Ein funktionierender Sozialstaat ist integraler Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Dies hat sich nach den Erfahrungen in der Pandemie deutlich gezeigt. Die sozialen Sicherungssysteme und die soziale Infrastruktur gilt es, zukunftssicher zu machen und für alle Mitbürger_innen zur Verfügung zu stellen. Nur so wird der gesellschaftliche Zusammenhalt gewährleistet – ein zentrales Anliegen der Caritas.
Nur eine Gesellschaft, die zusammenhält, wird die Herausforderungen der Zukunft meistern: den demographischen Wandel, die Digitalisierung, den Kampf gegen die Klimakatastrophe. In diesem Kontext sind aus Sicht der Caritas sechs Themenfelder in den Koalitionsverhandlungen von herausragender Bedeutung: In der Migration und Integration, der Pflege, der Palliativ- und Hospizversorgung, bei der internationalen Solidarität, beim Klimaschutz und bei digitaler und analoger Teilhabe und Daseinsvorsorge fordert die Caritas von der Politik Bewegung in Richtung soziales Engagement.
Migration und Integration – Schutzbedürftige aufnehmen
Deutschland muss sich als modernes Einwanderungsland aufstellen. In der Integrationspolitik ist die strukturelle Verquickung von Integrationspolitik und Sicherheitspolitik aufzulösen.
- Resettlement/humanitäre Aufnahme: Die sicheren und legalen Zugangswege nach Deutschland müssen erweitert werden, um die hohen Risiken der Flucht zu mindern: In einem ersten Schritt muss aus Sicht der Caritas die Zahl der Resettlementplätze für 2022 verdoppelt werden. Bis zum Ende der Legislaturperiode soll entsprechend den Empfehlungen der Kommission "Fluchtursachen" die Zahl auf 40.000 jährlich gesteigert werden. Zusätzlich sind humanitäre Aufnahmeprogramme für Menschen in Kriegs- und Krisensituationen aufzulegen, derzeit zum Beispiel für afghanische Staatsangehörige, und die Aufnahmeprogramme der Länder sind durch eine Benehmensregelung im § 23 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zu erleichtern.
- Die vom Bund geförderten Beratungsstrukturen für Migrant_innen, die Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer (MBE) und die Jugendmigrationsdienste (JMD), sind finanziell bedarfsgerecht auszustatten und die digitalen sowie Präsenz-Beratungsformate zu fördern.
Pflege – Häusliche Pflege und pflegende Angehörige stärken
Pflegebedürftige Menschen wollen am liebsten zu Hause versorgt werden. Die Politik muss die Rahmenbedingungen für die häusliche Versorgung verbessern.
- Entlastungsangebote für pflegende Angehörige müssen erweitert und flexibilisiert werden. Dazu gilt es, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege und die Unterstützungsangebote im Alltag zu einem jährlichen Entlastungsbudget zusammenfassen, das individuell bedarfsgerecht und flexibel eingesetzt werden kann.
- Für die sogenannten "Live-In"-Kräfte, die etwa 700.000 in ihrem Haushalt lebende pflegebedürftige Menschen im Alltag unterstützen, muss die Politik sicherstellen, dass ihre Arbeits- und Entlohnungsbedingungen die gesetzlichen Vorgaben einhalten und fair ausgestaltet sind. Die Pflegehaushalte, die "Live-Ins" beschäftigen, sollen durch Umwidmung von bis zu 40 Prozent der nicht in Anspruch genommenen Mittel der Pflegesachleistung unterstützt werden. Voraussetzung für diese finanzielle Förderung ist, dass die Beschäftigung klaren Qualitätsanforderungen genügt. Die "Live-Ins" sind im Rahmen eines zertifizierten Verfahrens in die Familien zu vermitteln, ihre Leistungserbringung ist als Teil eines unterstützenden Pflegemix zu gestalten.
Hospiz- und Palliativversorgung fördern, Suizidpräventionsgesetz schaffen
Die Diskussion über die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils zur Sterbehilfe hat gezeigt, dass die hospizliche und palliative Versorgung trotz aller Verbesserungen der letzten Jahre immer noch Lücken aufweist. Diese muss die Politik schließen.
