„Die ersten Tage waren für alle eine Ausnahmesituation."
Was passiert, wenn die Werkstätten schließen müssen? Die Folgen der Schließung im März 2020 hat Christian Germing (Vorstand des Caritasverbandes Kreis Coesfeld) miterlebt. Im Interview erklärt er, warum die Situation vor allem für die beeinträchtigten Mitarbeitenden schwierig war.
Christian Germing ist Vorstand des Caritasverbandes für den Kreis Coesfeld e.V.Caritasverband Kreis Coesfeld e.V.
Herr Germing, wie gehen die Werkstatt-Beschäftigten mit der Corona-Pandemie insgesamt um?
Auch Menschen mit einer geistigen Behinderung bekommen mit, dass es sich bei der Corona-Pandemie um eine besondere Ausnahmesituation handelt. Es ist ja nicht so, als würden diese Menschen nur auf Grund ihrer Behinderung nichts von der Welt mitbekommen oder wahrnehmen. Vielmehr haben auch sie Sorgen, Ängste - wie eben alle Menschen eine Brandbreite von Emotionen. Deswegen gibt es auch unter unseren Beschäftigten verschiedene Typen: Die einen konnten sich schnell an die neue Situation gewöhnen, erlebten die Werkstattschließung vielleicht sogar als Urlaub. Die anderen taten sich schwer, weil ihre komplette Tagesstruktur wegbrach und sie auf einmal den ganzen Tag allein zuhause waren.
Welche Beeinträchtigung haben die Menschen, die in den rund 700 anerkannten Caritas-Werkstätten arbeiten?
Die Werkstätten unterstützen eine große Bandbreite von Menschen bei der Teilhabe am Arbeitsleben. In vielen Werkstätten werden Menschen mit geistigen Behinderungen beschäftigt. In Nordrhein-Westfalen aber auch Menschen, die auf Grund der schwere ihrer Behinderung den ganzen Tag auf eine Pflegefachkraft angewiesen sind. Wir haben zum Beispiel Beschäftigte, die dauerbeatmet werden oder durch schwerste Spastiken so eingeschränkt sind, dass sie nur den Kopf bewegen können.
Im Kreis Coesfeld gibt es sieben Werkstätte mit verschiedenen Produktionsschwerpunkten, wie: Elektromontage oder Schreinerei.Caritasverband Kreis Coesfeld e.V.
Eine weitere Zielgruppe sind Menschen mit psychischen Behinderungen. Ich kenne beispielsweise einen Beschäftigten, den seine psychische Erkrankung im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Hatte er vor seiner Erkrankung noch eine hohe berufliche Position, war es ihm danach nicht mehr möglich Beziehungen aufzubauen, geschweige mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten. Obwohl er durchaus intellektuell war und viele Fähigkeiten hatte, konnte er nicht mehr auf dem freien Arbeitsmarkt zurück. Genau an dieser Stelle greift die unterstützende Rolle der Caritas-Werkstätten.
"Gerade psychisch erkrankte Menschen haben große Schwierigkeiten sich eine Tagesstruktur zu schaffen"
Welche Probleme können diese Menschen im Arbeitsalltag haben?
Gerade psychisch erkrankte Menschen haben große Schwierigkeiten sich eine Tagesstruktur zu schaffen. Dazu gehört morgens aufzustehen, das Haus zu verlassen, in die Werkstatt zu fahren und dort einen ganzen Tag durchzuhalten. Diejenigen leiden unter Antriebslosigkeit. Mithilfe von vorgelagerten Angeboten, wie Tagesstätten, können manche Beschäftigte langsam trainieren eine Struktur aufzubauen. Die meisten schaffen es auch.
"Einige Beschäftigte haben aufgehört morgens zu duschen"
Das klingt auch ohne Corona schon nach einer Herausforderung. Wie ging es den Beschäftigten mit der ersten Schließung im März?
