil im Quartier“ mit seinem pädagogischen
Fachteam verfolgt die Absicht, (bildungs-) benachteiligte, aber auch
tendenziell von sozialer Ungerechtigkeit und Notlagen bedrohte Kinder und
Familien mit einem thematisch breit angelegten Programm der Unterstützung,
Beratung und Bildung direkt in deren Lebenswelt zu erreichen. Das Angebot ist
(sekundär-) präventiv ausgerichtet, zielt also auf die Vermeidung und/oder
Verschlimmerung entstehender Notlagen ab. Das Projekt setzt auf die Anregung
von Selbst- und Nachbarschaftshilfe. Ziel ist es, Menschen zu motivieren, zu
fördern und dabei zu begleiten, ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder positiv,
eigenverantwortlich und gesundheitsbewusst zu gestalten.
Als Projektstandorte sind drei Essener Stadtbezirke ausgewählt worden, in denen
der SkF eine hohe Präsenz hat und in eine funktionierende Netzwerkstruktur
eingebunden ist bzw. diese zum Teil aktiv mit gestaltet: „KinderTisch“ in der
Essener Innenstadt, „FamilienTisch“ in Essen-Kray und „Kochen mit der ganzen
Familie“ in Überruhr.
Pressemitteilung
Presse-Info 129 / 2011 : Das "FLIZmobil im Quartier"
Erschienen am:
08.08.2011
Beschreibung