Die Europawahl 2019 – aus Sicht eines Menschen mit Armutserfahrung
Einführung: Eckdaten Europawahl, Spitzenkandidaten, Parteien im EU-Parlament
Die Europawahl zum europäischen Parlament findet vom 23. bis 26. Mai 2019 statt. Voraussichtlich werden 27 Staaten 705 Abgeordnete wählen. Aus Deutschland werden 96 Abgeordnete ins Parlament gewählt. Sollten die Briten eine Verzögerungsfrist ihres EU-Austritts gewährt bekommen, wird auch das Vereinigte Königreich noch einmal an den Europawahlen teilnehmen. Dann wird das Parlament vermutlich wieder 751 Abgeordnete umfassen.
Zurzeit ist die Europäische Volkspartei (EVP) die stärkste Fraktion. Da sie in den Umfragen vorne liegt, hat sie bei erneuter Anwendung des Spitzenkandidatenverfahrens, die größten Chancen den neuen EU-Kommissionspräsidenten zu stellen. Auch andere europäische Parteienfamilien, wie die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), die Europäische Grüne Partei (EGP), die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), die Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) und die Europäischen Linken werben mit eigenen Spitzenkandidaten um die Wählergunst. Der jetzige EU-Kommissionspräsident Juncker tritt nicht mehr zur Wahl an.
Rechtsruck in der EU
Bei der letzten Wahl 2014 wurde merklich ein „Rechtsruck” festgestellt und die Gefahr, dass es 2019 noch schlimmer wird, ist sehr groß. Schließlich sitzen mittlerweile rechtspopulistische Parteien in mehreren Regierungen von EU-Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel die rechtsradikale Lega in Italien, die nationalkonservative Fidesz Partei in Ungarn, die FPÖ in Österreich, die PIS in Polen. All dies sind Parteien denen ein rechtspopulistisches Verhalten nachgesagt wird. Noch sind die europaskeptischen Parteien in verschiedene Fraktionen gespalten. Sollten sie erhebliche Zuwächse erhalten und es gar eine Vereinigung in einer gemeinsamen Fraktion geben, könnte es die Arbeit des Europäischen Parlaments erheblich stören.
Politische Herausforderungen der letzten Jahre: Asyl, Brexit, und nationale Egoismen
Die Herausforderungen sind in der EU natürlich vielfältig. Eine besondere Herausforderung war die Aufnahme von mehreren hunderttausend Asylsuchenden in den Jahren 2015/2016, bei der sich die EU-Staaten nicht auf eine gemeinsame Aufnahmepolitik einigen konnten. Der Brexit ist in diesem Artikel einmal außen vor, weil das nochmal ein spezielles eigenes Thema ist. Es wird wirklich Zeit, dass die nationalen Regierungen, statt gegeneinander zu arbeiten, wieder gemeinsam Herausforderungen anpacken. Und ganz besonders sollte dabei Armutsbekämpfung, Migration, Einhaltung der Menschenrechte, Stabilität in Europa, die Erhaltung des Schengen-Raums und die wirtschaftliche und soziale Sicherheit für alle Staaten, im Fokus liegen. Denn dass ein friedliches und soziales Europa für alle gut ist, das müsste eigentlich außer Frage stehen.
Nächste EU-Kommission soll Armutsbekämpfung prioritär behandeln
Die Armutsbekämpfung muss bei der neuen EU-Kommission eine eindeutige Priorität haben. Es gibt seit einiger Zeit zwar die Europäische Säule sozialer Rechte. Das hört sich erst einmal gut an, hat aber leider das Manko, dass es wieder einmal nur unverbindliche Grundsätze sind. Für viele Angelegenheiten im wirtschaftlichen Bereich gibt es europäische Gesetze und für solche wichtigen Dinge wie „Armutsbekämpfung” nur „Vorschläge”. Das kann und darf nicht sein. Wenn also die EU auf eine Säule sozialer Rechte gestellt werden soll, dann muss diese auch von der EU und ihren Mitgliedstaaten mit konkreten Rechten und gesetzlichen Maßnahmen gestützt werden, damit sie nicht zum Papiertiger wird. Die Zivilgesellschaft und Menschen mit Armutserfahrung müssen diese Umsetzung der Säule politisch einfordern. Ihnen sollte die Möglichkeit gegeben werden, sich Gehör zu verschaffen.
Interessenvertretung von Menschen mit Armutserfahrung –nicht genug gehört und unter finanziellem Druck
Wer hinschaut, sieht die Manifestation tiefer Armut im wohlhabenden Deutschland.Christiane Stieff
Es gibt bereits einige Organisationen wie EAPN, das Europäische Armutsnetzwerk und FEANTSA, die Vereinigung der Verbände und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, um zwei der großen Player europaweit zu nennen, die sich aufgemacht haben, gegen "Armut" und für die Beendigung der „Wohnungslosigkeit” EU-weit zu kämpfen. Diese Netzwerke werden unter anderem durch EU-Gelder gefördert. Hier zeigt sich, dass die EU grundsätzlich ein Interesse daran hat, auch die Stimme der Armen zu hören. Leider ist die Antragstellung für eine solche EU-Förderung für Netzwerke armutserfahrener Menschen sehr kompliziert, denn um Förderanträge bei der EU beantragen zu können, braucht es gewisse Ressourcen, die gerade Menschen mit Armutserfahrung nicht haben.
