Die inklusive Schule kommt nicht von selbst
Inklusion ist ein politischer Begriff. Mit Hilfe der beiden Begriffe Teilhabe und Chancengleichheit lässt Inklusion sich bestimmen: Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung haben Rahmenbedingungen zu schaffen und angemessene Vorkehrungen zu treffen, damit alle Bürger(innen) eines Gemeinwesens chancengleich ihre selbstbestimmte Teilhabe verwirklichen können.
In der Entwicklung der Politik für Menschen mit psychischer Erkrankung und Menschen mit Behinderung sind mit Chancengleichheit und Teilhabe zwei Aspekte in einen allgemeinen sozialpolitischen Zusammenhang gestellt worden: die Personorientierung (Selbstbestimmung) und die gesellschaftliche Betrachtung (Normalisierung): Die sozialstaatlichen Ziele und die Mittel, die der Erreichung der Ziele dienen, orientieren sich bei allen Bürger(inne)n daran, dass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefördert und der Zugang zu allen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Möglichkeiten und Prozessen eröffnet werden. Sie gelten für alle Bürger(innen) und sind keine Besonderheiten nur für Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung.
In gleicher Weise, wie der Staat und seine ausführenden Behörden daraufhin geprüft werden können, ob sie Teilhabe fördern, können alle Institutionen – auch die des Bildungswesens – an diesen Kriterien gemessen werden.
Bildung ist auch schon vor der Epoche der Aufklärung, aber dort besonders, als eine Voraussetzung für die selbstbestimmte Teilhabe gesehen worden. In seinem berühmten Aufsatz von 1784 schrieb Immanuel Kant: „Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Die Teilhabe an allen Rechten und Pflichten, die sich aus der Idee des Gesellschaftsvertrags ergeben, wird zwar prinzipiell allen Menschen zugestanden, aber praktisch ausgeschlossen sind Menschen ohne „Vertragsfähigkeit“. Menschen mit „Mangel des Verstandes“ bleiben unmündig. Sie, die „in ihrem Vernunftgebrauch“ eingeschränkt sind, werden auch heute noch eher als Objekt der Fürsorge gesehen. Bildungsfähigkeit wurde Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen in der Bundesrepublik Deutschland erst in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts zugestanden.
Das Fürsorge-Paradigma und das schlechte Gewissen als Reaktion auf die Ideologien, mit denen einige Jahre zuvor die Euthanasie und die unmenschliche Praxis gerechtfertigt wurden, waren unter anderem der Grund für den Aufbau eines neuen Förder- und Schulsystems für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen und Funktionsstörungen. Und eben auch für die Zuerkennung einer Bildungsfähigkeit – wenn auch für einen bestimmten Teil mit dem einschränkenden Begriff der „praktischen Bildbarkeit“. Um in dieses neue Schulsystem zu kommen, brauchte es in der Regel die Zuschreibung „Behinderung“ oder „von Behinderung bedroht“. Später wurde im Bildungssystem daraus der „sonderpädagogische/heilpädagogische Förderbedarf“.
Bisher zwei Systeme: Regel- und Förderschule
Dieses neue System entstand parallel zu den Schulformen für die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen, die in Jahrgangsklassen unterrichtet werden. Sie mussten einem bestimmten Mindestmaß an intellektueller Voraussetzung entsprechen – orientiert an einem durchschnittlichen Anforderungskatalog. Dieses System für die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen nennen wir „Regelschule“.
In beiden Systemen sind Schulgesetze, Verordnungen und Behördenstrukturen gleich. Die Unterschiede beginnen jedoch schon bei der Ausbildung der Lehrkräfte: In den meisten Bundesländern hat die Ausbildung der Lehrer(innen) für Kinder und Jugendliche mit Behinderung (oder mit sonderpädagogischem Förderbedarf) zumindest teilweise eigene Inhalte und Organisationsformen. Auch die Didaktik und Methodik hat nicht nur behinderungsspezifische Ausprägungen, sondern orientiert sich in den Förderschulen viel stärker an individuellen Lernzielen: Am Ende des Schuljahres müssen in einem Teil der Förderschulen nicht alle alles gelernt haben.
Förderschulen für Kinder und Jugendliche mit Sinnes- oder Körperbehinderung ohne intellektuelle Beeinträchtigung, die zu einem vom Regelsystem vorgegebenen Abschluss führen, nennen sich zwar Förderschulen. Letztlich gehören sie aber beiden Systemen an. Einerseits werden die körperlichen Beeinträchtigungen oder Funktionsstörungen kompensiert, andererseits wird ein allgemeiner Abschluss angestrebt.