Für viele brach mit der Schließung der Werkstätten die Struktur weg. Das haben viele von uns selbst im Homeoffice erlebt. Wann stehe ich auf und schaffe ich es, pünktlich an den Schreibtisch? Vor allem wenn man keine zeitlichen Vorgaben hat. Das war auch für Menschen mit Behinderung schwierig. Wir haben Beschäftigte erlebt, wo man den Eindruck hatte die sind in den letzten Wochen im wahrsten Sinne des Wortes verwahrlost. Manche haben aufgehört morgens zu duschen. Sowas kommt, wenn niemand mehr da ist, Feedback gibt und dazu auffordert oder motiviert, etwas zu tun.
Im März wurden deutschlandweit alle Caritas-Werkstätten für Menschen mit Behinderung geschlossen. Was waren die ersten Schritte im Kreis Coesfeld?
Die ersten Tage waren für alle eine Ausnahmesituation. Wir mussten erstmal schauen, was wir jetzt eigentlich machen. Schnell wurde klar, dass wir Arbeitsangebote in den Wohneinrichtungen aufbauen. Dabei mussten wir vor Ort mit Einrichtungsleitungen viel improvisieren. Zum Beispiel mussten wir schauen, ob es vielleicht separate Räumlichkeiten vor Ort gibt, die genutzt werden können. Dort hat unser Personal dann Material und teilweise auch Maschinen vorbeigebracht. Wir hatten aber auch Mitarbeitende, die in den Werkstätten die Stellung gehalten haben, damit die Produktion aufrechterhalten werden konnte. Denn manches konnte für unsere Kunden tatsächlich nur in den Werkstätten abgewickelt werden.
Welche Lösung haben sie für Beschäftigte gefunden, die nicht in Wohngruppen leben?
Natürlich haben wir auch Beschäftigte mit Behinderung, die bei Angehörigen oder allein wohnen. Bei Personen wo wir nicht genau wussten, wie es ihnen geht, haben wir Hausbesuche gemacht. Jedoch war es personell gar nicht möglich, jeden zu besuchen. Deswegen haben wir sehr viele Telefonate geführt. Uns wurde aber schnell klar, dass wir für einige Mitarbeitende eine Notbetreuung aufbauen müssen, vor allem wenn die Angehörigen in systemrelevanten Berufen tätig waren. Diese Betreuungsform haben wir dann sukzessiv ausbaut: In den ersten Tagen waren es nur zehn Personen, im Mai dann über 100 Personen.
Wann haben sie den Betrieb in den Werkstätten wieder aufgenommen?
Wir haben ab Mai begonnen die Werkstätten schrittweise zu öffnen. Jedoch sind wir erst ab dem 21. September wieder zu einem Vollbetrieb zurückgekehrt. Ab da konnten wir wieder allen Beschäftigten täglich ein Arbeitsangebot in den Werkstätten machen. Einzelne Beschäftigte haben das Angebot aber nicht angenommen, da sie auf Grund ihres Gesundheitszustandes große Sorgen hatten; zum Beispiel gibt es Beschäftigte, die dauerbeatmet werden und sagen "das ist mir zu riskant in einer Werkstatt zu arbeiten".
Auf welche Probleme stoßen sie bei der Einhaltung der Hygiene-Maßnahmen?
Insgesamt klappt die Einhaltung der Hygienemaßnahmen sehr gut. Zum Beispiel haben wir regelmäßig Gespräche mit den Werkstatttäten, also den gewählten Vertretern der Menschen mit Behinderung, um die Regeln zu besprechen. Aber wir haben natürlich auch Personen die uns Sorgen machen. Vor allem Beschäftigte mit permanentem Bewegungsdrang achten nicht immer auf den richtigen Abstand. Bei uns arbeiten aber auch Personen die aus medizinischen Gründen keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen dürfen oder eine Muskelschwäche haben und somit viel Speichelfluss. Sowas können wir ja nicht steuern. Diese Menschen brechen ja nicht absichtlich die Regeln. Um dennoch sichere Abläufe zu garantieren haben wir ein rollierendes System eingeführt. Wir haben den Anspruch, es möglichst allen zu ermöglichen, in die Werkstatt zu kommen. Deswegen besuchen die betroffenen Beschäftigten trotzdem jede zweite Woche die Werkstatt.