Darum sind bestehende Netzwerke, wie das EAPN, ein wichtiger Bestandteil der selbstorganisierten Interessenvertretung sozial benachteiligter Gruppen. Leider ist seit 2015 weniger Geld für das EAPN-Netzwerk von der EU zur Verfügung gestellt worden. Die neue Kommission sollte hier wieder mehr Fördermöglichkeiten bieten. Damit mittellose Menschen ihre Anliegen an die Europäische Entscheidungsträger herantragen können, sollte es zudem weiterhin eine Finanzierung für sogenannte „European Meetings of People Experiencing Poverty” geben. Hier können Menschen mit Armutserfahrung in der EU ganz unmittelbar ihre Anliegen untereinander Austauschen und gegenüber den europäischen Entscheidungsträger_innen bekannt machen.
Mehr Beteiligung organisierter Zivilgesellschaft und direkt Betroffener bei Bewertung von NRPs von Nöten
Ein Mittel um die Armutsbekämpfung EU-weit regelmäßig auf die Agenda zu bringen, ist das Europäische Semester bei dem EU-Mitgliedstaaten nicht nur ihre Wirtschafts- und Haushaltspolitik halbjährlich aufeinander abstimmen, sondern auch ihre Fortschritte in der Armutsbekämpfung in Länderberichten untereinander austauschen. Bedauerlicherweise bezieht Deutschland die Zivilgesellschaft und armutserfahrene Menschen nicht ausreichend mit in die Erstellung des eigenen Länderberichts ein. Zum Beispiel holt die Bundesregierung die Einschätzung der Zivilgesellschaft nur sehr kurzfristig und mit äußerst knappen Einreichfristen ein. Eine tiefgehende Stellungnahme ist so kaum möglich. Die unmittelbare Einbeziehung von armutserfahrenen Menschen außerhalb organisierter Strukturen, findet gar nicht statt. Um angehört zu werden, müssten sich Betroffene in eigenen Verbänden zusammenschließen, was für Mittellose natürlich schwierig ist, weil sie dazu keine Ressourcen haben. Hier müssten seitens der deutschen Bundesregierung mehr Beteiligungsmöglichkeiten für die direkt Betroffene geschaffen werden, ohne Zwang zum Zusammenschluss in einer festen Organisation.
Die Rolle Deutschlands bei der europäischen Armutsbekämpfung
Übrigens, wenn man sich den deutschen Länderbericht, zum Europäischen Semester anschaut, hat besonders Deutschland bei „Armutsbekämpfung/ Wohnungslosigkeitsbekämpfung” nicht viel anzubieten. Denn Deutschland nutzt darin vor allem die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation als Indikator für Erfolge in der Armutsbekämpfung. Das Vorweisen von Arbeitslosenstatistiken allein ist aber noch keine Strategie zur Armutsbekämpfung. Hier sollten weitere Indikatoren, auch in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und den Betroffenen, direkt festgelegt werden Deutschland hat die Größe und eigentlich auch die Stärke bei der „Armutsbekämpfung und Bekämpfung von Wohnungslosigkeit” ein globaler Player zu sein, um auch in diesem Bereich endlich wieder Vorbildfunktion zu haben. Zu viele "Hungerlöhne" werden noch bezahlt, so dass für Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen eigene Zukunft und die Zukunft ihrer Familie oftmals unsicher sind. Minijobs und Zeitarbeit tragen in Deutschland einiges zu den schwierigen sozialen Verhältnissen bei, die dringendst gelöst werden müssen. Da muss Deutschland innerhalb Europas eine Vorreiterrolle einnehmen, auch ohne den anderen Ländern etwas aufzustülpen.
Bei der Europawahl haben wir die Zukunft EU mit in der Hand!
Der Badge ist schnell angesteckt und macht aus jeden Outfit ein europäisches Bekenntnis.Deutscher Caritasverband e.V.
Es gibt viel zu tun für ein soziales Europa. Lethargie ist der falsche Weg. Meckern genauso wenig. Die Heilsuche im Nationalstaat auch. Deshalb müssen sich die Menschen und die Zivilgesellschaft in Europa zusammentun, um jeden „Rechtsruck” einzudämmen und alles in ihrer Macht stehende tun, um für ein gemeinsames, soziales Europa zu kämpfen. Der erste Schritt dahin muss bei den Europawahlen gemacht werden. Deshalb sage ich allen: geht wählen, setzt euch für den europäischen Zusammenhalt und eine soziale EU ein. Die Europawahl ist am 26. Mai.
Dieser Text gibt nicht zwingend die Meinung des Deutschen Caritasverbands wieder.