Der eigentliche Unterschied zwischen dem System Regelschule und dem System Förderschule liegt in dem Fürsorge-Paradigma der Förderschule und dem Gleichheits-Paradigma der Regelschule: Das Regelschulsystem hat zwar auch einige Fördermöglichkeiten über den normalen Unterricht hinaus. Aber es werden Leistungen erwartet, die zu einem Ziel führen, das das Bildungssystem für „normale“ Schüler(innen) vorgibt. Ab einem bestimmten (Zeit-)Punkt kennt die Regelschule „keine Gnade“. Auf der Grundlage des Gleichheits-Paradigmas muss einer Schülerin oder einem Schüler eindeutig und rechtlich abgesichert gesagt werden, dass sie oder er das öffentlich vorgegebene Ziel nicht erreicht hat.
Das Regelschulsystem hat – wenn aus Sicht der dortigen Akteure seine Unterstützungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind – dann die Möglichkeit, die Schülerin oder den Schüler an das System mit dem Fürsorge-Paradigma weiterzureichen. Die Förderschulen sind personell, räumlich, materiell und organisatorisch so ausgestattet, dass sie die Schüler(innen) ihrem sonderpädagogischen Förderbedarf entsprechend unterrichten können: durch die Individualisierung des Unterrichts, durch Hilfsmittel und durch Mitarbeiter(innen) mit besonderen Kompetenzprofilen (mit einem Set an Kenntnissen, Fertigkeiten und persönlichen Haltungen).
Das Regelschulsystem unterliegt also dem Gleichheits-Paradigma, das Förderschulsystem dem Fürsorge-Paradigma. Wir wissen – durch viele Untersuchungen belegt –, dass das Gleichheits-Paradigma des Regelschulsystems eine Fiktion ist. Schulnoten und -erfolg korrelieren sehr hoch mit dem Status der Eltern. Es finden sich aber immer noch Lehrer(innen), die behaupten, dass eben auch die Leistungsbereitschaft und die Intelligenz der Schüler(innen) mit dem Status der Eltern hoch korreliert seien und dass deshalb die Variable „Status der Eltern“ nicht als Argument dafür dienen könne, dass das Gleichheits-Paradigma der Regelschule eine Fiktion sei. Danach ist der, der das Abitur schafft, fleißiger und intelligenter, und darum ist es nur gerecht, dass er gegenüber anderen, die das nicht geschafft haben, mit seinem höheren Bildungsabschluss auch eine größere Chance auf einen besseren Berufsabschluss und einen höheren Status hat.
Inklusive Schule – System selbstbestimmter Teilhabe
Damit aus den beiden bisherigen Systemen ein gemeinsames Schulsystem wird, das den Namen „inklusive Schule“ verdient, müssen die alten Wurzeln des Regelschulsystems wieder freigelegt werden. Aus dem Fürsorge- und dem Gleichheits-Paradigma muss das neue Paradigma der selbstbestimmten Teilhabe entstehen. Es ist ein Prozess anzustreben, den Hegel „aufheben“ nennt. „Aufheben“, in mehrfachem Wortsinne gemeint, bedeutet einen Dreischritt: Die beiden bisherigen Paradigmen dürfen nicht weiter bestehen; sie sind zu verneinen. Dafür sind sie auf eine neue Ebene zu bringen, emporzuheben – um so schließlich das Wertvolle in den alten Paradigmen „aufzuheben“, zu bewahren.
Betrachtet man vorurteilslos die bildungspolitische Entwicklung der 70er und 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts mit ihren emanzipatorischen und partizipatorischen Zielsetzungen, kann man getrost behaupten, dass das Regelschulsystem alle Voraussetzungen für das Paradigma der selbstbestimmten Teilhabe mitbringt. Dem steht jedoch einerseits ein Bildungsbegriff der einseitig interpretierten Aufklärung entgegen, der allein an der intellektuellen Vernunft orientiert ist: Er dient vornehmlich dem (Verdrängungs-)Wettbewerb im Kampf um die besten Plätze in der Gesellschaft. Andererseits leidet das Regelschulsystem unter der Situation, dass es seit Jahren ein Spielball unterschiedlicher Interessen ist und von Reform zu Reform gejagt wird. In dieser Entwicklung ist zum Beispiel auch der hohe Anspruch einer kompensatorischen Erziehung innerhalb des Regelschulsystems schon lange der Praxis gewichen, als schwierig, lernunwillig, bildungsbenachteiligt usw. etikettierte Schüler(innen) dem Förderschulsystem zu überantworten mit dem Argument: Dort kann man sich viel besser um sie kümmern. Auf diese Weise können die Akteure des Regelschulsystems guten Gewissens mögliche Veränderungen abwehren.
Was hier philosophisch und für die Praktiker(innen) realitätsfern daherkommt, kann sehr wohl praktisch umgesetzt werden. Voraussetzung dafür ist jedoch:
- die Bereitschaft, die Paradigmen der beiden Systeme aufzuheben;
- Möglichkeiten zu suchen, dass inklusive Schule gelingt, und nicht zuerst nach Gründen zu suchen, warum sie unmöglich sei;
- Geduld, weil man heute mit den Veränderungen beginnen muss, um möglicherweise in zwanzig Jahren die Erfolge zu sehen.
