Sozialstaat für alle
Für diese Legislatur ist die Gesetzgebung weitgehend beendet. Nachdem Kanzler Olaf Scholz angekündigt hat, die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen, stehen nur noch einige Sicherheitsfragen auf der Tagesordnung. Fast alle anderen Themen und Projekte müssen warten. Das hat Auswirkungen auf die nächste Regierung: Nach der Bundestagswahl muss die neue Regierung sozialpolitisch unverzüglich handlungsfähig sein.
Es kommen jetzt Vorhaben in die Warteschleife, an denen die Wohlfahrtsverbände in den letzten Jahren intensiv mitgearbeitet haben, Projekte, auf die wir auch in der Caritas - allen Wirrungen zum Trotz - Hoffnung gesetzt hatten. Das reicht vom Gewaltschutz- übers Pflegekompetenzstärkungsgesetz bis zur Rentenreform und zum Gemeinnützigkeitsrecht. Manches, etwa die Vereinheitlichung der Pflegeassistenzausbildung oder die Verbesserungen beim Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch, hätten wir gerne schnell so umgesetzt, wie es zuletzt im Regierungsentwurf stand. Anderes hätten wir zähneknirschend als kleinen Fortschritt begrüßt.
Jetzt kehren die bisherigen Überlegungen zurück in die Schubladen der Ministerien. Deren Mitarbeitende kennen diese Situation. Sie wissen, dass es zehn oder 20 Jahre dauern kann, bis eine Idee, die einmal viel politische Unterstützung genoss, wieder hervorgeholt wird. Der politische Zeitgeist weht aus wechselnden Richtungen.
Drängend sind jetzt die Fragen, die mit der demografischen Entwicklung und der digitalen Transformation zusammenhängen: Rente und Pflege für Babyboomer, eine mehrkanalfähige Verwaltung, bessere Voraussetzungen für eine gemeinwohlorientierte Nutzung von Daten. Familien- und Klimasozialpolitik müssen strategisch neu aufgestellt werden.
Über alle Themen hinweg muss der Koalitionsvertrag eine tragfähige Grundlage des Miteinanders schaffen. Es braucht einen klaren Kompass, an dem sich alle Ressorts orientieren: ein Sozialstaat für alle und von allen. Gefordert ist ein Mainstreaming, das Regierungsvorhaben daran misst, wie sehr sie den sozialen Zusammenhalt stärken und Teilhabechancen verbessern: Armut wirksam verhindern, statt nur zu lindern! Abwärtsspiralen müssen früh abgebremst, vernetzte Hilfen (zur Selbsthilfe) barrierearm angeboten werden.
Der deutsche Sozialstaat ist geprägt von der Überzeugung, dass soziale Infrastruktur und ein System gesetzlicher Sozialversicherungen gemeinsam erfolgreich Lebensrisiken präventiv abfedern. Einsparungen an der falschen Stelle können schnell als teure Bumerangs zurückkommen.