Vor allem die Verwahrlosung hat zugenommen
Redaktion: Sie behandeln in der Elisabeth-Straßenambulanz Menschen ohne festen Wohnsitz. Wie geht es Ihren Klientinnen und Klienten seit Beginn der Pandemie?
Maria Goetzens: Wohnungslose und obdachlose Menschen werden noch mehr ausgeschlossen und allein gelassen als es sowieso schon der Fall ist. Viele von ihnen stecken sich oder haben sich mit Corona angesteckt. Niedrigschwellige Wohnungslosenunterkünfte sind ja u. U. auch Orte mit hohem Ansteckungspotential. Wobei es wirklich gut ist, dass diese Unterkünfte weiterhin zur Verfügung stehen.
Bei anderen gesundheitlichen Problemen und Beschwerden gilt: Es hat sich alles eher verschärft. Vor allem die Verwahrlosung der Klientinnen und Klienten, alle Probleme, die mit der Hygiene zusammenhängen, wie etwa Läusebefall, haben zugenommen. Von unseren Patientinnen und Patienten waren insgesamt mehr draußen, d. h. obdachlos. "Die Szene" ist auch angespannter, aggressiver geworden, sodass wir vermehrt Knochenbrüche, Verletzungen und Wunden als Folge von Auseinandersetzungen und Schlägereien sehen.
Maria Goetzens leitet die Straßenambulanz für wohnungslose Menschen in Frankfurt.Sophie Schueler
Wohnungslose Menschen werden in der Elisabeth-Straßenambulanz medizinisch behandelt
Redaktion: Was ist mit psychiatrischen Problemen?
Goetzens: Auch die psychischen Probleme haben sich bei vielen wohnungslosen Menschen verschärft. Das merken wir unter anderem daran, dass die zwei psychiatrischen Sprechstunden, die wir in der Woche anbieten, immer sehr voll sind. Es gibt viele obdachlose Menschen, die so krank und darum nicht in der Lage sind, in eine Unterkunft zu gehen oder andere Angebote anzunehmen. Hier gelingt es nur mit mühsamer und aufwendiger Beziehungsarbeit, etwas zu verbessern.
Auswirkung der Pandemie auf obdachlose Menschen
Redaktion: Welche Auswirkung hatte die Pandemie auf die Arbeit der Straßenambulanz?
Goetzens: Wir lassen die Menschen nur noch einzeln nacheinander und mit Maske rein. Am Anfang der Pandemie konnten das viele nicht so gut, draußen warten, bis sie dran waren. Inzwischen ist es besser, die Hygieneregeln sind zur Routine geworden. Durch diese Art des Einlasses und der Regulierung ist für uns Mitarbeitende, Hauptamtliche wie Ehrenamtliche, der Arbeitsablauf auch ein bisschen ruhiger geworden. Wir empfangen etwa 140 Patientinnen und Patienten pro Woche.
Insgesamt muss man schon sagen: Die Arbeitsbelastung hat zugenommen. Wir leisten viel Aufklärungsarbeit rund um Corona, etwa zu den Corona-Regeln, zum Thema Impfen und allem was dazu gehört. Für wohnungslose Menschen sind die Fragen rund um Impfzertifikate und generell Nachweise für 2G oder 2G+ oft sehr kompliziert. Das alles geht zu Lasten der anderen Arbeit.
Redaktion: Was fällt hinten runter?
Goetzens: Früher sind wir zusätzlich zu den Sprechstunden, die wir anbieten, dreimal die Woche mit dem Ambulanzbus gefahren und haben Orte angefahren, von denen wir wissen, dass sich Wohnungslose und Obdachlose dort aufhalten. Diese aufsuchende Arbeit können wir aktuell in dieser Intensität nicht leisten. Wir fahren nur noch einmal die Woche raus und steuern zusätzlich nur gezielt Orte an, zu denen wir eine Problemmeldung bekommen haben.
Wohnungslose Menschen werden inzwischen an vielen Stellen mitbedacht
Redaktion: Gibt es in Politik und in Öffentlichkeit aus Ihrer Sicht genug Bewusstsein für die Nöte von Wohnungslosen in der Pandemie?
Goetzens: Es ist bemerkenswert, dass bei der Erstellung von Empfehlungen zum Umgang mit Coronavirus-Erkrankungen die Gruppe der wohnungslosen Menschen mittlerweile mitbedacht wird, wie zum Beispiel vom Robert Koch Institut (RKI).
In der allgemeinen Öffentlichkeit ist das Thema eher mehr in den Hintergrund gerückt. Unsere Spenderinnen und Spender haben ein hohes Bewusstsein für die Nöte der Wohnungslosen in der Pandemie, das hat sich besonders im ersten Coronajahr gezeigt. Hier gab es eine enorm hohe Spendenbereitschaft. Seitdem ist es wieder etwas abgeflacht. Das liegt sicherlich daran, dass die Pandemie uns allen Vieles abverlangt und die wenigsten die emotionalen Ressourcen haben, sich noch mit einem solchen Thema zu beschäftigen - bei dem es auch keine einfachen Lösungen gibt.