Anfrage an die gesamte Gesellschaft
Ob es zu dieser Bereitschaft und einer tatsächlichen Einführung der inklusiven Schule kommt, ist allen Lippenbekenntnissen und positiv interpretierten Inklusionsindikatoren zum Trotz weiterhin ungewiss. Insofern haben auch die Eltern aller schulpflichtigen Kinder weiterhin das allgemeine demokratische Wahlrecht. Sie können mitentscheiden: Überlassen wir die politische Willensbildung den Expert(inn)en und den wenigen direkt betroffenen Menschen – oder wollen wir die politischen Entscheidungen in Richtung Inklusion aktiv beeinflussen.
Ob das Bildungswesen weiterhin den unausweichlichen Forderungen des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte der Menschen mit Behinderung nur scheinbar nachkommt und in Wirklichkeit geteilt bleibt in ein System mit dem Fürsorge-Paradigma und dem (fiktiven) Gleichheits-Paradigma – darauf können auch Eltern Einfluss nehmen.
Damit die Praxis erfolgreich bleibt, muss anders, wahrscheinlich auch mehr investiert werden. Das Thema wird immer häufiger öffentlich. In der Ausgabe 52/2012 der Wochenzeitung Die Zeit ist zu lesen: „In Susan Boltes Klasse sitzen 19 Schüler. Ganz hinten sitzt eine Schülerin mit nur 30-prozentiger Sehkraft […] Rechts am Fenster zwei Jungen mit ‚sonderpädagogischem Förderbedarf‘. Vor ihnen ein Schüler mit reduziertem räumlichen Vorstellungsvermögen […] Dazwischen einige Schüler, die sich langweilen. Inklusion heißt das. […] Die Starken ziehen die Schwachen mit. Theoretisch. In der Praxis bleiben die Schwachen meistens auf der Strecke, zumindest in der 3. Klasse in Neu Kaliß.“1 Weiter wird ausgeführt, dass die engagierte Lehrerin eine Zeit lang Aufgaben mit vier Schwierigkeitsgraden vorbereitet und gestellt hat. Sie habe Gruppen- und Partnerarbeit machen lassen und sich intensiv um die Schwachen gekümmert. Das ist gemeint, wenn man von zieldifferenziertem Unterricht spricht. Doch dann wird die Lehrerin zitiert: „Ich habe mich förmlich zerrissen, und das macht einen auf Dauer kaputt. Daraufhin haben auch meine Kollegen gesagt: Orientiere dich an der Masse.“2
Die Lehrerin ist also auf Anraten der Kolleg(inn)en wieder zum Gleichheits-Paradigma zurückgekehrt. So geht Inklusion wirklich nicht! Wenn den Lehrer(inne)n das neue Paradigma der selbstbestimmten Teilhabe aller Schüler(innen) kein besonderes Anliegen ist und wenn die Schulbehörde ihnen dafür nicht genügend Ressourcen zur Verfügung stellt, wird die Grundschule in Neu Kaliß – wie viele andere Schulen – nur dem Namen nach eine inklusive Schule sein.
Man kann die inklusive Schule auch von der anderen Seite her aufzäumen (vgl. S. 17ff. in neue caritas Heft 8/2013): Eine Annäherung an das Paradigma der selbstbestimmten Teilhabe gelingt in einigen ganz wenigen Förderschulen, denen die Kultusbehörde erlaubt, Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf aufzunehmen (und sie damit dem Regelschulsystem wegzunehmen). Hier entsteht allerdings eine Konkurrenz, die von Schulbehörden und Lehrer(inne)n gefürchtet wird.
Es gibt ganze Bibliotheken voll von Beispielen, wie man sich in einigen Bundesländern auf verschiedenen Wegen auch flächendeckend der inklusiven Schule nähert. Schleswig-Holstein hat ein Netz an Förderzentren aufgebaut. Man kann darüber streiten, ob Lehrer(innen), die nur zeitweise oder als „Feuerwehr“ in einer Schule tätig sind, wirklich dazu beitragen können, die Regelschule „aufzuheben“ und ihre Entwicklung zur inklusiven Schule voranzutreiben. Selbstverständlich findet man an allen Beispielen kritische und mangelhafte Entwicklungen. Den Skeptikern sind diese Defizite willkommene Argumente für den Erhalt des Gleichheits-Paradigmas des Regelschulsystems und des Fürsorge-Paradigmas des Förderschulsystems. Eine praktische Anforderung an die Akteure heißt jedoch: nicht Defizite beklagen, sondern politisch und fachlich an ihrer Beseitigung arbeiten.
Anmerkungen
1. Berbner, Bastian: Eine Nummer kleiner, bitte. In: Die Zeit, Nr. 52/2012, S. 72.
2. Ebd.
Literatur
Boban, I.; Hinz, A.: Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Entwickelt von Booth, Tony; Ainscow, Mel; übersetzt, für deutschsprachige Verhältnisse, bearbeitet und herausgegeben von Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2003.
Picht, G.: Die deutsche Bildungskatastrophe – Analyse und Dokumentation. Freiburg i. Br., 1964.
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