Chancengerechtigkeit in der Bildung verbessern
Laut aktueller OECD-Studie bleibt in Deutschland der Anteil von geringqualifizierten jungen Erwachsenen mit 13 Prozent fast stabil. Und schaut man auf die Armutsgefährdungsquote in den Jahren von 2005 bis 2019 lag sie bei den 18- bis unter 25-Jährigen am höchsten. 2019 war gut ein Viertel dieser Altersgruppe armutsgefährdet (25,8 Prozent).
Hat die Pandemie die Situation verschärft?
Das Bildungssystem ist dazu da, Lernrückstände, die durch die Pandemie entstanden sind, nicht größer werden zu lassen und künftig abzubauen. Aber Chancengerechtigkeit in der Bildung? Das ist eher Fehlanzeige. Da driftet die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander. Corona war ein Multiplikator und Beschleuniger von Problemen, die längst davor schon da waren.
Unsere schulischen Systeme sind schwach ausgebaut. In unserer Einrichtung haben wir über digitale Medien versucht, Distanzunterricht und den Kontakt zu den Eltern und Familien aufrecht zu erhalten. Aber zum Beispiel fehlende W-LAN-Zugänge, keine ausreichende Anzahl von digitalen Geräten oder keine Glasfaserversorgung erschweren eine ausreichende Teilhabe. Auch heute ist jedes/r Kind/Jugendliche bei uns nicht mit einem Computer oder Tablet ausgestattet.
Es ist für Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern nur halb so wahrscheinlich, das Abitur zu erreichen (39 Prozent) wie für Jugendliche aus bildungsnahen Elternhäusern (81 Prozent). (Shell Jugend-Studie) Wie kann hier etwas geändert werden?
Die Lebenswirklichkeit von Familien hat sich in den letzten Jahrzehnten gravierend verändert. Das grundlegende Schulsystem der 16 Bundesländer aber kaum. Eltern können im System "Schule - Eltern" nicht mehr den notwendigen Anteil erbringen. Und das hat nicht nur etwas mit Bildungsnähe oder-ferne zu tun. Meist leisten die Eltern einen Spagat zwischen Existenzsicherung und Familie. Für benachteiligte Jugendliche ist das besonders schwierig.
„Auch die Jugendhilfe muss digitalisiert werden. Das Zeitalter, in dem wir noch mit Stiften und Blättern ausgekommen sind, ist vorbei.“ - Joachim Nunner ist Geschäftsführer im Jugendwerk Birkeneck im bayerischen Hallbergmoos.Deutscher Caritasverband e.V.
Ein Ansatz wäre, aus dem dualen Verhältnis, ein Dreiecksverhältnis aus Schule-Eltern-Kinder-und-Jugendhilfe weiter zu entwickeln und dies als Standard für alle Kinder und Jugendlichen zu konzipieren. Auch die außerschulische und außerfamiliäre Lernförderung und die aufsuchende Sozialarbeit müssen ausgeweitet und konzeptionell verzahnt werden. Eine gute Förderung muss in diesem Sinne unabhängiger von den Eltern sein.
Welche Angebote brauchen Kinder und Jugendliche, die im Asylverfahren in Deutschland sind? Wie kann hier die Kinder- und Jugendhilfe von Anfang unterstützen?
Wenn unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Jugendhilfe sind, versucht man von Anfang an, dass sie so schnell wie möglich die deutsche Sprache lernen. In der Pandemie ist das schwierig. Denn sie lernen am besten über den Kontakt mit anderen Kindern und Jugendlichen. Das wäre die einfachste und schnellste Sprachförderung: Begegnung in vielen niederschwelligen Angeboten.
Die Kinder- und Jugendhilfe hat sehr innovativ und ideenreich Hilfestellungen und Konzepte entwickelt. Unabhängig der realen Perspektiven, ob es einen Verbleib oder eine Rückkehr gibt, ist eine Investition und Zugänge in Bildung, Schule und Ausbildung das Beste, was man den jungen Menschen geben kann und was auch im Interesse Deutschlands steht. Sobald die Kinder und Jugendlichen ein notwendiges Sprachniveau erreicht haben, ist die Integration in Regelschulsystemen das A und O. Die Familien in Gemeinschaftsunterkünften haben nicht viel Außen-Kontakt, deswegen lernen die Kinder nicht schnell die Sprache. Die Hilfen zur Erziehung im ambulanten Bereich, die in den Gemeinschaftsunterkünften tätig waren, waren in den Corona-Zeiten schwierig umzusetzen.