- Die Caritas fordert, die hospizliche und palliative Versorgung der vielen Menschen, deren letzter Lebensort die stationäre Pflegeeinrichtung ist, durch mehr Zeit für Begleitung am Lebensende zu verbessern.
- Es muss ein umfassendes Suizidpräventionsgesetz geschaffen werden. Angebote wie die (U 25)-Suizidberatung sind verlässlich auf Dauer zu finanzieren.
Internationale Solidarität stärken – ein soziales Europa sichern
Fast alle großen Menschheitsfragen lassen sich nur in einer internationalen Staatengemeinschaft mit verbindlichen Vereinbarungen lösen. In der Flüchtlingspolitik braucht es zumindest konzertierte europäische Anstrengungen, zum Beispiel für eine humane Aufnahmepolitik an den europäischen Außengrenzen, für die sich die neue Bundesregierung stark machen muss.
- Die Politik soll sich für einen rechtsverbindlichen EU-Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme in Form einer EU-Richtlinie einsetzen, der nationale Traditionen respektiert und die europäischen Bestrebungen nach einer EU-Richtlinie für angemessene Mindestlöhne ergänzt.
- Die "Kindergarantie" der EU zur Sicherung guter Teilhabechancen für Kinder aus einkommensarmen Familien ist zu unterstützen. Die Caritas fordert, einen ambitionierten nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der EU-Kindergarantie in Deutschland aufzustellen. In den Fokus zu nehmen sind der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme, die Sicherstellung sozialer Infrastruktur, die intensive Begleitung von Kindern und Jugendlichen zurück in ihren Kita- und Schulalltag und die psycho-soziale Unterstützung bei der Bewältigung der Folgen der Pandemie.
Klimaschutz voranbringen und sozial gerecht gestalten
Der Klimaschutz gehört zu den großen Herausforderungen dieser Legislaturperiode. Ökologie und Soziales müssen zusammen gedacht, Menschen mit geringem Einkommen mitgenommen werden. Auch innerhalb der Freien Wohlfahrtspflege ist die Klimawende zu gestalten.
- Vorhaben, die sich um die kostenlose Energieberatung für einkommensschwache Haushalte kümmern (Stromsparcheck), muss der Bund nachhaltig fördern.
- Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrtspflege müssen dabei unterstützt werden, ihre Gebäude klimaneutral und barrierefrei umzubauen und die Arbeit klimafreundlich zu gestalten. Dafür werden Förderprogramme zum klimaneutralen Umbau von Gebäuden und zur klimafreundlichen Umstellung der Mobilität aufgestellt. Klimaneutralität soll als Bestandteil der wirtschaftlichen Betriebsführung in allen Sozialgesetzbüchern verankert und refinanziert werden.
Teilhabe sichern und Daseinsvorsorge gewährleisten – in der digitalen Transformation
Für den sozialen Zusammenhalt sind Teilhabe und der Zugang zu existenzieller Infrastruktur die Voraussetzung. Gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung darf kein Mensch diskriminiert oder ausgeschlossen werden.
- Die besonders drastischen Sanktionen für Jugendliche im Hartz-IV-Bezug führen dazu, dass sie im Hilfeprozess "verlorengehen" und den Kontakt zu Institutionen des Sozialstaats vollständig abbrechen. Die Caritas fordert, diese Sondersanktionen für Jugendliche abzuschaffen.
- Der Digitalisierungsschub der Pandemie kann für soziale Innovationen im Bereich der sozialen Infrastruktur genutzt werden. Digitale Teilhabechancen müssen für alle gewährleistet sein. Für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und Zugänge sind die digitale Ausstattung, die digitale (Weiter-)Bildung und digitalen Innovationen der wohlfahrtsverbandlichen Angebote finanziell so auszustatten, dass ihre subsidiäre Leistungserbringung in der digitalen Transformation uneingeschränkt gesichert ist.
- Die Evaluation der Corona-Schutzschirme hat die Bedeutung regulatorischer Maßnahmen bestätigt, die - wie das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SoDEG) - die Arbeit der sozialen Dienstleister unter Bedingungen pandemischer Lagen sicherstellen. Es gilt, angemessene Regelungen zur Absicherung der sozialen Infrastruktur in den Sozialgesetzbüchern zu normieren, damit für zukünftige pandemische Situationen Sicherungsmechanismen vorhanden sind, die sofort greifen können.