"Wir befinden uns längst wieder im Krisenmodus"
Mit Abstand: Seit Oktober ist der Betrieb in den Werkstätten wieder eingeschränkt.Caritasverband für den Kreis Coesfeld e.V.
Wie ist die momentane Lage in den Werkstätten im Kreis Coesfeld?
Wir befinden uns längst wieder im Krisenmodus. Wir haben inzwischen eine Reihe von Beschäftigten, aber auch einigen Mitarbeitern, die positiv getestet sind. Inzwischen hat uns die Corona-Pandemie eingeholt. Schon Anfang Oktober haben wir wieder angefangen den Betrieb einzuschränken. Deswegen haben wir vor allem für Menschen mit schweren mehrfachen Behinderungen die besonders viel Pflege brauchen, ein rollierendes System eingeführt. Diese besuchen dann nur jede zweite Woche die Werkstatt, damit der Raum nicht zu beengt ist. In den normalen Arbeitsgruppen arbeiten wir wieder in den Werkstätten - das kriegen wir sehr gut hin. Dort sind die Arbeitsplätze so eingerichtet, dass anderthalb Meter Abstand auch immer eingehalten werden können.
Und wie sieht die finanzielle Situation aus?
Alle Werkstätten haben erhebliche finanzielle Umsatzeinbußen. Durch die Schließung der Einrichtungen gab es erhebliche Ausfälle in der Produktion, auf der anderen Seite mussten die Arbeitsentgelte der Beschäftigten ungekürzt weiterzahlt werden. Inzwischen gibt es ein Bundesprogramm, das besonders betroffene Werkstätten unterstützt. Corona hat unsere eigenen Werkstätten im Kreis Coesfeld aber in keine existenzielle Krise gebracht. Wir haben Rücklagen und konnten die Umsatzeinbußen so abfangen. Ich sehe andere Branchen, wie die Gastronomie, die es härter getroffen hat. Jedoch mache ich mir auch Sorgen, dass unsere Handlungsspielräume in den nächsten Jahren enger werden, wenn Sozialversicherungsbeiträge und Steuereinnahmen sinken. Ich glaube, dass wir im Caritasverband langfristig mit finanziellen Einbüßen rechnen müssen.
"Vieles ist gut gemeint, aber nicht immer automatisch gut gemacht"
Hatten Sie bisher genügend Unterstützung durch die Politik?
In NRW haben wir bislang insgesamt eine gute Unterstützung durch die Politik und den Landschaftsverband erhalten. Aus anderen Bundesländern erhalten wir allerdings andere Rückmeldungen. Es bleibt in jedem Fall eine Herausforderung, alle Förder-Programme aus Bundes- und Landesebene im Blick zu behalten. Zudem gibt es ständig neue oder sich veränderte Corona-Regeln. Das ist alles sehr schnelllebig. Vieles ist gut gemeint, aber nicht immer automatisch gut gemacht. Wir merken, dass vieles in Bewegung ist und sich noch verändert.
Zur Person: Christian Germing (47) ist seit zwei Jahren hauptamtlicher Vorstand des Caritasverbandes für den Kreis Coesfeld. Zudem ist der studierte Betriebswirt Vorsitzender des Ausschusses für Teilhabe am Arbeitsleben vom Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V. (CBP).
Zu den Werkstätten: In den Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten bundesweit rund 300.000 Menschen mit Behinderung oder einer psychischen Erkrankung. Davon arbeiten etwa 200.000 in den Einrichtungen des Bundesverbands Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. (CBP). Insgesamt sind 1.100 Einrichtungen und Dienste (Wohneinrichtungen, ambulante Angebote etc.) Mitglied im CBP.