Was ist mit der Kooperation von Jugendhilfe und Schulsystem. Was ist Ihnen wichtig?
Die Kommunikation ist hier alles. Der intensive Austausch zwischen Schule und Jugendhilfe ist sehr wichtig. Oftmals ist die Schule auch froh, dass die Kinder eine Struktur der Jugendhilfe haben. Die Eltern können das oft ohne Unterstützung nicht leisten.
Eine andere Sache ist mir aber besonders wichtig für die jungen Menschen. Im Bereich Bildung und Kinder- und Jugendhilfe werden die sinnvollen Investitionen für die Zukunft der Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft allgemein eher als Kosten verstanden. Daraus entsteht die lähmende Haltung bei knappen öffentlichen Haushalten innovative Investitionen in die jungen Menschen zu vermeiden. Das ist gesellschaftlich gesehen fatal, weil die Schäden und Folgekosten für die Gesellschaft später ein Vielfaches höher sind.
Das Soziale in unserer Gesellschaft ist grundrechtlich festgeschrieben und daher eine Staatsaufgabe. Wir alle haben deshalb die Pflicht, Leistungen im Sozialen und in der Bildung umfassend zu ermöglichen und sinnvoll weiter zu entwickeln.
Die Caritas fordert einen Digital-Pakt für die Kinder- und Jugendhilfe, damit Teilhabe und Partizipation von jungen Menschen auch in Einrichtungen und mit Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe gefördert wird. Warum ist das notwendig?
Auch die Jugendhilfe muss natürlich digitalisiert werden. Das Zeitalter, in dem wir noch mit Stiften und Blättern ausgekommen sind, ist vorbei. Die Investition in Digitalisierung ist notwendig und kein Luxus. In der Pandemie haben wir als Träger glücklicherweise einige Laptops auf Spendenbasis erhalten, aber nicht für alle Jugendlichen. Für das technische Know-How müssen wir selbst sorgen. Wenn in der Jugendhilfe die Teilhabe der Kinder und Jugendlichen möglich sein soll, muss dies finanziert bzw. investiert werden. Dafür müssen aber auch die Kommunen entsprechend finanziell ausgestattet werden. Auch hier bremst das Denken von und an Kosten und nicht die Investition in die Zukunft der jungen Menschen.
Nehmen Sie zum Beispiel geflüchtete Kinder und Jugendliche. Wenn wir in unserer Einrichtung wollen, dass sie Kontakt in ihre Heimat zu ihren Familien haben, müssen wir selbst für den WLAN-Ausbau sorgen. Geld gab es dafür nicht. Das ist in den Pflegesätzen nicht integriert. Hier fehlt die Möglichkeit innovativ finanzieren zu können. Somit sind die Einrichtungen der Jugendhilfe auf Spenden angewiesen. Von den personellen Kapazitäten mal abgesehen.
Wenn wir zum Beispiel die Nachmittagshausaufgabenzeit digital organisieren wollen, dass die Jugendlichen auf digitalem Weg lernen können, brauchen wir auch das entsprechende Know-How. Es geht aber nicht alleine um Technik, sondern auch zu schauen, wie die Kinder- und Jugendlichen mit dieser Art zu lernen zurechtkommen. Gute sozialpädagogisch betreute Lernorte mit digitaler Vernetzung sind daher angesagt.
Sie sprechen von einer außerschulischen Lernförderung. Sie könnte großzügiger durch das Bildungs- und Teilhabepaket abgedeckt werden. Was heißt das konkret?
Es ist oft so ein Defizit-Denken, wenn es heißt, es geht um das "ausreichende Lernniveau". Ich muss eher individuell auf die Kinder und Jugendlichen schauen. Was hat der junge Mensch für Ressourcen und was kann er erreichen? Dann kann er sein mögliches Lernniveau durch Zugänge und Förderung schaffen. Darauf hat jeder junge Mensch ein Grundrecht. Das soziale Gemeinwesen wie Musikschulen, Sportvereine etc. müssen wir dabei zusammenhängend und ergänzend mitdenken. Ein Kind darf zurecht auf sich stolz sein, wenn es, gemäß seiner Ressourcen, etwas erreicht. Alle Menschen sind gleich wertvoll. Dann stimmt das System.